(K)ein Drama in fünf Akten

Die Borchert-Box in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg zeigt, wie Ausstellungen in Bibliotheken gelingen können.
Die Borchert-Box im Informationszentrum der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Foto: Dauphin HumanDesign® Group / Leniger Fotografie

Literatur auszustellen, ist kein leichtes Unterfangen. Zwei Gründe sind dafür zentral. Der erste: Literatur ist Text – und wenn es etwas gibt, was in jeder Ausstellungsform schmal gehalten werden sollte, dann ist es: Text. Der zweite: Literatur und viele ihrer Paratexte sind Flachware. Wenn die Flachware dann auch noch in einer Vitrine liegt, schimmert die Aura eines handschriftlichen Briefs zwar durch das Vitrinenglas in die Gesichter der Insider/-innen, aber nur noch fahl in die der zwangsgeführten Schüler/-innengruppen. Die große Herausforderung ist es also, die Schätze, die in den Archiven vergraben liegen, angemessen zu präsentieren.

Exposition: Die Idee

Einen echten literaturgeschichtlichen Schatz hat die Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Hamburg seit 45 Jahren in ihren Beständen: Den Nachlass des generationsprägenden, frühverstorbenen Nachkriegsschriftstellers Wolfgang Borchert (1921-1947). Dessen Mutter Hertha Borchert (1895-1985) hatte ihn 1976 der SUB vermacht. Der Nachlass stellt für Kuratorinnen und Kuratoren eine wahre Fundgrube dar. Denn Hertha Borchert hatte nicht nur die Flachware ihres Sohnes inklusive seiner Bibliothek übergeben, sondern auch seinen Schreibtisch, seine Tabakspfeife, seine Modelschiffsammlung und viele weitere Objekte.

Diesem Nachlass sollte beim stadtweiten Festival »Hamburg liest Borchert« mit einem Schwerpunkt rund um den 100. Geburtstag des Autors am 20. Mai 2021 eine besondere Rolle zukommen: Er sollte in einer neuen Dauerausstellung an einem viel frequentierten Ort gezeigt werden. Die Rahmenidee war im Oktober 2020 gefunden: Eine »Borchert-Box« sollte als vollverglastes Raum-im-Raum-System am Übergang zwischen dem Informationszentrum des Hauptgebäudes und dem Altbau der SUB aufgebaut werden. Die Box war mit zwei Zimmern geplant, das erste betretbar, das zweite durch Glaswände gut einsehbar.

Katastase: Eine leere Box

Zeitdruck entsteht bei der Planung von Ausstellungen häufig erst, wenn die Eröffnung naht. Und woran es oftmals von Beginn an hakt, ist die Finanzierung. Im Fall der Borchert-Box war es andersherum: Eine Ideenskizze mit einer groben Kostenkalkulation und die Überzeugungskraft von SUB-Direktion und –Mitarbeiter/-innen reichten der Hermann Reemtsma Stiftung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, das Projekt noch vor dem offiziellen Start großzügig zu fördern.

Der Zeitplan war allerdings zum Projektstart schon auf Kante genäht, weil die konkreten Planungen erst im November 2020 aufgenommen werden konnten. Bereits einen Monat später stand die konzeptionell fundierte Ausschreibung für die Ausstellungsgestaltung. Im hinteren Raum sollte der gegenständliche Nachlass als »Borcherts Zimmer« aufgebaut werden, im vorderen Raum Informationen zu Leben und Werk des Autors in ihren wesentlichen Aspekten präsentiert werden. Über zwei Medienstationen sollten die Ausstellungsstücke aus dem Nachlass und der Kontext des kriegszerstörten Hamburg zugänglich gemacht werden. Dieser virtuelle Teil der Ausstellung war auch als Grundlage für die Ausstellungswebsite gedacht (borchert.sub.uni-hamburg.de).

Im Februar 2021 erfolgte der Aufbau des Cubes. Circa 30 Quadratmeter, verteilt auf zwei Räume, standen uns zur Verfügung. Im verwaisten Informationszentrum, aufgrund der Eindämmungsmaßnahmen für Besucher/-innen seit November nicht nutzbar, wartete eine leere Box auf Befüllung.

Peripetie: Bau auf, bau auf!

Da die Ausstellungsfläche recht begrenzt war und wir die Ausstellung sowohl für Zufallsbesucher/-innen als auch für Borchert-Kenner/-innen ansprechend und informativ gestalten wollten, galt es zunächst, einen Titel zu finden. Aus einer Reihe von circa acht Vorschlägen kristallisierte sich schließlich folgende Überschrift als geeignet heraus: Dissonanzen. Wolfgang Borchert (1921-1947). Mit dem Schlagwort, entnommen aus dem berühmten Text Das ist unser Manifest, wollten wir auf die Widersprüche und Polaritäten hinweisen, die sein Leben und Werk prägten.

Anfang April füllte sich schließlich das hintere Zimmer der Box mit Originalmobiliar, persönlichen Gegenständen, Büchern, Gemälden und Skulpturen. Ein Panoramafoto des eingerichteten Raums sollte als Oberfläche für die Web-Anwendung »Borcherts Zimmer« dienen. Unser Ziel war es, über die doppelte Präsentation in virtueller und physischer Form die Aura der Originalgegenstände zu wahren und über eine Kontextualisierung der Objekte gleichzeitig aufklärerisch-wissenschaftlich zu arbeiten.

Nach der Einrichtung von »Borcherts Zimmer« konnten wir uns dem vorderen der beiden Räume widmen, dem Ausstellungsraum. Dort galt es, Borcherts (Werk-)Biografie an vier Stationen nachzuvollziehen. Jeder der Lebensabschnitte sollte auf einem maßangefertigten Sideboard erzählt werden, ausgestattet mit einer Plotfolie mit Infotext und zahlreichen Abbildungen. In die Sideboards integriert waren 15 Schubladen, gefüllt mit Faksimiles, die für die einzelnen Lebensstationen und die Ausstellungsidee besonders relevant schienen. Abgerundet wird die physische Ausstellung mit zwei Blätterbüchern, die Gedichte und Kurzgeschichten Borcherts enthalten.

Neben den vier Sideboards befinden sich im vorderen Raum der Borchert-Box die beiden Medienstationen der Ausstellung. Direkt an der gläsernen Zwischenwand zu Borcherts Zimmer ist ein Tisch mit einem Display aufgebaut, das die Webanwendung »Borcherts Zimmer« zeigt. An einem Wandpaneel ist zudem ein Bildschirm montiert, über den »Borcherts Hamburg« abrufbar ist. Ein interaktives Schmuckstück wurde vor dem Ausgang der Box aufgebaut: Der Borchert-Bot, ein Gedichtautomat, der von dem Slam Poeten Fabian Navarro programmiert wurde. Der Bot entwirft in Millisekunden Gedichte, die an Borcherts Texte erinnern, weil die Künstliche Intelligenz, die in dem Bot steckt, mit ebendiesen trainiert wurde.

Retardierendes Moment: Virenkunde

Als wir in der Ideenfindungsphase einen Eröffnungstermin festlegten, den 8. Mai 2021, waren wir zuversichtlich, diesen vor Ort und mit Gästen gestalten zu können. Im Frühjahr zeichnete sich aber bereits ab, dass die angedachte Veranstaltung ebenso wie ein Großteil des stadtweiten Festivals »Hamburg liest Borchert« nicht wie geplant wird stattfinden können. Damit das arbeitsintensive Projekt dennoch einen offiziellen Abschluss fand, der gleichzeitig als Startschuss für die Rezeption dienen sollte, wurde ein Eröffnungsvideo produziert. Vor-Ort-Besucher waren nach der digitalen Eröffnung allerdings noch nicht zugelassen.

Als großer Pluspunkt erwies sich in dieser Situation, dass wir einen Großteil der Borchert-Box über die Ausstellungswebsite erreichbar gemacht hatten, zwar nur virtuell, aber immerhin. Ein besonderes Highlight wurde pünktlich zur Eröffnung auf der Ausstellungswebsite scharfgeschaltet: Die parallel laufende Digitalisierung aller Briefe, Grafiken und Werkmanuskripte Borcherts war rechtzeitig abgeschlossen. Das Corona-Virus hatte also die regelhafte Eröffnung verhindert – doch konnten wir, um im Bild zu bleiben, trotzdem unseren Teil dazu beitragen, dass sich im Mai 2021 ein Borchert-Virus verbreitete, und zwar nicht nur in Hamburg.

Lysis: Resonanzraum

Dass die Borchert-Box nur virtuell eröffnet werden konnte, war schade. Der Resonanz schadete es aber kaum, weder in der Spitze noch in der Breite. Ein dpa-Artikel zur Ausstellungseröffnung wurde von circa 200 Printausgaben (inklusive Unterausgaben) übernommen, ein Geburtstagsbeitrag, basierend auf einem Interview mit dem Ausstellungskurator, erschien in über 350 Printausgaben. Zahlreiche Online-Portale berichteten ebenfalls über die Eröffnung und den Geburtstag und verwiesen dabei auf die Borchert-Box, auch in Luxemburg, Österreich und der Schweiz. Allein vier Beiträge zur Ausstellung und zum Jubiläum liefen im Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur. Auch in den Hamburger Medien war die Borchert-Box sehr präsent und tauchte prominent in der dreiseitigen Artikelsammlung des Hamburger Abendblatts vom 15./16. Mai auf, ebenso in einem vierseitigen MOPO-Artikel in der Wochenendausgabe vom 8./9. Mai auf.

Viel Echo rief zudem ein Beitrag zur Borchert-Box im Hamburg Journal vom NDR am 4. Mai hervor. Auch im Beitrag des Heute Journals (ZDF) am 19. Mai zum runden Geburtstag Borcherts waren Bilder der Borchert-Box zu sehen. Für die Geburtstagsveranstaltung im Rahmen von »Hamburg liest Borchert«, die ebenfalls nur digital stattfinden konnte, war der Hamburger Kultursenator Carsten Brosda zu einem Gespräch in der Box zur Gast.

Zum Ende des Borchert-Jubiläumsjahrs entwickelte sich noch ein tolles Anschlussprojekt: Die SUB hat auf der HADAG-Fähre »Wolfgang Borchert“« einer öffentlichen Nahverkehrsfähre, eine kleine Ausstellungsdependance gestaltet. Zur 2G-Eröffnungsfahrt waren Gäste zugelassen. Das Jubiläumsjahr konnte also noch einen würdigen Abschluss finden.   

Dr. Konstantin Ulmer, Staats- und Universitätsbibliothek  Hamburg

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