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Zweisprachige Märchenreisen in der Stadtbibliothek Reutlingen

Märchenreisen, interkulturelle Bibliotheksarbeit, Stadtbibliothek Reutlingen
Bei den Reutlinger Märchenreisen wird nicht nur zugehört, sondern auch gebastelt und gespielt. Fotos: Stadtbibliothek Reutlingen

Bei einem Seminar zur Interkulturellen Öffnung der Stadt Reutlingen im Frühjahr 2019 lernte ich Galina Lerner, Leiterin des Bildungszentrums in Migrantenhand e.V. (BiM), persönlich kennen. Hier entstand die Idee eines interkulturellen Märchenprojekts für Kinder im späteren Kindergarten- und Grundschulalter sowie deren Eltern. Gemeinsam mit BiM entwickelte die Stadtbibliothek Reutlingen ein Veranstaltungskonzept für zweisprachige interkulturelle Märchenreisen.

Das Angebot sollte die Besucher/-innen mit unterschiedlichen kulturellen und nationalen Hintergründen zusammenbringen und niederschwellig, also kostenlos und ohne Anmeldung, sein. Punktuell sollten für den fremdsprachigen Part Migrantenvereine oder einzelne Muttersprachler/-innen einbezogen und damit Kontakte zu Kindern und Familien aufgebaut werden, die die Bibliothek vielleicht noch nicht kennen und für die Veranstaltung in ihren Vereinen und in ihrem Umfeld Werbung machen könnten. Zwei Frösche mit Krönchen als Motiv für unsere Reihe stießen überall auf Begeisterung und würden auch als Aufsteller mitreisen. Wir suchten die Märchen sowie eine adäquate deutsche Übersetzung – und wenn es die nicht gab, übersetzten wir den Text selbst. Die Vorleser/-innen sollten ein Honorar erhalten, und wir kauften fremd- und zweisprachige Kinderbücher zum Ausleihen. Unser Ziel: Märchen oder Legenden aus verschiedenen Ländern zu vermitteln und Lust auf Lesen zu machen.

Kinder und Eltern könnten bei qualitativ hochwertigen Veranstaltungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken, und es würde Raum für Gespräche und Austausch geben. Die Vielsprachigkeit in Reutlingen würde gefördert werden, und die Kinder könnten Interkulturalität erfahren und Mehrsprachigkeit – auch ihre eigene – als Ressource und Schatz erleben. Alle Sinne sollten einbezogen werden, wie das so auf Reisen ist. Ein positiver Nebeneffekt könnte die Sprachförderung für Kinder mit sprachlichen Unsicherheiten sein, die von den ausliegenden Kindermedien zum Weiterlesen angeregt werden. Bei der Suche nach Fördermittelgebern fiel die Wahl auf KIWit (Kompetenzverbund Kulturelle Integration und Wissenstransfer) und samo.fa (Stärkung der Aktiven aus Migrantenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit).

Wir nahmen das TheaterPädagogikZentrum Baden-Württemberg (TPZ) mit ins Boot, um den deutschen Text professionell und mit theaterpädagogischen Elementen angereichert vortragen zu lassen. In der zweiten Jahreshälfte 2019 »bereisten« wir in drei Zweigstellen und der Hauptstelle der Stadtbibliothek Reutlingen sechs Länder. Anhand einer Landkarte wurden die Kinder und ihre Eltern in das jeweilige Land eingeführt: Wo liegt es, wie kommt man dorthin und vieles mehr. Die Geschichten wurden mit Bewegung und Interaktion wie spielerischen Fragen zum Text lebendig vermittelt. Es gab Musik aus dem »Märchenland«, entweder zum Mitsingen oder zum Hören, zudem eine landestypische Kleinigkeit zu essen.

»Der gestiefelte Kater« auf Russisch

Die Pilotveranstaltung fand im August 2019 im Rahmen des Sommerferienprogramms von dialog e.V. mit einer russischen Lesung von »Der gestiefelte Kater« in der Zweigstelle Orschel-Hagen statt. Im Stadtteil gibt es einen hohen Anteil an russischsprechenden Bewohner/-innen, von denen viele die Bibliothek vor Ort nutzen. Mehr als 20 Kinder und Eltern lauschten der Geschichte auf Deutsch und Russisch, bastelten begeistert Lesezeichen mit Katergesichtern, rätselten und sangen.

Weiter ging es in der Interkulturellen Woche mit der amerikanischen Legende »The sleeping bear« – die Vorleserin hatten wir über das Deutsch-Amerikanische Institut Tübingen gewinnen können. Es wurden Bärenstäbe und -masken gebastelt, und natürlich gab es Gummibärchen. Zum Frederick Tag luden wir eine arabischsprachige Vorleserin in die Kinderbibliothek der Hauptstelle ein, und rund 35 Kindern und Eltern hörten die Geschichte von Ali Baba und den 40 Räubern. Räuberhöhlen mit Schatztruhen wurden hergestellt, und es gab handgemachtes arabisches Gebäck. Viele der Jungen und Mädchen waren zuvor noch nicht in der Kinderbibliothek gewesen und blieben auch danach noch, um verschiedene Angebote auszuprobieren. Ebenfalls zum Frederick Tag las eine türkische Integrationsrätin in der Zweigstelle Betzingen das bekannte Märchen von »Keloglan im Glück«, und über 35 Kinder sangen, tanzten und bastelten.

Und dann kam die Ernüchterung. Alles war perfekt für die nächste Veranstaltung organisiert. Die französische Vorleserin, die das Deutsch-Französische Kulturinstitut Tübingen uns vermittelt hatte, hatte ein Märchen ausgesucht, und die Bastelvorlagen waren liebevoll vorbereitet. Monika Hunze vom TPZ kam mit Kostümen zum Verkleiden und war sorgfältig für die deutsche Lesung präpariert – und wir saßen fast alleine da. Kinder, die vereinzelt kamen, trauten sich nicht zu bleiben, und so packten wir wieder alles zusammen: Landkarte, Kostüme, Tücher, Stühle, Laptop und Bastelsachen.

Was war passiert? Die Werbung mit Flyern und Plakaten, Digital Signage, auf der Webseite, Facebook und in der Zeitung hatte offenbar nicht gezündet. Wir hatten versäumt, die französische Community einzubeziehen und lernten: Mund-zu-Mund-Propaganda und eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinen und Instituten ist zumindest in dieser frühen Phase der Reihe eine elementare Voraussetzung für einen guten Besuch. Wir ließen uns nicht entmutigen und planten die letzte Reise des Jahres.

Mitte Dezember war Spanien das Reiseland, und die Veranstaltung wurde ein voller Erfolg. Amalia di Lorenzo vom Spanischen Eltern- und Kulturverein Reutlingen-Tübingen hatte »Das Schloss, genannt Geh einmal hin, und kehre nie wieder zurück« – »El castillo de irás y no volverás« ausgesucht und zusammen mit einer Theaterpädagogin ansprechend vorgetragen. Mit mehr als 35 Kindern und Erwachsenen, die sie zum großen Teil »organisiert« hatte, war die räumliche Kapazität in der Zweigstelle Betzingen mehr als ausgeschöpft. Sogar Jungs und eher zurückhaltende Kinder verblüfften ihre Eltern mit ihrer engagierten Teilnahme. Die Eltern sangen bei den spanischen Kinderliedern mit, die Kinder bastelten Masken der Protagonisten und hatten viel Spaß bei deutsch-spanischen Spielen.

Planungen für die Zukunft laufen

Inzwischen hatte die AG »Interkulturelle Öffnung« Gefallen an unserem ersten Projekt gefunden und eine SMART-Analyse zum Ziele-Controlling dazu erbeten. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon längst geplant, wie es weitergehen sollte, und im Februar 2020 in einem Pressegespräch unsere Arbeit der Öffentlichkeit vorgestellt. Für dieses Jahr hatten wir uns 18 neue Märchenreisen vorgenommen und für 2021 ein Märchenfestival für Kinder und Erwachsene mit weiteren Partnern. Wir machten uns auf die Suche nach passenden Terminen, Orten und Vorleserinnen und Vorlesern. An Sprachen sollten 2020 Vietnamesisch, Chinesisch, Kurdisch, Rumänisch, Kroatisch neu hinzukommen. Die Termine im Januar und Anfang Februar liefen – und dann kam die Corona-Pandemie. Wir mussten die geplanten Reisen »stornieren«.

Natürlich gab es bei der Arbeit Stolpersteine, und manches hat auf Anhieb nicht richtig gut geklappt. In der Praxis ergaben sich Abweichungen vom ursprünglichen Plan und neue Entwicklungen. Für eine bessere interkulturelle Durchmischung der Besucher-/innen haben wir noch keine zündende Idee; bisher kommen mehrheitlich Kinder, die die jeweilige Fremdsprache als Muttersprache sprechen.

Die Märchenreisen erweisen sich als perfektes Beispiel für die Praxis der interkulturellen Zusammenarbeit. BiM managt die Organisation der Finanzen und übernimmt die Durchführung des Begleitprogramms. Die Stadtbibliothek Reutlingen stellt die Räumlichkeiten, entwickelt und finanziert die Werbematerialien und koordiniert die Schnittstellen. Alle beteiligten Institutionen und Personen nutzen ihre Synergien für die Planung, Werbung und Durchführung und stärken damit das interkulturelle Netz in Reutlingen. Wir begegnen uns auf Augenhöhe und erörtern gemeinsam die pragmatischste Lösung für die jeweilige Herausforderung. Absprachen und die Vorgaben der Stadtbibliothek einzuhalten sind Themen, bei denen wir manchmal an unsere Grenzen stießen.

Immer wieder unterhielten wir uns über die Qualität und Vielseitigkeit der anreichernden Elemente, um die Geschichte miterlebbar zu machen. Wir lernten, gut zu kommunizieren und ich, die nötige Toleranz zu entwickeln und meinem Perfektionismus abzulegen, wenn die Musik, das kulinarische Extra oder der Sponsor beim Druck des Flyers eben fehlten oder die Übersetzung nicht genau dem fremdsprachigen Text entsprach. Gleichzeitig musste ich auf die Einhaltung unverzichtbarer Vorgaben bestehen.

Galina Lerner erfuhr, dass eine Bibliothek einen längeren Vorlauf braucht, da viele Abteilungen beteiligt sind und mehr Fristen und Regeln eingehalten werden müssen, als wenn man es alleine macht. Ausprobieren, korrigieren, neu planen. Diese Zusammenarbeit ist ein anstrengendes, aber befruchtendes Versuchsfeld. Wir lernten viel voneinander und das andere und den jeweils anderen schätzen. Ich war tief beeindruckt von Galina Lerners Verbindungen in der interkulturellen Szene Reutlingens – sie ist eine elementare Voraussetzung für das Gelingen dieses Projektes.

Großartiges interkulturelles Netzwerk

Ein echter Gewinn für uns ist das neu entstandene großartige Netzwerk: Man kennt sich, weiß umeinander und kann sich schnell verständigen – auch in der Zukunft. Diese persönlichen Verbindungen sind unser Schatz. Ein Beispiel dazu ist mir eindrücklich in Erinnerung: Ich fragte eine vietnamesische Vorleserin für einen Termin im November 2020 an. Es war November 2019. Ihre Antwort: »Tanja, ich kann morgen in die Bibliothek kommen und das übernehmen.« Da habe ich verstanden, sie braucht kein Jahr Vorlauf, um einfach da zu sein, wenn ich sie um etwas bitte. Es hat mich sehr berührt, dieses kurzfristige Möglichmachen eines Termins.

Die Märchenreisen knüpfen an die jahrzehntelange Arbeit unserer Kinder- und Jugendbibliothekarinnen an, die auch interkulturell Früchte trägt. Deren Nachhaltigkeit wurde mir bewusst, als ein muslimischer Vater für die Kinder des örtlichen Moscheevereins kürzlich eine Führung erbat: »Weil ich das selbst als Kind erlebt habe und mir das wichtig ist.«

Unserem Ziel, mit den Märchenreisen die Stadtbibliothek Reutlingen für noch mehr Menschen als »Dritten Ort«, an dem man sich trifft, auch interkulturell erlebbar zu machen, sind wir ein gutes Stück nähergekommen. Dabei haben wir die Rolle der Zweigstellen in den Fokus gerückt und gestärkt. Das Projekt hat unser Zusammenleben in Vielfalt bereichert, wir sind zusammengewachsen und wir gehen gemeinsam weiter. Es ist ein weiterer Mosaikstein in der interkulturellen Öffnung Reutlingens, welche die Grundlage für ein friedliches Miteinander in Respekt und Vielfalt darstellt. Wir möchten erleben und zeigen, wie das im Kleinen schon mit den Kleinen gut funktioniert.

Tanja Schleyerbach,

Stadtbibliothek Reutlingen / 18.8.2020

 

 






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Zweisprachige Märchenreisen in der Stadtbibliothek Reutlingen

Märchenreisen, interkulturelle Bibliotheksarbeit, Stadtbibliothek Reutlingen
Bei den Reutlinger Märchenreisen wird nicht nur zugehört, sondern auch gebastelt und gespielt. Fotos: Stadtbibliothek Reutlingen

Bei einem Seminar zur Interkulturellen Öffnung der Stadt Reutlingen im Frühjahr 2019 lernte ich Galina Lerner, Leiterin des Bildungszentrums in Migrantenhand e.V. (BiM), persönlich kennen. Hier entstand die Idee eines interkulturellen Märchenprojekts für Kinder im späteren Kindergarten- und Grundschulalter sowie deren Eltern. Gemeinsam mit BiM entwickelte die Stadtbibliothek Reutlingen ein Veranstaltungskonzept für zweisprachige interkulturelle Märchenreisen.

Das Angebot sollte die Besucher/-innen mit unterschiedlichen kulturellen und nationalen Hintergründen zusammenbringen und niederschwellig, also kostenlos und ohne Anmeldung, sein. Punktuell sollten für den fremdsprachigen Part Migrantenvereine oder einzelne Muttersprachler/-innen einbezogen und damit Kontakte zu Kindern und Familien aufgebaut werden, die die Bibliothek vielleicht noch nicht kennen und für die Veranstaltung in ihren Vereinen und in ihrem Umfeld Werbung machen könnten. Zwei Frösche mit Krönchen als Motiv für unsere Reihe stießen überall auf Begeisterung und würden auch als Aufsteller mitreisen. Wir suchten die Märchen sowie eine adäquate deutsche Übersetzung – und wenn es die nicht gab, übersetzten wir den Text selbst. Die Vorleser/-innen sollten ein Honorar erhalten, und wir kauften fremd- und zweisprachige Kinderbücher zum Ausleihen. Unser Ziel: Märchen oder Legenden aus verschiedenen Ländern zu vermitteln und Lust auf Lesen zu machen.

Kinder und Eltern könnten bei qualitativ hochwertigen Veranstaltungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken, und es würde Raum für Gespräche und Austausch geben. Die Vielsprachigkeit in Reutlingen würde gefördert werden, und die Kinder könnten Interkulturalität erfahren und Mehrsprachigkeit – auch ihre eigene – als Ressource und Schatz erleben. Alle Sinne sollten einbezogen werden, wie das so auf Reisen ist. Ein positiver Nebeneffekt könnte die Sprachförderung für Kinder mit sprachlichen Unsicherheiten sein, die von den ausliegenden Kindermedien zum Weiterlesen angeregt werden. Bei der Suche nach Fördermittelgebern fiel die Wahl auf KIWit (Kompetenzverbund Kulturelle Integration und Wissenstransfer) und samo.fa (Stärkung der Aktiven aus Migrantenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit).

Wir nahmen das TheaterPädagogikZentrum Baden-Württemberg (TPZ) mit ins Boot, um den deutschen Text professionell und mit theaterpädagogischen Elementen angereichert vortragen zu lassen. In der zweiten Jahreshälfte 2019 »bereisten« wir in drei Zweigstellen und der Hauptstelle der Stadtbibliothek Reutlingen sechs Länder. Anhand einer Landkarte wurden die Kinder und ihre Eltern in das jeweilige Land eingeführt: Wo liegt es, wie kommt man dorthin und vieles mehr. Die Geschichten wurden mit Bewegung und Interaktion wie spielerischen Fragen zum Text lebendig vermittelt. Es gab Musik aus dem »Märchenland«, entweder zum Mitsingen oder zum Hören, zudem eine landestypische Kleinigkeit zu essen.

»Der gestiefelte Kater« auf Russisch

Die Pilotveranstaltung fand im August 2019 im Rahmen des Sommerferienprogramms von dialog e.V. mit einer russischen Lesung von »Der gestiefelte Kater« in der Zweigstelle Orschel-Hagen statt. Im Stadtteil gibt es einen hohen Anteil an russischsprechenden Bewohner/-innen, von denen viele die Bibliothek vor Ort nutzen. Mehr als 20 Kinder und Eltern lauschten der Geschichte auf Deutsch und Russisch, bastelten begeistert Lesezeichen mit Katergesichtern, rätselten und sangen.

Weiter ging es in der Interkulturellen Woche mit der amerikanischen Legende »The sleeping bear« – die Vorleserin hatten wir über das Deutsch-Amerikanische Institut Tübingen gewinnen können. Es wurden Bärenstäbe und -masken gebastelt, und natürlich gab es Gummibärchen. Zum Frederick Tag luden wir eine arabischsprachige Vorleserin in die Kinderbibliothek der Hauptstelle ein, und rund 35 Kindern und Eltern hörten die Geschichte von Ali Baba und den 40 Räubern. Räuberhöhlen mit Schatztruhen wurden hergestellt, und es gab handgemachtes arabisches Gebäck. Viele der Jungen und Mädchen waren zuvor noch nicht in der Kinderbibliothek gewesen und blieben auch danach noch, um verschiedene Angebote auszuprobieren. Ebenfalls zum Frederick Tag las eine türkische Integrationsrätin in der Zweigstelle Betzingen das bekannte Märchen von »Keloglan im Glück«, und über 35 Kinder sangen, tanzten und bastelten.

Und dann kam die Ernüchterung. Alles war perfekt für die nächste Veranstaltung organisiert. Die französische Vorleserin, die das Deutsch-Französische Kulturinstitut Tübingen uns vermittelt hatte, hatte ein Märchen ausgesucht, und die Bastelvorlagen waren liebevoll vorbereitet. Monika Hunze vom TPZ kam mit Kostümen zum Verkleiden und war sorgfältig für die deutsche Lesung präpariert – und wir saßen fast alleine da. Kinder, die vereinzelt kamen, trauten sich nicht zu bleiben, und so packten wir wieder alles zusammen: Landkarte, Kostüme, Tücher, Stühle, Laptop und Bastelsachen.

Was war passiert? Die Werbung mit Flyern und Plakaten, Digital Signage, auf der Webseite, Facebook und in der Zeitung hatte offenbar nicht gezündet. Wir hatten versäumt, die französische Community einzubeziehen und lernten: Mund-zu-Mund-Propaganda und eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinen und Instituten ist zumindest in dieser frühen Phase der Reihe eine elementare Voraussetzung für einen guten Besuch. Wir ließen uns nicht entmutigen und planten die letzte Reise des Jahres.

Mitte Dezember war Spanien das Reiseland, und die Veranstaltung wurde ein voller Erfolg. Amalia di Lorenzo vom Spanischen Eltern- und Kulturverein Reutlingen-Tübingen hatte »Das Schloss, genannt Geh einmal hin, und kehre nie wieder zurück« – »El castillo de irás y no volverás« ausgesucht und zusammen mit einer Theaterpädagogin ansprechend vorgetragen. Mit mehr als 35 Kindern und Erwachsenen, die sie zum großen Teil »organisiert« hatte, war die räumliche Kapazität in der Zweigstelle Betzingen mehr als ausgeschöpft. Sogar Jungs und eher zurückhaltende Kinder verblüfften ihre Eltern mit ihrer engagierten Teilnahme. Die Eltern sangen bei den spanischen Kinderliedern mit, die Kinder bastelten Masken der Protagonisten und hatten viel Spaß bei deutsch-spanischen Spielen.

Planungen für die Zukunft laufen

Inzwischen hatte die AG »Interkulturelle Öffnung« Gefallen an unserem ersten Projekt gefunden und eine SMART-Analyse zum Ziele-Controlling dazu erbeten. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon längst geplant, wie es weitergehen sollte, und im Februar 2020 in einem Pressegespräch unsere Arbeit der Öffentlichkeit vorgestellt. Für dieses Jahr hatten wir uns 18 neue Märchenreisen vorgenommen und für 2021 ein Märchenfestival für Kinder und Erwachsene mit weiteren Partnern. Wir machten uns auf die Suche nach passenden Terminen, Orten und Vorleserinnen und Vorlesern. An Sprachen sollten 2020 Vietnamesisch, Chinesisch, Kurdisch, Rumänisch, Kroatisch neu hinzukommen. Die Termine im Januar und Anfang Februar liefen – und dann kam die Corona-Pandemie. Wir mussten die geplanten Reisen »stornieren«.

Natürlich gab es bei der Arbeit Stolpersteine, und manches hat auf Anhieb nicht richtig gut geklappt. In der Praxis ergaben sich Abweichungen vom ursprünglichen Plan und neue Entwicklungen. Für eine bessere interkulturelle Durchmischung der Besucher-/innen haben wir noch keine zündende Idee; bisher kommen mehrheitlich Kinder, die die jeweilige Fremdsprache als Muttersprache sprechen.

Die Märchenreisen erweisen sich als perfektes Beispiel für die Praxis der interkulturellen Zusammenarbeit. BiM managt die Organisation der Finanzen und übernimmt die Durchführung des Begleitprogramms. Die Stadtbibliothek Reutlingen stellt die Räumlichkeiten, entwickelt und finanziert die Werbematerialien und koordiniert die Schnittstellen. Alle beteiligten Institutionen und Personen nutzen ihre Synergien für die Planung, Werbung und Durchführung und stärken damit das interkulturelle Netz in Reutlingen. Wir begegnen uns auf Augenhöhe und erörtern gemeinsam die pragmatischste Lösung für die jeweilige Herausforderung. Absprachen und die Vorgaben der Stadtbibliothek einzuhalten sind Themen, bei denen wir manchmal an unsere Grenzen stießen.

Immer wieder unterhielten wir uns über die Qualität und Vielseitigkeit der anreichernden Elemente, um die Geschichte miterlebbar zu machen. Wir lernten, gut zu kommunizieren und ich, die nötige Toleranz zu entwickeln und meinem Perfektionismus abzulegen, wenn die Musik, das kulinarische Extra oder der Sponsor beim Druck des Flyers eben fehlten oder die Übersetzung nicht genau dem fremdsprachigen Text entsprach. Gleichzeitig musste ich auf die Einhaltung unverzichtbarer Vorgaben bestehen.

Galina Lerner erfuhr, dass eine Bibliothek einen längeren Vorlauf braucht, da viele Abteilungen beteiligt sind und mehr Fristen und Regeln eingehalten werden müssen, als wenn man es alleine macht. Ausprobieren, korrigieren, neu planen. Diese Zusammenarbeit ist ein anstrengendes, aber befruchtendes Versuchsfeld. Wir lernten viel voneinander und das andere und den jeweils anderen schätzen. Ich war tief beeindruckt von Galina Lerners Verbindungen in der interkulturellen Szene Reutlingens – sie ist eine elementare Voraussetzung für das Gelingen dieses Projektes.

Großartiges interkulturelles Netzwerk

Ein echter Gewinn für uns ist das neu entstandene großartige Netzwerk: Man kennt sich, weiß umeinander und kann sich schnell verständigen – auch in der Zukunft. Diese persönlichen Verbindungen sind unser Schatz. Ein Beispiel dazu ist mir eindrücklich in Erinnerung: Ich fragte eine vietnamesische Vorleserin für einen Termin im November 2020 an. Es war November 2019. Ihre Antwort: »Tanja, ich kann morgen in die Bibliothek kommen und das übernehmen.« Da habe ich verstanden, sie braucht kein Jahr Vorlauf, um einfach da zu sein, wenn ich sie um etwas bitte. Es hat mich sehr berührt, dieses kurzfristige Möglichmachen eines Termins.

Die Märchenreisen knüpfen an die jahrzehntelange Arbeit unserer Kinder- und Jugendbibliothekarinnen an, die auch interkulturell Früchte trägt. Deren Nachhaltigkeit wurde mir bewusst, als ein muslimischer Vater für die Kinder des örtlichen Moscheevereins kürzlich eine Führung erbat: »Weil ich das selbst als Kind erlebt habe und mir das wichtig ist.«

Unserem Ziel, mit den Märchenreisen die Stadtbibliothek Reutlingen für noch mehr Menschen als »Dritten Ort«, an dem man sich trifft, auch interkulturell erlebbar zu machen, sind wir ein gutes Stück nähergekommen. Dabei haben wir die Rolle der Zweigstellen in den Fokus gerückt und gestärkt. Das Projekt hat unser Zusammenleben in Vielfalt bereichert, wir sind zusammengewachsen und wir gehen gemeinsam weiter. Es ist ein weiterer Mosaikstein in der interkulturellen Öffnung Reutlingens, welche die Grundlage für ein friedliches Miteinander in Respekt und Vielfalt darstellt. Wir möchten erleben und zeigen, wie das im Kleinen schon mit den Kleinen gut funktioniert.

Tanja Schleyerbach,

Stadtbibliothek Reutlingen / 18.8.2020

 

 



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