Einer aktuellen Umfrage zufolge bewerten die Spanierinnen und Spanier ihre Bibliotheken mit gut. Obwohl die Besucherzahlen noch nicht wieder an die Werte vor der Corona-Pandemie heranreichen, weisen die Bibliotheken ein gleichbleibend hohes gesellschaftliches Standing vor mit 8,2 von 10 möglichen Punkten. Und das in einem Land, das immer noch einen sehr hohen Anteil (36 Prozent) an Menschen vorweist, die angeben nie oder fast nie zu lesen (Die Daten stammen aus dem »Barómetro de Hábitos de Lectura y Compra de Libros en España 2021«, dem Barometer zum Lese- und Buchkaufverhalten in Spanien 2021). In Spanien gibt es rund 6.500 Bibliotheken unterschiedlichen Typs. Auf 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kommen durchschnittlich 14 Bibliotheken (Vgl. Bibliotheksstatistik »Estadística de Bibliotecas«). Dennoch ist die Reichweite der Bibliotheksangebote nicht flächendeckend gleich, wie wir im Folgenden zeigen werden, und hängt großteils vom Wohnort ab.
Das regionale Bibliothekssystem
Die Vielzahl der Autonomen Gemeinschaften und die Vielfalt ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ausprägungen und Identitäten spiegeln sich in den Bibliotheken der Autonomien wider. Die Ausgangssituation zu Beginn der 1980er-Jahre war, bis auf einige punktuelle Ausnahmen, überall im Land ähnlich. Alle Autonomieverwaltungen mussten sich in der Bibliothekseinrichtung und -führung befähigen, aber weder haben dies alle zugleich noch mit der gleichen Sorgfalt gemacht noch war der politische Elan vergleichbar. Obwohl das Hauptmerkmal die Vielfalt ist, lässt sich feststellen, dass sich die Autonomen Gemeinschaften an den Leitlinien und Konzeptionen für die bibliothekarische Organisation orientiert haben, die von zwei Pionier-Gemeinschaften auf diesem Gebiet vorgegeben wurden und die auch heute noch eine Vorbildfunktion haben: nämlich Katalonien und Andalusien. Grob gesagt lässt sich eine autonome pyramidale Bibliotheksstruktur in den Regionen zeichnen bestehend aus diesen Einrichtungen:
- Biblioteca regional (Autonome Bibliotheken): Sie stehen dem regionalen Bibliothekssystem vor, mit ähnlichen Funktionen für die Region wie die Nationalbibliothek.
- Bibliotecas Públicas del Estado (Staatliche Öffentliche Bibliotheken): Sie sind – wie weiter oben beschrieben – in staatlicher Hand, werden aber von den Autonomen Gemeinschaften verwaltet dank bilateraler Abkommen. Die meisten haben die Koordinierung auf Provinzebene übernommen.
- Bibliotecas municipales (Gemeindebibliotheken): Sie sind von den kommunalen Verwaltungen abhängig, erhalten jedoch die notwendige finanzielle und organisatorische Unterstützung durch die regionale Verwaltung.
Das lokale Bibliothekssystem
Nach Angaben aus dem Jahr 2020 sind 96 Prozent der Öffentlichen Bibliotheken in Spanien von den Kommunen abhängig. Die restlichen 4 Prozent der Bibliotheken stehen in Trägerschaft von einer Provinz- oder Inselverwaltung, der Verwaltung der Autonomien und des Staats (Daten des Ministerio de Cultura y Deporte de España). Daher stellen die kommunalen Bibliotheken eindeutig den größten Teil der spanischen Öffentlichen Bibliotheken dar und übernehmen eine zentrale Rolle zur Erfüllung der Informationsbedürfnisse der Bevölkerung. Sie verfügen über Sammlungen zu allen Themen und sind die wichtigsten Kultur- und Informationszentren in jeder Region, da sie verschiedene Maßnahmen, wie zum Beispiel zur Leseförderung, organisieren. Hier möchten wir auch den Bibliobus erwähnen, dessen Modell der mobilen Versorgung zurückgeht auf die 1970er-Jahre, um das Fehlen der Bibliotheken in den Stadtteilen großer Städte wie auch Ortschaften aller Größe zu kompensieren.
Der Bibliotheksberuf in Spanien
Die bibliothekarische Ausbildung
Seit den 1980er-Jahren ist ein universitär anerkanntes Fachstudium für zukünftige Bibliothekarinnen und Bibliothekare landesweit möglich. In etwa ein Dutzend spanischen Universitäten werden zurzeit Studiengänge in Bibliotheks- und Dokumentationswissenschaft angeboten, die nach vier Jahren zum »Grado« (Bachelor) führen. Außerdem ist es möglich, durch ein Jahr Zusatzstudium zu einem Master zu gelangen. Darüber hinaus werden Doktorandenkurse angeboten. Um eine Stelle im Staatsdienst zu bekommen, ist es erforderlich, eine Staatsprüfung, die sogenannte »Oposiciones«, zu absolvieren. Die Staatsprüfungen werden von der Zentralregierung oder den jeweiligen Regierungen der Autonomen Gemeinschaften für freiwerdende Planstellen ausgeschrieben. Dieses Modell, das auf dem französischen Konzept der staatlichen Überprüfung und der lebenslangen Amtszeit basiert, führt dazu, dass Beamte einer Autonomie sich erneut bewerben und sich der »Oposiciones« unterziehen müssen, falls sie sich in Bibliotheken eines anderen Orts bewerben möchten.
Berufsständische Organisationen
Die Geschichte der bibliothekarischen Vereinigungen in Spanien ist noch recht jung, sie reicht kaum bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück mit Ausnahme einer kurzen Blütephase des bibliothekarischen Berufsstands während der Zweiten Spanischen Republik in den Jahren 1931 bis zum Militärputsch 1936. Vor der Neuorganisation Spaniens in Autonome Gemeinschaften gab es zwar bereits einige Berufsverbände auf nationaler Ebene, aber erst mit der neuen Struktur, nimmt die Entstehung von regionalen Verbänden, vor allem in den 1980er-Jahren, an Fahrt auf. Nicht nur ist die Anzahl an Vereinigungen im Land sehr groß – über 30 –, sondern auch ihre Ausgestaltung und Mitgliederzahl sehr heterogen. Dies hängt unter anderem auch mit der Tradition oder vergleichsweise jungen Geschichte des Berufs in bestimmten Regionen zusammen und mit Faktoren wie, ob es ein Studienangebot an den Universitäten gibt.
Zukunftsfragen für das Bibliothekssystem in Spanien
Die spanischen bibliothekarischen Berufsverbände haben (noch) nicht die Kraft und dieselbe repräsentative Wirkung, die Verbände aus Ländern mit einer starken Bibliothekstradition wie den USA, Großbritannien oder Nord- und Zentraleuropa vorweisen können. Dennoch kann man hoffen, dass in einem Land, in dem die Bibliotheken ein so positives gesellschaftliches Ansehen genießen auch die berufliche Anerkennung steigt und die Verankerung in der politischen Agenda zugewinnt.
Infolge der starken dezentralen Verwaltungsstruktur des Landes ist es zu einem verzweigten und komplexen Zuständigkeitssystem der Bibliotheken gekommen, das zu einer großen Bibliotheksvielfalt und lokalem Gestaltungsspielraum bei der Ausprägung der einzelnen Bibliotheken beigetragen hat. Inzwischen empfinden einige Stimmen in Spanien dieses System aber auch als zu stark zersplittert, sodass Zuständigkeiten nicht mehr nachvollzogen werden können, was Innovation auf lange Sicht behindern könnte.
Diesen Weg schlägt auch ein Aktionspapier ein, das in diesem April durch den Bibliotheksdachverband FESABID im Senat präsentiert wurde.
Aus diesem Aktionspapier möchten wir zum Ende unseres Überblicks einige Herausforderungen, mit dem das sehr komplexe Bibliothekssystem aktuell konfrontiert ist und die damit verbundenen Forderungen für die Zukunft, zitieren:
- Spanien braucht eine Gesetzesreform der Autonomiegesetze, um die Bibliotheksstrukturen zu vereinfachen, eine klare Kompetenzverteilung bezüglich der Verwaltungszuständigkeiten und eine Definition des Mindestangebots an Bibliotheksservices.
- In Anbetracht der alarmierenden demografischen Entwicklung in Spanien und dem vorhandenen Gefälle zwischen bevölkerungsreichen und praktisch unbesiedelten Gegenden müssen auch Gemeinden mit geringerer Bevölkerungsdichte mit Bibliotheken ausgestattet werden.
- Es benötigt weiterhin die Förderung von virtuellen Angeboten, deren Relevanz während der globalen Gesundheitskrise der letzten Jahre deutlich geworden ist.
1 Gesetz 7/1985, vom 02.04.1985, Reguladora de las Bases del Régimen Local, Artikel 26.1 Absatz b.
2 Ein ausführlicher Überblick über das Bibliothekssystem in Spanien findet sich im Kapitel: Monteserín Soto, Maruxa und Schmädel, Stephanie: »Komplexität und regionale Besonderheiten – das Bibliothekswesen in Spanien«, in: Musser, Ricarda und Werr, Naoka: »Das Bibliothekswesen in der Romania«. Berlin/Boston: De Gruyter (2019).
3 Seit Januar 2019 verwendet die BNE RDA als Formalerschließungsstandard. Für die Sacherschließung und Klassifizierung verwendet die BNE die Schlagwörter der Spanischen Nationalbibliothek (EMBNE) und die Universelle Dezimalklassifikation (UDC) in der Ausgabe von 2015.