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Musikbibliotheken im Zeitalter des digitalen Wandels

Musikbibliotheken
Musikbibliotheken ermöglichen das Musikhören und das Notenstudium (Musiklesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek München). Fotos: Kraufmann & Kraufmann GmbH, Manu Harms, © Bayerische Staatsbibliothek, H.-R. Schulz

Die Veränderungsprozesse in der digitalen Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf Bibliotheken bleiben auch für Musikbibliotheken nicht ohne Folgen, mehr noch, sie stellen sich hier wie unter einem Brennglas gebündelt dar. Attraktive Neubauten und Neueinrichtungen der letzten Jahre wie in Stuttgart, Essen, Nürnberg, Wiesbaden oder aktuell in Detmold können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Sparte des Bibliothekswesens vor großen Herausforderungen steht. Auch hier geht die Ausleihe von physisch vorgehaltenen Medien zurück, müssen neue Konzepte entwickelt und neue Wege beschritten werden.

Digitale Angebote in Musikbibliotheken

Auch Musikbibliotheken sind längst im digitalen Zeitalter angekommen. Sie sammeln und erschließen nicht mehr nur Musikalien, Musikbücher und Tonträger, sie digitalisieren eigene Bestände und stellen ihren Kunden in digitalen Bibliotheken oder auf institutseigenen Repositorien elektronische Ressourcen und Dienstleistungen zur Verfügung. Diese sind entweder kostenfrei im Web zugänglich oder lizenziert, das heißt, der Zugriff ist nur über das Netzwerk der Bibliothek oder nach persönlicher Anmeldung möglich. Die umfangreichsten digitalisierten Musikbestände findet man in den großen wissenschaftlichen Bibliotheken. Virtuell zusammengeführt sind sie in der Virtuellen Fachbibliothek Musikwissenschaft, die im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

Wie das Gros der Bibliothekskunden wünscht der musikinteressierte Nutzer die Medien und Informationen möglichst in elektronischer Form auf PC, Tablet oder Smartphone und das zu jeder Zeit und von jedem Ort aus. Dieser Erwartung können öffentliche Bibliotheken bisher nur eingeschränkt entsprechen: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausleihe von E-Books sind nicht geklärt, die Verlage nicht verpflichtet, Lizenzen einzuräumen. Inzwischen hat immerhin die in den meisten öffentlichen Bibliotheken bereitgestellte digitale Ausleihplattform Onleihe vermehrt Musikbücher in elektronischer Version im Programm, vor allem musikpädagogische Titel, Musikerbiographien und Werkeinführungen.

»Das Argument, die teilweise schlechten Notenscans seien keine ernstzunehmenden Alternativen zu sorgfältig hergestellten kritischen Noteneditionen, scheint allenfalls noch für Berufsmusiker und Musikwissenschaftler von Bedeutung.«

Mindestens ebenso wie fehlende rechtliche Regelungen verhindert die rigide Sparpolitik der Länder und Kommunen, dem veränderten Nutzerverhalten Rechnung zu tragen. Sowohl in Musikhochschulbibliotheken als auch in öffentlichen Musikbibliotheken mangelt es an ausreichender finanzieller und technischer Ausstattung für Datenbanklizenzen und für die Einrichtung von Netzzugängen. In kommunalen Musikbibliotheken gehen die kostenpflichtigen digitalen Inhalte kaum über die Musiksegmente des bekannten Munzinger-Portals hinaus. Doch selbst den dort offerierten ortsunabhängigen Zugang zu den Naxos Music Libraries Klassik und Jazz, die per Streaming-Technologie in hoher Klangqualität mehr als 100 000 CD-Einspielungen inklusive Werkinformationen zur Verfügung stellen, können nicht alle Musikbibliotheken anbieten. Geradezu privilegiert sind die Kunden der Hamburger Bücherhallen und der Stadtbibliothek Hannover: Sie haben als erste deutsche Bibliotheksnutzer über den amerikanischen Streaming-Service Freegal Music Zugriff auf über neun Millionen Musiktitel aus allen Genres von mehr als 28 000 Labels und auf über 15 000 Musikvideos. Drei Tracks pro Woche dürfen sie sogar herunterladen. Dieses Angebot hat natürlich seinen Preis und der dürfte für die meisten Bibliotheken derzeit außerhalb des finanziell Möglichen liegen.

Auf dem Musikaliensektor hat sich mittlerweile das International Music Score Library Project, kurz IMSLP oder Petrucci Library, die weltweit größte Online-Sammlung gemeinfreier und kostenlos verfügbarer Noten, zu einer echten Konkurrenz für Musikverlage, Musikalienhandel und Musikbibliotheken ausgewachsen. Das Argument, die teilweise schlechten Notenscans seien keine ernstzunehmenden Alternativen zu sorgfältig hergestellten kritischen Noteneditionen, scheint allenfalls noch für Berufsmusiker und Musikwissenschaftler von Bedeutung. Ein kleines Indiz mag die Antwort eines Musikpädagogen sein, dessen Schüler sich eine Haydn-Sonate aus der Petrucci Library ausgedruckt hatte. Auf die Frage, warum er ihm keine kritische Notenausgabe nahegelegt habe, bemerkte er lapidar: »Ich bin froh, wenn er überhaupt noch Haydn spielt!« Die Lücken im Angebot der Petrucci Library bei zeitgenössischer und Popularmusik werden von großen kommerziellen Notendownload-Plattformen wie Notafina oder Sheetmusicplus geschlossen. Lizenzmodelle für Bibliotheken spielen hier bisher keine Rolle, was neben rechtlichen Fragen auch an dem Umstand liegen mag, dass Noten zum praktischen Musizieren aus dem Speichermedium ausgedruckt werden müssen, um sie benutzen zu können. Musizieren von Tablet-PCs hat sich bisher nicht durchgesetzt. Die Entleihung der Druckausgabe eines mehrsätzigen Werkes kann darum für den Musizierenden tatsächlich noch attraktiver sein als ein eigener billiger Ausdruck.

Musikrecherche und Fachinformation

Wissenschaftler, Studierende und Schüler brauchen Recherche- und Nachweisinstrumente, die sie verlässlich durch die Flut an verfügbaren Medien und Informationen navigieren. Eine Auswahl wichtiger Recherchehilfen stellt Susanne Hein auf dem Portal des Deutschen Musikinformationszentrums  (MIZ) vor, der zentralen Serviceeinrichtung zum Musikleben in Deutschland.[1] Zum regionalen Musikleben leisten manche Musikbibliotheken mit dem Aufbau und der Pflege kommentierter Linksammlungen oder gar Datenbanken einen eigenen Beitrag. Genannt seien hier nur die Zentral- und Landesbibliothek Berlin und die Stadtbibliotheken Stuttgart und Essen.

Das zentrale Portal für Musik und Musikwissenschaft ist die bereits erwähnte  Virtuelle Fachbibliothek Musikwissenschaft, kurz ViFaMusik, ein Projekt der Bayerischen Staatsbibliothek in Kooperation mit dem Staatlichen Institut für Musikforschung in Berlin und der Gesellschaft für Musikforschung. Gefördert wird sie seit ihrem Start im Jahr 2005 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Unter der Webadresse www.vifamusik.de kann mit nur einer einzigen Suchanfrage durch Einsatz von Suchmaschinentechnologie in einer Vielzahl von eigenen, freien und lizenzierten Datenquellen gleichzeitig recherchiert werden. Die Kataloge der großen europäischen Musikbibliotheken in Berlin, Leipzig, London, München und Wien sind ebenso eingebunden wie die Daten internationaler Quellenlexika und Musikbibliographien. Doch damit nicht genug. Mehr als 3 000 musikwissenschaftlich relevante Internetressourcen werden über eine eigene Browsing- und Suchoberfläche bereitgestellt, erschlossen nach Themen, Regionen, Epochen und Publikationstypen. Unter der Rubrik »Digitale Sammlungen« findet man digitalisierte Noten und Tonträger vieler Institutionen. Genannt seien hier nur die British Library Sounds mit mehr als 60 000 digitalisierten Aufnahmen oder die umfangreiche Mediathek der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Neu integriert ist die Petrucci Library.

»Öffentliche Musikbibliotheken haben schon immer flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert.«

Mittlerweile wird die ViFaMusik auch außerhalb Deutschlands wahrgenommen, wie Rezensionen in internationalen Fachzeitschriften belegen. Eine neue, noch größere Rolle ist ihr zugedacht im Kontext des DFG-Förderprogramms »Fachinformationsdienste für die Wissenschaft«. Diese lösen die bisher geförderten Sondersammelgebiete an wissenschaftlichen Bibliotheken ab mit dem Ziel, die Angebote und Dienstleistungen der beteiligten Institutionen künftig flexibel auf die Belange der jeweiligen Fachcommunity zuzuschneiden. So wird das »Sondersammelgebiet Musikwissenschaft«, seit 1949 an der Bayerischen Staatsbibliothek verortet, bis 2017 sukzessive zum »Fachinformationsdienst Musikwissenschaft« umgebaut. In diesem Rahmen wird die ViFaMusik durch Einbindung weiterer Datenquellen und Inhalte zu einem europäischen Musikkatalog weiterentwickelt.[2]

Ein in seiner Kundenfreundlichkeit bisher unschlagbares Rechercheinstrument hat die Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« 2012 in Leipzig vorgestellt. Der sogenannte MT-Katalog (https://katalog.hmt-leipzig.de), basierend auf der Open Source Software VuFind, bietet dem Benutzer eine klar strukturierte Suchoberfläche, unter der verschiedenste Quellen integriert sind. Recherchiert werden kann außer in Beständen der Hochschule in Inhalten lizenzierter und freier Datenbanken, nach gemeinfreien und im Web frei zugänglichen Texten sowie nach Digitalisaten aus verschiedenen Bibliotheken, ähnlich wie bei der ViFaMusik. Einmalig ist jedoch die Möglichkeit der Suche nach musikalischer Ausgabeform und musikalischer Besetzung bei der Meta-Notensuche. Das gab es bisher nur im Katalog des Verbundes der Öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB), allerdings nur bezogen auf deren Notenbestände. Der MT-Katalog fand international Beachtung und kann als zukunftsweisendes Modell für musikspezifische Discovery-Systeme gelten.

Vom Lernort zum Erlebnisort: die Zukunft der öffentlichen Musikbibliothek

Wie sehen Musikbibliotheken der Zukunft aus? Welche Aufgaben sollen und können sie noch erfüllen? Die wissenschaftlichen und institutseigenen Musikbibliotheken werden immer ihren fest umrissenen Auftrag haben, drängender stellt sich die Frage derzeit für die öffentlichen Musikbibliotheken. Als freiwillige Aufgabe der Kommunen sind sie stärker vom Willen und der Überzeugung abhängig, dass auch die Förderung musikalischer Bildung zum Aufgabenspektrum von öffentlichen Bibliotheken gehört. Wenn diese aber immer mehr nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten agieren (Stichwort: Kennzahlen!), stehen Musikbibliotheken auf schwierigem Posten. Die technische Bearbeitung und die katalogmäßige Erschließung von Musikalien und Tonträgern sind nun einmal kosten- und personalintensiver. Zudem liegt es auf der Hand, dass Ausleihzahlen von Noten niemals mit denen anderer Sachgebiete konkurrieren können, da der Nutzerkreis allein schon durch die Hürde der Notenschrift enger gefasst ist.

Öffentliche Musikbibliotheken haben schon immer flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. So berücksichtigen sie heute Zielgruppen, die früher nicht unbedingt im Fokus standen. Mit repräsentativen Sammlungen an Popular- und Weltmusik, mit Bestandsschwerpunkten für Kinder, alte Menschen oder »absolute Anfänger« setzen sie auf niederschwellige Angebote und kooperieren auf vielfältige Weise mit anderen Bildungseinrichtungen. Die Musikbibliothek der Stadtbibliothek Essen bietet zum Beispiel »Musikkoffer« für die musikalische Arbeit mit Schulklassen und Kindergruppen an, trifft Absprachen mit der Musikschule im Hinblick auf Unterrichtsmaterialien und führt in Kooperation mit Musikschule und Volkshochschule eine Schnupperkursreihe für Einsteiger durch. Andere wie in Stuttgart, Wolfsburg oder Frankfurt am Main veranstalten Mitsingkonzerte für Familien und Senioren und stellen ihre Räume dem Musikernachwuchs als Podium zur Verfügung. Musizierräume, Digitalpianos und Klangstudios mit Musik-PCs gehören zur selbstverständlichen Ausstattung.

»Eine Bibliothek ist der Ort für Information jedweder Art. Die Menschen sollen zu uns kommen, Wissen entdecken, neugierig sein dürfen, ausprobieren können.«

Allem Engagement zum Trotz verlieren öffentliche Musikbibliotheken jedoch zunehmend an Rückhalt. Die noch 1985 im »Modell der Öffentlichen Musikbibliothek« formulierte Planungsrichtlinie, nach der in jeder Stadt über 300 000 Einwohner eine Musikbibliothek der Stufe II (Mindestbestand 40 000 Medieneinheiten) und in jeder Stadt über 100 000 Einwohner eine Musikbibliothek der Stufe I (Mindestbestand 14 000 Medieneinheiten) einzurichten sei[3], ist in weitere Ferne gerückt denn je. Mit derzeit 88 öffentlichen Musikbibliotheken[4] gegenüber 929 kommunalen Musikschulen[5] in Deutschland kann von einer flächendeckenden Versorgung von Musikunterricht und Musikausübung durch Musikbibliotheken keine Rede sein. Im Gegenteil: In vielen Einrichtungen werden Bestände, die das Musizieren fördern, immer weiter zurückgefahren. Nicht mehr die Noten sind das Herzstück einer Musikbibliothek, Mediatheken mit schicken Sitzmöbeln und Hörstationen machen mehr her und versprechen (wie lange noch?) bessere Ausleihzahlen. Musikbibliothekarische Stellen werden nicht mehr oder fachfremd besetzt, der musikbibliothekarische Auskunftsservice eingeschränkt oder eingestellt.

Viel diskutiert wird derzeit das »Laboratorium Musikbibliothek« der Hamburger Bücherhallen, ein neues Konzept, das sich nicht nur die konsequente Ausrichtung des Bestandes am Kundenwunsch zum Ziel gesetzt hat, sondern darüber hinaus einen aktiven Zugang zur Musik vermittelt. Pünktlich zum 100. Geburtstag, im Februar 2016, präsentierte sich die strukturell wie räumlich umgebaute Abteilung Musik & Tanz als Erlebnisort, der den Menschen und seine Neugier in den Mittelpunkt rückt. Musik- und Tanzworkshops, PCs mit Musiksoftware, iPads zum Musizieren mit Apps, Instrumentenausleihe und vieles mehr erweitern das analoge und digitale Medienangebot um Anreize zum eigenen Tun. Eine umfangreiche Programmarbeit stellen zwei eigens eingestellte Musik- und Medienpädagogen sicher (1,5 musikbibliothekarische Stellen wurden dafür gestrichen). Den Einwand, die Musikbibliothek trete hiermit in Konkurrenz zu Musik- und Volkshochschulen, lassen die Hamburger nicht gelten. »Eine Bibliothek ist der Ort für Information jedweder Art. Die Menschen sollen zu uns kommen, Wissen entdecken, neugierig sein dürfen, ausprobieren können.«[6] Dazu gehören eben nicht nur das »Musiklesen« und das Musikhören, auch das Musikerleben, das Musikmachen. Bei aller Skepsis mancher Fachkollegen gegenüber dieser Neuausrichtung, das Denken und das Ausprobieren neuer Wege sind angesichts des veränderten Nutzer- und Ausleihverhaltens nur zu begrüßen. Das Hamburger Projekt bleibt spannend.

Gemeinsam für musikalische Bildung

Wie konnte es zu der besonders für öffentliche Musikbibliotheken dramatischen Entwicklung kommen? Mehr noch als fehlende rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen dürfte sich ein Aspekt auswirken, der Musikbibliotheken in ihrem ureigenen Auftrag tangiert: die Misere der musikalischen Bildung. Wenn der Deutsche Musikrat konstatiert, dass »in einem der reichsten Länder der Welt je nach Bundesland bis zu 80% des Musikunterrichts in der Grundschule ausfällt oder fachfremd erteilt wird«[7], kann man nur noch von Missstand sprechen. Großangelegte musikalische Bildungsprogramme mit außerschulischen Partnern wie zum Beispiel »Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen« (JeKits) in Nordrhein-Westfalen können einen durchgängigen Musikunterricht für alle Jahrgangsstufen nicht ersetzen. Der Missstand setzt sich fort in der Oberstufe der Gymnasien, wo durch Vorgaben von Mindestkursgrößen kaum noch Musikleistungskurse realisiert werden. Er setzt sich ebenso fort in den Kindergärten und Kindertagesstätten, da in der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher musikalische Frühförderung als Fach nicht mehr vorkommt. Wenn musikalische Bildung in Bildungseinrichtungen also immer weniger stattfindet, wo sollen dann künftig die Musiklehrer, die Musikerzieher, wo die Menschen herkommen, die Musizieren als Bereicherung ihres Lebens empfinden? Wo sollen die Nutzer von Musikbibliotheken herkommen und woher letztendlich auch die Musikbibliothekare?

Dabei ist das Interesse am aktiven Umgang mit Musik ungebrochen. Wie eine jüngst in der Fachzeitschrift MusikForum veröffentlichte Studie ergab, hat sich Youtube innerhalb einer Dekade zum wichtigsten Medium für das Musiklernen entwickelt.[8] Dass sich viele Teilnehmer an solchen Online-Kursen sehnlichst »richtigen« Musikunterricht in einer traditionellen Musikschule wünschen, zeigt, dass Tutorials durchaus als Appetizer fungieren, aber keinen Ersatz für lebendigen Unterricht bieten können.

»Denn welche Institutionen, wenn nicht Bibliotheken, könnten einer breiten Öffentlichkeit besser den freien Zugang zu musikbezogenen Medien und Inhalten ermöglichen und damit die Unterstützung von musikalischer Bildung und Musikpraxis gewährleisten? Es gibt keine Alternativen.«

Was ist zu tun? Eine breite gesellschaftliche Allianz für musikalische Bildung, wie es der Deutsche Musikrat 2003 in seinem ersten Berliner Appell[9] gefordert hat, scheint dringlicher denn je. Der musikbibliothekarische Berufsverband AIBM[10] engagiert sich hier seit langem als Mitglied, entsendet Vertreter in die Landesmusikräte und benennt Kontaktpersonen zu Verbänden des Musikunterrichts. In dieser Allianz sollte die AIBM aber auch selbstbewusster als bisher als unverzichtbarer Partner auftreten und darauf bestehen, in bildungspolitische Initiativen einbezogen zu werden. Beispielhaft gehen die Berliner Musikbibliotheken voran, die mittlerweile aktiv in Projekte des Landesmusikrats eingebunden sind.[11] Ein erster konkreter Ansatz auf Bundesverbandsebene war die im September 2014 während der AIBM-Jahrestagung verabschiedete sogenannte Nürnberger Erklärung des Verbandes deutscher Musikschulen und der AIBM. Darin plädieren beide Verbände nicht nur für eine stärkere Zusammenarbeit, sie fordern vor allem von den politischen Entscheidungsträgern eine ausreichende Ausstattung von Musikbibliotheken und die Integration von Informationskompetenz in die musikalische Bildung an Schulen und Musikhochschulen.[12] Weitere Schritte zur Kooperation wurden Anfang dieses Jahres in Berlin vereinbart.

Überfällig ist eine Vernetzung der AIBM mit anderen Bibliotheksverbänden. Bisher sind die spezifischen Ziele und Aufgaben von Musikbibliotheken weder in die Formulierung von Bibliotheksentwicklungsplänen noch von (Muster)Bibliotheksgesetzen noch ganz allgemein in Beschreibungen des Leistungsspektrums von Bibliotheken eingeflossen (im Unterschied etwa zu denen von Kinder-, Schul- oder Fahrbibliotheken).[13] Sie müssen in künftige Positions- und Strategiepapiere mit aufgenommen werden. Denn welche Institutionen, wenn nicht Bibliotheken, könnten einer breiten Öffentlichkeit besser den freien Zugang zu musikbezogenen Medien und Inhalten ermöglichen und damit die Unterstützung von musikalischer Bildung und Musikpraxis gewährleisten? Es gibt keine Alternativen.
 

Verena Funtenberger ist Diplom-Bibliothekarin mit musikbibliothekarischem Zusatzstudium und abgeschlossenem Studium der Instrumentalpädagogik. Nach beruflichen Stationen im Schallarchiv des SWR Stuttgart, in der Deutschen Bibliothek der Maison Heinrich Heine Paris, in den Öffentlichen Bibliotheken Düsseldorf, Aachen und Bochum sowie beim Aalto-Theater Essen leitet sie seit 1995 die Musikbibliothek der Stadtbibliothek Essen. Seit 2011 ist sie Vertreterin für den musikbibliothekarischen Berufsverband AIBM im Landesmusikrat NRW, seit September 2015 Vizepräsidentin der AIBM. – Kontakt: verena.funtenberger@stadtbibliothek.essen.de

 

[1] Susanne Hein: Musikrecherche; siehe www.miz.org/fachbeitraege.html

[2] Jürgen Diet: Stand und Perspektiven der ViFaMusik im Rahmen des neuen Fachinformationsdienstes Musikwissenschaft. In: Bibliotheksdienst 50(2016)2, Seite 188-198

[3] Modell der Öffentlichen Musikbibliothek. Berlin: DBI, 1985 (dbi-Materialien ; 44), Seite 22,  Seite 79

[4] Deutsches Musikinformationszentrum, www.miz.org/institutionen/forschung-dokumentation. Stand: Oktober 2014. Von den 88 genannten Bibliotheken entsprechen mehr als ein Viertel nicht den im »Modell der Öffentlichen Musikbibliothek« formulierten Kriterien (siehe Anm. 3).

[5] Verband deutscher Musikschulen, www.musikschulen.de. Stand: Januar 2014

[6] Heinrike Buerke und Michael Schugardt: Die Zukunft der Bibliotheken am Beispiel des Laboratoriums Musikbibliothek der Bücherhallen Hamburg. Vortrag auf der AIBM-Jahrestagung am 24. September 2015 in Stuttgart. Veröffentlicht in leicht veränderter Fassung unter dem Titel »Laboratorium Musikbibliothek. Neue Wege für die öffentliche Musikbibliothek am Beispiel der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen«. In: Bibliotheksdienst 50(2016)2, Seite 249-256

[7] Deutscher Musikrat: Musikalische Bildung in Deutschland - ein Thema in 16 Variationen (Kurzfassung des Grundsatzpapiers). Hamburg 15.02.2013

[8] Matthias Krebs: Musiklernen mit Youtube. Unrichtiger Unterricht? In: MusikForum (2015)2, Seite 28-31

[9] www.musikrat.de/musikpolitik/musikalische-bildung/1-berliner-appell

[10] Association Internationale des Bibliothèques, Archives et Centres de Documentation Musicaux (siehe Seite 167)

[11] Susanne Hein: Von musica reanimata bis zum Instrument des Jahres. Die Musikbibliothek der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und ihre Öffentlichkeitsarbeit. 4. Multiplikator Landesmusikrat. In: Bibliotheksdienst 50(2016(2), Seite 244-248

[12] Nürnberger Erklärung 2014. In: Forum Musikbibliothek (2015)1, Seite 36-37

[13] Vgl. Bibliotheksportal des Deutschen Bibliotheksverbandes, www.bibliotheksportal.de






Themen-Dossiers

Musikbibliotheken im Zeitalter des digitalen Wandels

Musikbibliotheken
Musikbibliotheken ermöglichen das Musikhören und das Notenstudium (Musiklesesaal der Bayerischen Staatsbibliothek München). Fotos: Kraufmann & Kraufmann GmbH, Manu Harms, © Bayerische Staatsbibliothek, H.-R. Schulz

Die Veränderungsprozesse in der digitalen Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf Bibliotheken bleiben auch für Musikbibliotheken nicht ohne Folgen, mehr noch, sie stellen sich hier wie unter einem Brennglas gebündelt dar. Attraktive Neubauten und Neueinrichtungen der letzten Jahre wie in Stuttgart, Essen, Nürnberg, Wiesbaden oder aktuell in Detmold können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Sparte des Bibliothekswesens vor großen Herausforderungen steht. Auch hier geht die Ausleihe von physisch vorgehaltenen Medien zurück, müssen neue Konzepte entwickelt und neue Wege beschritten werden.

Digitale Angebote in Musikbibliotheken

Auch Musikbibliotheken sind längst im digitalen Zeitalter angekommen. Sie sammeln und erschließen nicht mehr nur Musikalien, Musikbücher und Tonträger, sie digitalisieren eigene Bestände und stellen ihren Kunden in digitalen Bibliotheken oder auf institutseigenen Repositorien elektronische Ressourcen und Dienstleistungen zur Verfügung. Diese sind entweder kostenfrei im Web zugänglich oder lizenziert, das heißt, der Zugriff ist nur über das Netzwerk der Bibliothek oder nach persönlicher Anmeldung möglich. Die umfangreichsten digitalisierten Musikbestände findet man in den großen wissenschaftlichen Bibliotheken. Virtuell zusammengeführt sind sie in der Virtuellen Fachbibliothek Musikwissenschaft, die im nächsten Kapitel vorgestellt wird.

Wie das Gros der Bibliothekskunden wünscht der musikinteressierte Nutzer die Medien und Informationen möglichst in elektronischer Form auf PC, Tablet oder Smartphone und das zu jeder Zeit und von jedem Ort aus. Dieser Erwartung können öffentliche Bibliotheken bisher nur eingeschränkt entsprechen: Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausleihe von E-Books sind nicht geklärt, die Verlage nicht verpflichtet, Lizenzen einzuräumen. Inzwischen hat immerhin die in den meisten öffentlichen Bibliotheken bereitgestellte digitale Ausleihplattform Onleihe vermehrt Musikbücher in elektronischer Version im Programm, vor allem musikpädagogische Titel, Musikerbiographien und Werkeinführungen.

»Das Argument, die teilweise schlechten Notenscans seien keine ernstzunehmenden Alternativen zu sorgfältig hergestellten kritischen Noteneditionen, scheint allenfalls noch für Berufsmusiker und Musikwissenschaftler von Bedeutung.«

Mindestens ebenso wie fehlende rechtliche Regelungen verhindert die rigide Sparpolitik der Länder und Kommunen, dem veränderten Nutzerverhalten Rechnung zu tragen. Sowohl in Musikhochschulbibliotheken als auch in öffentlichen Musikbibliotheken mangelt es an ausreichender finanzieller und technischer Ausstattung für Datenbanklizenzen und für die Einrichtung von Netzzugängen. In kommunalen Musikbibliotheken gehen die kostenpflichtigen digitalen Inhalte kaum über die Musiksegmente des bekannten Munzinger-Portals hinaus. Doch selbst den dort offerierten ortsunabhängigen Zugang zu den Naxos Music Libraries Klassik und Jazz, die per Streaming-Technologie in hoher Klangqualität mehr als 100 000 CD-Einspielungen inklusive Werkinformationen zur Verfügung stellen, können nicht alle Musikbibliotheken anbieten. Geradezu privilegiert sind die Kunden der Hamburger Bücherhallen und der Stadtbibliothek Hannover: Sie haben als erste deutsche Bibliotheksnutzer über den amerikanischen Streaming-Service Freegal Music Zugriff auf über neun Millionen Musiktitel aus allen Genres von mehr als 28 000 Labels und auf über 15 000 Musikvideos. Drei Tracks pro Woche dürfen sie sogar herunterladen. Dieses Angebot hat natürlich seinen Preis und der dürfte für die meisten Bibliotheken derzeit außerhalb des finanziell Möglichen liegen.

Auf dem Musikaliensektor hat sich mittlerweile das International Music Score Library Project, kurz IMSLP oder Petrucci Library, die weltweit größte Online-Sammlung gemeinfreier und kostenlos verfügbarer Noten, zu einer echten Konkurrenz für Musikverlage, Musikalienhandel und Musikbibliotheken ausgewachsen. Das Argument, die teilweise schlechten Notenscans seien keine ernstzunehmenden Alternativen zu sorgfältig hergestellten kritischen Noteneditionen, scheint allenfalls noch für Berufsmusiker und Musikwissenschaftler von Bedeutung. Ein kleines Indiz mag die Antwort eines Musikpädagogen sein, dessen Schüler sich eine Haydn-Sonate aus der Petrucci Library ausgedruckt hatte. Auf die Frage, warum er ihm keine kritische Notenausgabe nahegelegt habe, bemerkte er lapidar: »Ich bin froh, wenn er überhaupt noch Haydn spielt!« Die Lücken im Angebot der Petrucci Library bei zeitgenössischer und Popularmusik werden von großen kommerziellen Notendownload-Plattformen wie Notafina oder Sheetmusicplus geschlossen. Lizenzmodelle für Bibliotheken spielen hier bisher keine Rolle, was neben rechtlichen Fragen auch an dem Umstand liegen mag, dass Noten zum praktischen Musizieren aus dem Speichermedium ausgedruckt werden müssen, um sie benutzen zu können. Musizieren von Tablet-PCs hat sich bisher nicht durchgesetzt. Die Entleihung der Druckausgabe eines mehrsätzigen Werkes kann darum für den Musizierenden tatsächlich noch attraktiver sein als ein eigener billiger Ausdruck.

Musikrecherche und Fachinformation

Wissenschaftler, Studierende und Schüler brauchen Recherche- und Nachweisinstrumente, die sie verlässlich durch die Flut an verfügbaren Medien und Informationen navigieren. Eine Auswahl wichtiger Recherchehilfen stellt Susanne Hein auf dem Portal des Deutschen Musikinformationszentrums  (MIZ) vor, der zentralen Serviceeinrichtung zum Musikleben in Deutschland.[1] Zum regionalen Musikleben leisten manche Musikbibliotheken mit dem Aufbau und der Pflege kommentierter Linksammlungen oder gar Datenbanken einen eigenen Beitrag. Genannt seien hier nur die Zentral- und Landesbibliothek Berlin und die Stadtbibliotheken Stuttgart und Essen.

Das zentrale Portal für Musik und Musikwissenschaft ist die bereits erwähnte  Virtuelle Fachbibliothek Musikwissenschaft, kurz ViFaMusik, ein Projekt der Bayerischen Staatsbibliothek in Kooperation mit dem Staatlichen Institut für Musikforschung in Berlin und der Gesellschaft für Musikforschung. Gefördert wird sie seit ihrem Start im Jahr 2005 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Unter der Webadresse www.vifamusik.de kann mit nur einer einzigen Suchanfrage durch Einsatz von Suchmaschinentechnologie in einer Vielzahl von eigenen, freien und lizenzierten Datenquellen gleichzeitig recherchiert werden. Die Kataloge der großen europäischen Musikbibliotheken in Berlin, Leipzig, London, München und Wien sind ebenso eingebunden wie die Daten internationaler Quellenlexika und Musikbibliographien. Doch damit nicht genug. Mehr als 3 000 musikwissenschaftlich relevante Internetressourcen werden über eine eigene Browsing- und Suchoberfläche bereitgestellt, erschlossen nach Themen, Regionen, Epochen und Publikationstypen. Unter der Rubrik »Digitale Sammlungen« findet man digitalisierte Noten und Tonträger vieler Institutionen. Genannt seien hier nur die British Library Sounds mit mehr als 60 000 digitalisierten Aufnahmen oder die umfangreiche Mediathek der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Neu integriert ist die Petrucci Library.

»Öffentliche Musikbibliotheken haben schon immer flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert.«

Mittlerweile wird die ViFaMusik auch außerhalb Deutschlands wahrgenommen, wie Rezensionen in internationalen Fachzeitschriften belegen. Eine neue, noch größere Rolle ist ihr zugedacht im Kontext des DFG-Förderprogramms »Fachinformationsdienste für die Wissenschaft«. Diese lösen die bisher geförderten Sondersammelgebiete an wissenschaftlichen Bibliotheken ab mit dem Ziel, die Angebote und Dienstleistungen der beteiligten Institutionen künftig flexibel auf die Belange der jeweiligen Fachcommunity zuzuschneiden. So wird das »Sondersammelgebiet Musikwissenschaft«, seit 1949 an der Bayerischen Staatsbibliothek verortet, bis 2017 sukzessive zum »Fachinformationsdienst Musikwissenschaft« umgebaut. In diesem Rahmen wird die ViFaMusik durch Einbindung weiterer Datenquellen und Inhalte zu einem europäischen Musikkatalog weiterentwickelt.[2]

Ein in seiner Kundenfreundlichkeit bisher unschlagbares Rechercheinstrument hat die Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« 2012 in Leipzig vorgestellt. Der sogenannte MT-Katalog (https://katalog.hmt-leipzig.de), basierend auf der Open Source Software VuFind, bietet dem Benutzer eine klar strukturierte Suchoberfläche, unter der verschiedenste Quellen integriert sind. Recherchiert werden kann außer in Beständen der Hochschule in Inhalten lizenzierter und freier Datenbanken, nach gemeinfreien und im Web frei zugänglichen Texten sowie nach Digitalisaten aus verschiedenen Bibliotheken, ähnlich wie bei der ViFaMusik. Einmalig ist jedoch die Möglichkeit der Suche nach musikalischer Ausgabeform und musikalischer Besetzung bei der Meta-Notensuche. Das gab es bisher nur im Katalog des Verbundes der Öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB), allerdings nur bezogen auf deren Notenbestände. Der MT-Katalog fand international Beachtung und kann als zukunftsweisendes Modell für musikspezifische Discovery-Systeme gelten.

Vom Lernort zum Erlebnisort: die Zukunft der öffentlichen Musikbibliothek

Wie sehen Musikbibliotheken der Zukunft aus? Welche Aufgaben sollen und können sie noch erfüllen? Die wissenschaftlichen und institutseigenen Musikbibliotheken werden immer ihren fest umrissenen Auftrag haben, drängender stellt sich die Frage derzeit für die öffentlichen Musikbibliotheken. Als freiwillige Aufgabe der Kommunen sind sie stärker vom Willen und der Überzeugung abhängig, dass auch die Förderung musikalischer Bildung zum Aufgabenspektrum von öffentlichen Bibliotheken gehört. Wenn diese aber immer mehr nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten agieren (Stichwort: Kennzahlen!), stehen Musikbibliotheken auf schwierigem Posten. Die technische Bearbeitung und die katalogmäßige Erschließung von Musikalien und Tonträgern sind nun einmal kosten- und personalintensiver. Zudem liegt es auf der Hand, dass Ausleihzahlen von Noten niemals mit denen anderer Sachgebiete konkurrieren können, da der Nutzerkreis allein schon durch die Hürde der Notenschrift enger gefasst ist.

Öffentliche Musikbibliotheken haben schon immer flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. So berücksichtigen sie heute Zielgruppen, die früher nicht unbedingt im Fokus standen. Mit repräsentativen Sammlungen an Popular- und Weltmusik, mit Bestandsschwerpunkten für Kinder, alte Menschen oder »absolute Anfänger« setzen sie auf niederschwellige Angebote und kooperieren auf vielfältige Weise mit anderen Bildungseinrichtungen. Die Musikbibliothek der Stadtbibliothek Essen bietet zum Beispiel »Musikkoffer« für die musikalische Arbeit mit Schulklassen und Kindergruppen an, trifft Absprachen mit der Musikschule im Hinblick auf Unterrichtsmaterialien und führt in Kooperation mit Musikschule und Volkshochschule eine Schnupperkursreihe für Einsteiger durch. Andere wie in Stuttgart, Wolfsburg oder Frankfurt am Main veranstalten Mitsingkonzerte für Familien und Senioren und stellen ihre Räume dem Musikernachwuchs als Podium zur Verfügung. Musizierräume, Digitalpianos und Klangstudios mit Musik-PCs gehören zur selbstverständlichen Ausstattung.

»Eine Bibliothek ist der Ort für Information jedweder Art. Die Menschen sollen zu uns kommen, Wissen entdecken, neugierig sein dürfen, ausprobieren können.«

Allem Engagement zum Trotz verlieren öffentliche Musikbibliotheken jedoch zunehmend an Rückhalt. Die noch 1985 im »Modell der Öffentlichen Musikbibliothek« formulierte Planungsrichtlinie, nach der in jeder Stadt über 300 000 Einwohner eine Musikbibliothek der Stufe II (Mindestbestand 40 000 Medieneinheiten) und in jeder Stadt über 100 000 Einwohner eine Musikbibliothek der Stufe I (Mindestbestand 14 000 Medieneinheiten) einzurichten sei[3], ist in weitere Ferne gerückt denn je. Mit derzeit 88 öffentlichen Musikbibliotheken[4] gegenüber 929 kommunalen Musikschulen[5] in Deutschland kann von einer flächendeckenden Versorgung von Musikunterricht und Musikausübung durch Musikbibliotheken keine Rede sein. Im Gegenteil: In vielen Einrichtungen werden Bestände, die das Musizieren fördern, immer weiter zurückgefahren. Nicht mehr die Noten sind das Herzstück einer Musikbibliothek, Mediatheken mit schicken Sitzmöbeln und Hörstationen machen mehr her und versprechen (wie lange noch?) bessere Ausleihzahlen. Musikbibliothekarische Stellen werden nicht mehr oder fachfremd besetzt, der musikbibliothekarische Auskunftsservice eingeschränkt oder eingestellt.

Viel diskutiert wird derzeit das »Laboratorium Musikbibliothek« der Hamburger Bücherhallen, ein neues Konzept, das sich nicht nur die konsequente Ausrichtung des Bestandes am Kundenwunsch zum Ziel gesetzt hat, sondern darüber hinaus einen aktiven Zugang zur Musik vermittelt. Pünktlich zum 100. Geburtstag, im Februar 2016, präsentierte sich die strukturell wie räumlich umgebaute Abteilung Musik & Tanz als Erlebnisort, der den Menschen und seine Neugier in den Mittelpunkt rückt. Musik- und Tanzworkshops, PCs mit Musiksoftware, iPads zum Musizieren mit Apps, Instrumentenausleihe und vieles mehr erweitern das analoge und digitale Medienangebot um Anreize zum eigenen Tun. Eine umfangreiche Programmarbeit stellen zwei eigens eingestellte Musik- und Medienpädagogen sicher (1,5 musikbibliothekarische Stellen wurden dafür gestrichen). Den Einwand, die Musikbibliothek trete hiermit in Konkurrenz zu Musik- und Volkshochschulen, lassen die Hamburger nicht gelten. »Eine Bibliothek ist der Ort für Information jedweder Art. Die Menschen sollen zu uns kommen, Wissen entdecken, neugierig sein dürfen, ausprobieren können.«[6] Dazu gehören eben nicht nur das »Musiklesen« und das Musikhören, auch das Musikerleben, das Musikmachen. Bei aller Skepsis mancher Fachkollegen gegenüber dieser Neuausrichtung, das Denken und das Ausprobieren neuer Wege sind angesichts des veränderten Nutzer- und Ausleihverhaltens nur zu begrüßen. Das Hamburger Projekt bleibt spannend.

Gemeinsam für musikalische Bildung

Wie konnte es zu der besonders für öffentliche Musikbibliotheken dramatischen Entwicklung kommen? Mehr noch als fehlende rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen dürfte sich ein Aspekt auswirken, der Musikbibliotheken in ihrem ureigenen Auftrag tangiert: die Misere der musikalischen Bildung. Wenn der Deutsche Musikrat konstatiert, dass »in einem der reichsten Länder der Welt je nach Bundesland bis zu 80% des Musikunterrichts in der Grundschule ausfällt oder fachfremd erteilt wird«[7], kann man nur noch von Missstand sprechen. Großangelegte musikalische Bildungsprogramme mit außerschulischen Partnern wie zum Beispiel »Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen« (JeKits) in Nordrhein-Westfalen können einen durchgängigen Musikunterricht für alle Jahrgangsstufen nicht ersetzen. Der Missstand setzt sich fort in der Oberstufe der Gymnasien, wo durch Vorgaben von Mindestkursgrößen kaum noch Musikleistungskurse realisiert werden. Er setzt sich ebenso fort in den Kindergärten und Kindertagesstätten, da in der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher musikalische Frühförderung als Fach nicht mehr vorkommt. Wenn musikalische Bildung in Bildungseinrichtungen also immer weniger stattfindet, wo sollen dann künftig die Musiklehrer, die Musikerzieher, wo die Menschen herkommen, die Musizieren als Bereicherung ihres Lebens empfinden? Wo sollen die Nutzer von Musikbibliotheken herkommen und woher letztendlich auch die Musikbibliothekare?

Dabei ist das Interesse am aktiven Umgang mit Musik ungebrochen. Wie eine jüngst in der Fachzeitschrift MusikForum veröffentlichte Studie ergab, hat sich Youtube innerhalb einer Dekade zum wichtigsten Medium für das Musiklernen entwickelt.[8] Dass sich viele Teilnehmer an solchen Online-Kursen sehnlichst »richtigen« Musikunterricht in einer traditionellen Musikschule wünschen, zeigt, dass Tutorials durchaus als Appetizer fungieren, aber keinen Ersatz für lebendigen Unterricht bieten können.

»Denn welche Institutionen, wenn nicht Bibliotheken, könnten einer breiten Öffentlichkeit besser den freien Zugang zu musikbezogenen Medien und Inhalten ermöglichen und damit die Unterstützung von musikalischer Bildung und Musikpraxis gewährleisten? Es gibt keine Alternativen.«

Was ist zu tun? Eine breite gesellschaftliche Allianz für musikalische Bildung, wie es der Deutsche Musikrat 2003 in seinem ersten Berliner Appell[9] gefordert hat, scheint dringlicher denn je. Der musikbibliothekarische Berufsverband AIBM[10] engagiert sich hier seit langem als Mitglied, entsendet Vertreter in die Landesmusikräte und benennt Kontaktpersonen zu Verbänden des Musikunterrichts. In dieser Allianz sollte die AIBM aber auch selbstbewusster als bisher als unverzichtbarer Partner auftreten und darauf bestehen, in bildungspolitische Initiativen einbezogen zu werden. Beispielhaft gehen die Berliner Musikbibliotheken voran, die mittlerweile aktiv in Projekte des Landesmusikrats eingebunden sind.[11] Ein erster konkreter Ansatz auf Bundesverbandsebene war die im September 2014 während der AIBM-Jahrestagung verabschiedete sogenannte Nürnberger Erklärung des Verbandes deutscher Musikschulen und der AIBM. Darin plädieren beide Verbände nicht nur für eine stärkere Zusammenarbeit, sie fordern vor allem von den politischen Entscheidungsträgern eine ausreichende Ausstattung von Musikbibliotheken und die Integration von Informationskompetenz in die musikalische Bildung an Schulen und Musikhochschulen.[12] Weitere Schritte zur Kooperation wurden Anfang dieses Jahres in Berlin vereinbart.

Überfällig ist eine Vernetzung der AIBM mit anderen Bibliotheksverbänden. Bisher sind die spezifischen Ziele und Aufgaben von Musikbibliotheken weder in die Formulierung von Bibliotheksentwicklungsplänen noch von (Muster)Bibliotheksgesetzen noch ganz allgemein in Beschreibungen des Leistungsspektrums von Bibliotheken eingeflossen (im Unterschied etwa zu denen von Kinder-, Schul- oder Fahrbibliotheken).[13] Sie müssen in künftige Positions- und Strategiepapiere mit aufgenommen werden. Denn welche Institutionen, wenn nicht Bibliotheken, könnten einer breiten Öffentlichkeit besser den freien Zugang zu musikbezogenen Medien und Inhalten ermöglichen und damit die Unterstützung von musikalischer Bildung und Musikpraxis gewährleisten? Es gibt keine Alternativen.
 

Verena Funtenberger ist Diplom-Bibliothekarin mit musikbibliothekarischem Zusatzstudium und abgeschlossenem Studium der Instrumentalpädagogik. Nach beruflichen Stationen im Schallarchiv des SWR Stuttgart, in der Deutschen Bibliothek der Maison Heinrich Heine Paris, in den Öffentlichen Bibliotheken Düsseldorf, Aachen und Bochum sowie beim Aalto-Theater Essen leitet sie seit 1995 die Musikbibliothek der Stadtbibliothek Essen. Seit 2011 ist sie Vertreterin für den musikbibliothekarischen Berufsverband AIBM im Landesmusikrat NRW, seit September 2015 Vizepräsidentin der AIBM. – Kontakt: verena.funtenberger@stadtbibliothek.essen.de

 

[1] Susanne Hein: Musikrecherche; siehe www.miz.org/fachbeitraege.html

[2] Jürgen Diet: Stand und Perspektiven der ViFaMusik im Rahmen des neuen Fachinformationsdienstes Musikwissenschaft. In: Bibliotheksdienst 50(2016)2, Seite 188-198

[3] Modell der Öffentlichen Musikbibliothek. Berlin: DBI, 1985 (dbi-Materialien ; 44), Seite 22,  Seite 79

[4] Deutsches Musikinformationszentrum, www.miz.org/institutionen/forschung-dokumentation. Stand: Oktober 2014. Von den 88 genannten Bibliotheken entsprechen mehr als ein Viertel nicht den im »Modell der Öffentlichen Musikbibliothek« formulierten Kriterien (siehe Anm. 3).

[5] Verband deutscher Musikschulen, www.musikschulen.de. Stand: Januar 2014

[6] Heinrike Buerke und Michael Schugardt: Die Zukunft der Bibliotheken am Beispiel des Laboratoriums Musikbibliothek der Bücherhallen Hamburg. Vortrag auf der AIBM-Jahrestagung am 24. September 2015 in Stuttgart. Veröffentlicht in leicht veränderter Fassung unter dem Titel »Laboratorium Musikbibliothek. Neue Wege für die öffentliche Musikbibliothek am Beispiel der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen«. In: Bibliotheksdienst 50(2016)2, Seite 249-256

[7] Deutscher Musikrat: Musikalische Bildung in Deutschland - ein Thema in 16 Variationen (Kurzfassung des Grundsatzpapiers). Hamburg 15.02.2013

[8] Matthias Krebs: Musiklernen mit Youtube. Unrichtiger Unterricht? In: MusikForum (2015)2, Seite 28-31

[9] www.musikrat.de/musikpolitik/musikalische-bildung/1-berliner-appell

[10] Association Internationale des Bibliothèques, Archives et Centres de Documentation Musicaux (siehe Seite 167)

[11] Susanne Hein: Von musica reanimata bis zum Instrument des Jahres. Die Musikbibliothek der Zentral- und Landesbibliothek Berlin und ihre Öffentlichkeitsarbeit. 4. Multiplikator Landesmusikrat. In: Bibliotheksdienst 50(2016(2), Seite 244-248

[12] Nürnberger Erklärung 2014. In: Forum Musikbibliothek (2015)1, Seite 36-37

[13] Vgl. Bibliotheksportal des Deutschen Bibliotheksverbandes, www.bibliotheksportal.de



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