Als in den 1970er-Jahren die großen Einkaufszentren auf der grünen Wiese und dann die Malls in den Städten entstanden, waren auch bei uns vielbesuchte »Dritte Orte« geboren: Inszenierte Lebensräume, in denen man sich vorübergehend aufhält. Orte zwischen dem eigenen Zuhause (erster Ort) und der Arbeitswelt/Ausbildungsstätte (zweiter Ort). Familien, Jugendliche, Senioren treffen sich dort zum Einkauf, zur Unterhaltung, zum Essen und Trinken. Freilich war das nur eine neue Ausprägung eines solchen Orts, den es in anderen Formen schon längst gab: das Kaffeehaus, in dem Zeitung gelesen, geschrieben und getratscht wurde oder die Piazza in italienischen Städten, wo man sich abends zur Unterhaltung und zum Informationsaustausch traf oder schlicht das sommerliche Schwimmbad, die Eckkneipe und so weiter. Unsere wissenschaftlichen Bibliotheken waren in den 1970er-Jahren noch Orte der Ruhe und Horte wertvollen Wissens. Und Öffentliche Bibliotheken hatten den Charakter von »Hol- und Bring-Institutionen«, in denen man schnell Lesestoff aussuchte und wieder zurückbrachte. Die Öffnungszeiten waren kurz, oft waren sie über Mittag und selbstverständlich abends geschlossen. Mit dem Verlust des Informationsmonopols durch die Webangebote machten sich aber auch Öffentliche Bibliotheken daran, sich zu Dritten Orten zu wandeln. Sie hatten erkannt, dass die bisher zentrale Bedeutung ihres Medienangebots angesichts von vielfältigen anderen Bezugs- und Downloadmöglichkeiten schrumpfte. Die Bibliotheken müssen andere Dienstleistungen ausbauen.[1]
Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg hat den Begriff »Dritter Ort« geprägt. Stichwortartig ist das Phänomen durch folgende Eigenschaften charakterisiert, von denen die meisten auf Bibliotheken zutreffen[2]:
• Ein neutraler Ort, wo man kommen und gehen kann. Niemand spielt Gastgeber, alle fühlen sich zu Hause und wohl.
• Der Ort ist leicht zugänglich und einladend. Man
geht auch gerne allein hin.
• Er wirkt von außen einladend und hat ein niedriges (Zugangs-)Profil.
• Er ermöglicht ein informelles Zusammenkommen.
• Die Besucher finden sich regelmäßig ein.
• Die Institution wirkt ausgleichend auf Unterschiede zwischen Menschen. Keine
Mitgliedschaft, nicht exklusiv.
• Die hauptsächliche
Aktivität ist das Gespräch, die
Unterhaltung; die Atmosphäre ist spielerisch.
• Die Institution
vermittelt das Gefühl von
»home-away-from-home«, eines zweiten Zuhauses.
• Sie trägt zur lebendigen
Gemeinschaft bei und fördert das Gefühl der Zugehörigkeit.
• Die Menschen können »sich selbst sein«.
Bibliotheken als Dritter Ort
Wenn Bibliotheken im 21. Jahrhundert bestehen wollen, müssen sie neue Eigenschaften in den Vordergrund stellen; das heißt eine hohe Aufenthaltsqualität und ein breites Lern- und Bildungsangebot. Bibliotheken entwickeln sich zu Orten des Aufenthalts. Sie sind Lernorte und Informationszentren und bieten Raum fürs Arbeiten sowohl alleine wie auch für Gruppen. Denn das Lernen und das wissenschaftliche Arbeiten erfolgt zunehmend im Team. Die Bedürfnisse der Benutzerinnen und Benutzer sind unterschiedlich: »allein aber nicht einsam« wollen sie sein und wünschen sich eine »konzentrationsfördernde, ermutigende, ansteckende« Atmosphäre, in der »anregende Weite und konzentrierte Separation« zugleich möglich ist.[3] Ein breites Spektrum an bequemen Arbeitsmöglichkeiten ist dazu Voraussetzung – bis hin zu Liegen und Sofas.
Zum Lernort gehört auch der Bildungs- und Animationsort. Die Bibliothek fördert die Auseinandersetzung mit Texten, Film, Theater, Musik. Die »Idea Stores« in London[4]arbeiten zum Beispiel eng mit Bildungsinstitutionen zusammen, wie dies bei uns die Volkshochschulen sind. Sie bieten in ihren Räumen alleine oder in Kooperation Kurse und Schulungen an und verfügen über modernste technische Ausrüstungen, zum Beispiel eine Medienwerkstatt. Dies sind wichtige Voraussetzungen für das lebenslange Lernen, das die moderne Arbeitswelt fordert.
Damit ist angedeutet, dass besonders die Gemeindebibliotheken aus der Isolation heraustreten müssen, in der sie sich gerade im deutschsprachigen Raum im Gegensatz zu Skandinavien befinden: Dies betrifft in erster Linie die Kooperation mit Vereinen und Organisationen in der Gemeinde. Die Bibliothek ist der zentrale Ort für Veranstaltungen im Dorf und im Quartier. Sie kann ihre Räume aber auch für bibliotheksfremde Dienstleistungen der Kommune zur Verfügung stellen, in Tageszeiten in denen sie geschlossen ist. Und schließlich muss sie die Zusammenarbeit und den Austausch mit Bibliotheken der Region intensivieren. Dank überregionaler Beschaffung von elektronischen Medien, besonders von E-Büchern, ist dies bereits vermehrt der Fall.
Bibliotheken haben auch die Funktion von sozialen Orten. Die Zahl der Menschen, die alleine wohnen, wächst. Lag der Anteil der Einpersonenhaushalte in Deutschland 1970 noch bei 25 Prozent, so stieg er bis 2011 auf 40 Prozent. Gut 16 Millionen Menschen lebten demnach alleine.[5] In der Schweiz (acht Millionen Einwohner) rechnet man mit einem Wachstum von rund 1,2 Millionen Einpersonenhaushalte im Jahr 2005 auf 1,6 Millionen bis 2030.[6] In den Städten sind die Werte besonders hoch. Die Bibliothek ist der ideale Ort für Menschen, die andere zum Austausch treffen wollen – oder schlicht eine Atmosphäre suchen, in der sie ihren Interessen nachgehen können. Nicht zuletzt gehören Bibliotheken zu den ganz wenigen kostenlosen Aufenthaltsorten ohne Konsumzwang. Ein breites Angebot an fremdsprachigen Medien und Programmen macht die Bibliothek auch zu einem Ort der sozialen Integration für Einwohner mit Migrationshintergrund.
Gute technische Ausstattung
Wollen Bibliotheken auch für Jugendliche noch attraktiv sein, so müssen sie technologisch fit sein – dies gilt fürs Personal wie die Ausstattung. Gratis-W-LAN und eine ausreichende Zahl an PCs mit Internetanschluss sind eine Selbstverständlichkeit. Das Personal ist in der Lage, die Benutzerinnen und Benutzer bei ihren Recherchen und Arbeiten zu unterstützen. Für Kinder und Jugendliche bieten sie Animationsprogramme und Räumlichkeiten oder Zeitfenster, in denen sie unter sich sein können und sich wohl fühlen. Gute Beispiele für solche Abteilungen sind »Kibiz« und »U21« in der Stadtbibliothek in Winterthur (Schweiz).[7]
Natürlich bieten Bibliotheken wie bisher gedruckte Informationen an und stellen ein breites Angebot an elektronischen Medien und Informationen zur Verfügung (zum Beispiel DVDs, CDs, Games, E-Zeitschriften, E-Bücher, Datenbanken). Es ist also weiterhin Aufgabe von Bibliotheken, Informationen zu sammeln und möglichst gratis zur Verfügung zu stellen.
Wichtig ist bei alledem auch die Lage. Die Bibliothek steht nicht mehr in einer stillen Seitenstraße, sondern im prallen (Einkaufs-)Leben einer Stadt oder einer Gemeinde. Geschäfte haben erkannt, dass die Bibliothek ein interessanter Partner für sie ist – und umgekehrt. So verfügt das Bibliotheksnetz in der Stadt Zürich zum Beispiel über eine Filiale im Shoppingcenter Sihlcity, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Geschäften, Kinos, Wellnessanlagen, Restaurants und Arztpraxen.[8] Sehr große Bibliotheken integrieren sogar eine ganze Reihe von anderen Dienstleistungen: Restaurants, Cafeterias, Buchhandlungen, Bankfilialen, Ausstellungs- und Konferenzräume.[9]
Gleichzeitig will die Bibliothek gesehen werden. Vor allem große Bibliotheken bilden einen städtebaulichen Akzent, ja eine Ikone der Stadt. Wie zuvor schon die Museen sind Bibliotheksbauten zu begehrten Aufgaben renommierter Architekten geworden, zum Beispiel für Rem Koolhaas (Public Library Seattle), Mario Botta (Stadt- und Landesbibliothek Dortmund), Eun Young Y (Stadtbibliothek Stuttgart), Moshe Safdie (Vancouver Public Library, Salt Lake City Public Library).
Beispiele
Bibliotheken, die die Funktionen als Dritter Ort mit Erfolg erfüllen, sind in Holland, Skandinavien und den angelsächsischen Ländern zahlreich. Am bekanntesten ist derzeit die größte Öffentliche Bibliothek in Europa, die Openbare Bibliotheek von Amsterdam.[10] Das eindrücklichste Beispiel in den USA ist wohl die Seattle Public Library[11] und in Deutschland deckt die neue Stadtbibliothek Stuttgart[12] in hohem Maße die Ansprüche eines Dritten Orts. In der Deutschschweiz kommen dem Modell etwa die Kantonsbibliothek Baselland in Liestal und die neue Hauptstelle der GGG Stadtbibliothek Basel am nächsten.[13] Doch auch in Südeuropa finden sich interessante Beispiele, so etwa die Biblioteca San Giorgio in Pistoia oder die Biblioteca San Giovanni in Pesaro (Italien).[14] Der »Wissensturm Linz« (Österreich)[15] bietet in idealer Form die Integration von Stadtbibliothek, Volkshochschule, Medienwerkstatt, Restaurant und Dienstleistungen für die Bürger. Hier ist die Bibliothek nicht eine isolierte Kulturinstitution, sondern Teil einer großen städtischen Angebotsplattform.
Und die kleinen Bibliotheken?
Sind kleine Bibliotheken von diesen Ansprüchen nicht überfordert? Sicher kann eine Gemeinde- oder Quartierbibliothek nicht alle oben angeführten Aufgaben erfüllen. Sie wird sich auf ausgewählte Bereiche konzentrieren. Sie muss sich aber auf jeden Fall wandeln vom Ort der Ausleihe zum Ort des Verweilens, des Austausches und der Weiterbildung, ja zu einem sozialen Zentrum der Gemeinde. Das heißt auch, dass die Mitarbeiterinnen neue Kompetenzen in den Bereichen Animation und Informatik erwerben müssen.
Vor allem in Bezug auf die Räumlichkeiten ist »Kultur Lana«[16] in Südtirol ein gelungenes Beispiel: Eine Gemeinde mit knapp 12 000 Einwohnern, die sich mitten im Dorf ein eigenes Kulturzentrum für Bibliothek, Volkshochschule, Literaturverein und Bildungsausschuss leistet. Mit bescheideneren Mitteln versucht die Bibliothek Landquart und Umgebung (Schweiz) über die bibliothekarischen Angebote hinaus, Dienstleistungen für die Einwohner zu erbringen.[17] Sie ist zentral beim Bahnhof gelegen, verfügt über eine Lese-Lounge (mit wöchentlichem Lesertreffen); ein Kinderlabor vermittelt naturwissenschaftliches Wissen. Die Senioren- und die Mütter-/Väterberatung sowie Veranstaltungen von Vereinen finden in ihren Räumen statt. Die beliebten SBB-Tageskarten können über die Bibliothekswebseite reserviert und in der Bibliothek abgeholt werden. Diese Beispiele zeigen: Die Bibliothek setzt sich ins Zentrum der Gemeinschaft, sowohl durch ihre Lage wie durch ihre vielfältigen Angebote (auch in Kooperation), die sie für die Bürger zu einem attraktiven, ja unverzichtbaren Ort macht.
Robert Barth (aus BuB-Heft 07/2015)
[1.] Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung der Netzpublikation von 2013 in: biblioBE.ch↩
[2.] Oldenburg 1989; Buschmann/Leckie 2007, 137f; Martel 2012, 14↩
[3.] Sehr schön beschrieben ist dies im Werk von Fansa 2008, 32, 40↩
[4.] http://www.ideastore.co.uk/↩
[5.] http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61587/haushalte-nach-zahl-der-personen↩
[6.] http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/03/blank/key_hhsz.html↩
[7.] http://bibliotheken.winterthur.ch/stadtbibliothek/ug1-kibizu21/↩
[8.] http://sihlcity.ch/de/services/bibliothek.php↩
[9.] Siehe das Beispiel des Rolex Learning Center der École polytechnique fédérale Lausanne (wissenschaftliche Bibliothek)↩
[10.] http://www.oba.nl/pagina/22010.english.html - Ein Film dazu befindet sich hier.↩
[11.] http://www.spl.lib.wa.us/↩
[12.] http://www1.stuttgart.de/stadtbibliothek/↩
[13.] http://www.kbbl.ch/ bzw. http://www.stadtbibliothekbasel.ch/↩
[14.] http://www.sangiorgio.comune.pistoia.it/ bzw. http://www.biblioteca.comune.pesaro.pu.it/↩
[15.] http://www.linz.at/wissensturm/↩
[16.] https://kulturlana.wordpress.com/↩
[17.] http://www.bibliothek-landquart.ch/↩