Reutlingen. Nicht erst seit Thilo Sarrazin sind Bibliotheken in ihrem Bestandsaufbau mit Medien konfrontiert, die sich an den »Rändern« bewegen. Oft entzündet sich die Debatte im eigenen Team oder wird in den Fachforen ausgetragen. Die Fragen sind immer dieselben: In den Bestand aufnehmen, um den Vorwurf der »Zensur« direkt zu entkräften – zugunsten der Meinungs- und Informationsfreiheit und mit dem Bild »der mündigen Bürgerin/des mündigen Bürgers« im Kopf –, oder keinesfalls in den Bestand aufnehmen, da die Medien kaum einem Faktencheck standhalten, jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehren oder Hass und Hetze verbreiten? Und wenn man sie aufnimmt, soll man sie im Bestand verstecken und ignorieren oder besser aktiv kontextualisieren?
Bibliothekarisch lektoriert werden diese Bücher oft nicht. In der Regel erhalten sie von der Lektoratskooperation keine Kaufempfehlung und werden daher nicht besprochen. So bleibt man oft mit einem unguten Gefühl der Unsicherheit alleine. Wie also korrekt mit diesen Titeln umgehen?
Ein bibliothekarischer »Expert:innenzirkel« hat sich nun dieses Themas angenommen und auf der Website des Berufsverbands Information Bibliothek (BIB) finden sich erste Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit. Wer jetzt aber erwartet, hier die heiß ersehnten Handlungsanweisungen zu bestimmten Medien zu finden, wird vielleicht enttäuscht. Denn genau das – konkrete Anleitungen zum Vorgehen – gibt es hier nicht. Aufgabe des Zirkels ist zunächst das Sammeln von Titeln, die sich an den Rändern bewegen, die Debatten zu diesen Medien zu verfolgen, aufzulisten und die unterschiedlichen Meinungen und Rezensionen zusammenzutragen. Erste Werke sind zum Beispiel »2021 – Das andere Jahrbuch« von Gerhard Wisnewski oder die »Bitch Bibel« von Katja Krasavice.
Das Projekt befindet sich noch in der Anfangsphase und braucht die Unterstützung von Fachkolleginnen und -kollegen aus dem gesamten Bibliotheksbereich. Wer entweder Titel oder auch bestimmte Themen hat, die sich in diesem Rahmen zur Diskussion anbieten, schicke diese bitte an die Mailadresse diskussion@bib-info.de. Themenbereiche und Titel können dabei ganz unterschiedlich sein: Sachbücher aus den Gruppen Politik, Weltanschauung, Geschichte, Religion, Medizin, aber genauso Kinderbücher, Romane, in denen bestimmte Bilder oder Inhalte transportiert werden, außerdem Musik und Filme. Initiiert wurde der Expert:innenzirkel von der Lektoratskooperation aus BIB, Deutschem Bibliotheksverband (dbv) und ekz.bibliotheksservice GmbH. Unterstützung erhält er auch von der TH Köln, die das Projekt in diesem Sommersemester in die Lehre einbaut und begleitet.
Ziel des Projektes ist es, Bibliothekskolleginnen und -kollegen in ihrer Bestandsarbeit zu begleiten und zu stärken. Es geht darum, Medien an den Rändern zu erkennen und bei der bewussten Entscheidungsfindung für oder gegen eine Anschaffung zu unterstützen. Neben den einzelnen Diskussionen finden sich weiterführende Links zu Fachartikeln und Positionspapieren, die das Thema tiefer beleuchten.
Das Themengebiet bereitet dabei wenig Freude, aber wir erleben in unserem Bibliotheksalltag, dass es immer wichtiger wird, eine klare Haltung zu bestimmten Positionen zu entwickeln. Bibliotheken sind Orte der Begegnung und der Demokratie, dabei werden die gesellschaftlichen Debatten jeden Tag rauer. Nehmen wir diesen Auftrag ernst, müssen wir uns auch mutig und streitbar unserem Bestandsaufbau widmen. Dabei müssen wir eigene Entscheidungen treffen, diese aber auch stärker diskutieren und lernen, nach innen wie nach außen Position zu beziehen. Der Expert:innenzirkel freut sich über weitere mutige Mitstreiterinnen und Mitstreiter!
Beate Meinck, Leiterin der Stadtbibliothek Reutlingen;
Helmut Obst, Leiter der Bibliothek der Stiftung Pfennigparade in München