»Demokratieführungen« in der Stadtbibliothek Duisburg sind ein Angebot zur Förderung der Demokratie, kulturellen Vielfalt, Presse- und Meinungsfreiheit für Flüchtlinge sowie Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund in Kooperation mit Schulen. Was hinter dem erfolgreichen Konzept steckt, erklärt Initiator Yilmaz Holtz-Ersahin im folgenden Beitrag.
Duisburg ist geprägt von Sprachen- und Kulturenvielfalt. Der Anteil der Migrantinnen und Migranten an der Gesamtbevölkerung beträgt inzwischen fast 33 Prozent (ohne die seit 2014 stark angewachsene Anzahl von Flüchtlingen). Von den knapp 490 000 Einwohnern haben etwa 150 000 Menschen einen Migrationshintergrund. Die Gruppe der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei ist in Duisburg mit einem Anteil von rund 25 Prozent am stärksten vertreten. Die größten Gruppen der in Duisburg registrierten Ausländer kamen am 31. Dezember 2016 aus der Türkei (34 682), Rumänien (8 463), Bulgarien (8 816), Syrien (7 185), Polen (5 558), Italien (3 594), Serbien (2 541), Griechenland (2 311), Bosnien-Herzegowina (1 894) und Mazedonien (1 531).[1]
Diese Angaben beziehen sich auf die statistischen Datenerhebungen hinsichtlich der Herkunftsländer und die nationale Zugehörigkeit. Dabei wird die ethnische und kulturelle Zugehörigkeit nicht differenziert betrachtet. Dies wäre aber von besonderem Interesse, da die vielfältige Identitäts- und die Milieuzugehörigkeit die kulturellen Präferenzen und somit die Nutzung der Öffentlichen Bibliotheken beeinflussen. Neben den offiziellen Daten über die Migranten-Communities sowie Flüchtlinge können Bibliotheken eigene Erhebungen durchführen, die zur Definition der Zielgruppe und damit zur Generierung der Dienstleistungen verhelfen.
Die meisten Flüchtlinge gehören den ethnischen und religiösen Minderheiten der jeweiligen Entsendeländer an, die Diskriminierung, Verfolgung und Unterdrückung von staatlichen Institutionen erlebt haben. Sie sind unter anderem geprägt durch patriarchalische Familienstrukturen und Wertevorstellungen ihrer Herkunftskultur. Die mitgebrachten Werte und Normen und das andere Verständnis vom Zusammenleben der Menschen innerhalb einer Stadtgesellschaft erschweren die Integration in das demokratische System Deutschlands, besonders wenn sich in der Aufnahmegesellschaft große Diasporas bilden.
Die Bildung der sogenannten neuen und modernen Diasporas sowie die digitale Kommunikation und Vernetzung mit der alten Heimat erschweren eine schnelle Integration und führen zu Re-Nationalisierung, Re-Ethnisierung und Re-Islamisierung. Durch den hierzulande aufkeimenden und sich verbreitenden Rechtsextremismus geraten die Flüchtlinge sowie Migranten in eine Opferrolle, die den Blick auf Tendenzen der Demokratiefeindlichkeit einiger Migranten und Flüchtlinge erst mal verhindern.[2]
Die Studie der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) Berlin zu »Demokratieverständnis und Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen« aus dem Jahr 2016 bestätigt zwar eine generell offene Haltung der Flüchtlinge gegenüber der Aufnahmegesellschaft, weist aber zugleich auf Probleme wie Antisemitismus, Homophobie und fehlende Gleichberechtigung von Frauen hin. »Doch was Flüchtlinge unter Demokratie verstehen, lässt gravierende politische Verständnisdefizite erkennen.«[3] Diese kulturelle Prägung eines anderen Demokratieverständnisses trifft konträr auf den liberalen Freiheitsbegriff der deutschen Zivilgesellschaft.
Sprachkompetenz ist und bleibt Schlüssel für den Wissenserwerb und ermöglicht die Bildungsteilhabe und Integration in Beruf und Gesellschaft. Eine ebenso wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration ist jedoch die Aufklärung über das Wertesystem und die Vorzüge unserer freiheitlichen Gesellschaft.
Durch den uneingeschränkten und freien Zugang zu Information ist die Stadtbibliothek ein wichtiger Akteur im Prozess der kulturellen Integration verschiedenster Bevölkerungsgruppen und ein starker Partner der Integrationspläne der Stadt. Neben dem großen Bestand an fremdsprachigen Medien in mehr als 30 Sprachen bietet die Stadtbibliothek Duisburg den Flüchtlingen und neu Zugewanderten sowie MigrantInnen der zweiten und dritten Generation spezielle Führungen und Veranstaltungsformate an.
Die langjährigen Erfahrungen in der Stadtbibliothek Duisburg sowie die Rückmeldungen der Kooperationsschulen zeigen ein großes Defizit bei den Themen Presse- und Meinungsfreiheit, Umgang mit Tabuthemen und Verharmlosung von Diktaturen in den Herkunftsländern. Diese Erkenntnis stellt die interkulturelle Bibliotheksarbeit vor neue Herausforderungen und bietet zugleich die Chance, neue Veranstaltungsformate zu initiieren, die bei der soziokulturellen Integration durch die Nutzung der Bibliotheken – auch als Ort der Begegnungen – eine große Rolle spielt.
Über die Sprachvermittlung hinaus ist es daher eine der Aufgaben der Stadtbibliothek Duisburg, für eine gelungene Integration durch »Soziale Bibliotheksarbeit« den MigrantInnen die europäischen Werte der Aufklärung seit dem 17. und 18. Jahrhundert und die daraus entstandenen Errungenschaften wie »rationales Denken«, »religiöse Toleranz«, »Wertschätzung der Naturwissenschaften« sowie »allgemeine Menschenrechte« zu vermitteln. Denn als Teil unserer Gesellschaft gestalten sie nicht nur die Gegenwart sondern auch unsere Zukunft mit.
Demokratieführungen mit zwei Zielgruppen:
1) Erwachsene Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge
Für den Schutz und Erhalt der Demokratie, Menschenrechte und Aufklärung sowie die Vermittlung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Einwanderungsgesellschaft versucht die Stadtbibliothek Duisburg in Kooperation mit der Volkshochschule und den Integrationsdiensten durch die »Demokratieführungen« MigrantInnen sowie Flüchtlinge in das soziokulturelle sowie politische System der Bundesrepublik einzuführen. Durch die Demokratiekurse und spezielle Führungen lernen die TeilnehmerInnen Werte und Normen, wie sie in Deutschland vorherrschen, kennen. Anhand deutschsprachiger Bücher aus dem Bereich Geschichte und Soziologie sowie anderen Sachgebieten werden sie mit den tabuisierten Themen aus ihrer Herkunftskultur konfrontiert.
Diese Führungen dauern eineinhalb Stunden und finden in Form von Gesprächen statt. Dabei haben die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen und sich freiwillig mit vielfältigen Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, allgemeingültigen Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus auseinanderzusetzen. Hierbei fällt immer wieder auf, dass viele die bestehende kulturelle Vielfalt in ihren Herkunftsländern nicht kennen, weil die jeweilige offizielle Geschichtsschreibung dies verhindert hatte. Die Kurse führen zu Offenheit und Interesse sowie Akzeptanz von anderen Kulturen und Lebensformen. Ziel der Führungen ist das Verständnis für die Demokratie und Freiheit, die Migranten und geflohene Menschen in ihren Herkunftsländern oft vermisst haben, zu wecken. Darüber hinaus werden vertiefende Einblicke in die Landeskunde Deutschlands anhand vorhandener Bibliotheksangebote gegeben. Ein wichtiges Instrument der Führungen ist die kostenlose Broschüre der Landeszentrale für politische Bildung NRW »Demokratie für mich«[4], die in der politischen Bildungsarbeit mit Flüchtlingen eingesetzt wird. Sie macht Flüchtlinge, aber auch bereits länger in Deutschland lebende Menschen mit demokratischen Grundrechten vertraut.
2) Demokratieführungen für Schülerinnen und Schüler der Oberstufen
Ein wichtiger gesellschaftlicher Bereich, in dem Demokratie verstanden, gelebt und gelernt werden soll, ist die Schule. Aufgrund der migrationsbedingten Vielfalt in Schulen, der Einflüsse der Medien sowie ideologischer und politischer Strömungen entsteht gerade dort neuer Handlungsbedarf. Auch zahlreiche Studien im Bereich der interkulturellen Pädagogik bestätigen es schon seit längerer Zeit.[5]
Lehrerinnen und Lehrer werden im Unterricht mit Schlagwörtern wie »Pressefreiheit in Gefahr«, »Fake News«, »Alternative Fakten«, »Lügenpresse« oder »Journalist in der Türkei verhaftet« konfrontiert und müssen diese mit den Schülern thematisch aufarbeiten. Um die LehrerInnen dabei zu unterstützen und das Demokratieverständnis der SchülerInnen zu fördern, ist seit Anfang 2017 das Pilotprojekt »Demokratieführungen für die Schulen« der Stadtbibliothek und der Gesamtschule Globus am Dellplatz im Rahmen der Leistungskurse Geschichte und Sozialwissenschaften entstanden. In Absprache mit den Lehrerinnen und Lehrern werden circa sechs bis acht SchülerInnen in der Oberstufe ausgewählt, die sich auf Grundlage von Bibliotheksrecherchen in das Thema vertiefen. Sie bekommen einen Reader mit Grundinformationen (Demokratie, Pressefreiheit), den sie erarbeiten müssen. Anschließend kommen die SchülerInnen mit einem Grundlagenwissen in die Bibliothek, damit die Arbeit intensiviert werden kann. Mithilfe der ausgesuchten Medien recherchieren sie und arbeiten sich einige Wochen in das Thema ein, wobei der verantwortliche Bibliothekar immer wieder in weiterführenden Fragen miteinbezogen wird. Abschließendes Ziel der »Demokratieführungen für die Schulen« ist, eine Veranstaltung in Kooperation mit der Bibliothek zu gestalten und zu moderieren. Aufgabe der Bibliothek ist hierbei, geeignete Referenten für die geplante Veranstaltung vorzuschlagen und für das Projekt zu gewinnen.
Die erste Veranstaltung fand zum Thema »Presse und Meinungsfreiheit« statt. Schülerinnen und Schüler der Oberstufen haben sich in der Bibliothek informiert und recherchiert, ob dieses grundlegende Bürgerrecht ernsthaft in Gefahr ist und zur Podiumsdiskussion ins Schulforum eingeladen. Die SchülerInnen formulierten kritische Fragen, die sie den Referenten stellten, damit der Lernprozess hin zum demokratischen Denken in der Auseinandersetzung und Diskussion angeregt wurde.
Aufgrund der großen Resonanz ist die Stadtbibliothek bestrebt, das Projekt auch mit weiteren Schulen durchzuführen und die Bibliothek als Ort der Demokratiebildung zu verankern.
Yilmaz Holtz-Ersahin / 1.12.2017
Der Autor
Yilmaz Holtz-Ersahin: Leiter der interkulturellen Bibliotheksarbeit und Lektor für fremdsprachige Literatur und Geschichte bei der Stadtbibliothek Duisburg. Geboren am 1.1.1972 in Hinis bei Erzurum (Ost-Türkei), aufgewachsen zwischen kurdisch-armenisch-türkischer Kultur. 1991 Übersiedlung nach Deutschland und Studium der Geschichte und Kommunikations-und Medienwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Abschluss Magister Artium. Seit 2004 Lehrbeauftragter im Bachelor-Integrationsstudiengang Medien- und Kulturwissenschaft und Sprachenakademie der Heinrich-Heine-Universität. Assoziiertes Mitglied in Forschungsprojekten »Mündliche Überlieferungen«, »Fra diaspora e emigrazione«, »Musica Occidentale Orientale« bei Università degli Studi di Napoli l’Orientale. Doktorand am Institut für Journalistik an der TU Dortmund mit dem Forschungsschwerpunkt »Medien und Integration in Deutschland«. Seit 2012 Mitglied der dbv-Kommission für Interkulturelle Bibliotheksarbeit. (Foto: krischerfotografie)
[1.] Stadt Duisburg: Duisburger Quartalszahlen (PDF)↩
[2.] Vgl. Bozay, Kemal (Hrsg.) (2017): Ungleichheitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft, Springer VS, Wiesbaden↩
[3.] http://www.hmkw.de/news/artikel/studie-fluechtlinge-2016/, S. 2.↩
[4.] https://www.politische-bildung.nrw.de/wir/presse/demokratie-fuer-mich/index.html↩
[5.] Vgl. Fechler, Bernd (Hrsg.) (2000): »Erziehung nach Auschwitz« in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen. Weinheim/München↩