Zur Bedeutung des ungehinderten Zugangs zu Büchern, Medien und Informationen: Ein Auszug aus der Rede der Autorin Düzen Tekkal auf der BiblioCon in Hannover.
Bücher, Medien, der Zugang zu Bildung und Informationen: Für viele von uns ist das eine Selbstverständlichkeit und nicht weiter erwähnenswert. Wie wichtig der ungehinderte Zugang zu Bildung und welcher Gewinn jedes einzelne Buch für die persönliche Entwicklung ist, darüber hat die Journalistin und Autorin Düzen Tekkal auf der BiblioCon in Hannover gesprochen.
Bücher waren für mich als kleines Mädchen ein neuer Weltzugang. Ich war weitestgehend ohne Bücher aufgewachsen – bis ich die Landesbibliotheken Hannovers kennenlernte! Die kleine Düzen wuchs in einer kurdisch-jesidischen Familie auf. Materiell betrachtet, hatten wir nicht viel. Wir waren emotional reich und reich an liebevoller Wärme. Meine Mutter hat nie lesen und schreiben gelernt, bis heute nicht. Aber sie ist trotzdem klug, reich an Lebenserfahrung, kennt viele Geschichten. Das Jesidentum ist eine mündliche Kultur. Die Glaubensinhalte werden von Generation zu Generation mündlich überliefert. Wir sind keine Schriftbesitzer, haben kein zentrales Buch, in dem alles schriftlich niedergelegt ist. Bücher spielten im Hause Tekkal keine Rolle. Bildung war wichtig. Die gab es in der Schule. Zu Hause mussten wir Kinder – elf Stück an der Zahl – viel mit anpacken. Es galt, den Alltag einer Großfamilie mitzubewältigen und seinen Beitrag zu leisten, damit das große Ganze, dessen Teil man war, funktionierte. Lesen – eine stille, zurückgezogene Tätigkeit – galt in meiner Familie nicht unbedingt als Beitrag zu diesem Ganzen, eher im Gegenteil. Zum Lesen muss man sich absondern von seinen Mitmenschen. Man braucht Zeit, Ruhe und Muße.
Das einzige Buch im Haus
Ich war noch ganz klein, da entdeckte ich das einzige Buch im Hause Tekkal für mich: das Telefonbuch. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, Namen, Adressen und Telefonnummern festzuhalten. Für die kleine Düzen hatte das etwas Magisches.
In dieser Zeit kam ein weiterer Einfluss hinzu, im Kindergarten: Sabine, meine Kindergärtnerin, brachte mir über das Vorlesen die deutsche Sprache nahe. Die Buchstaben auf dem Papier übersetzten sich in ihre Stimme, die kindliche Fantasie geriet in Gang. Die Kindergartenstube wurde weiter und war plötzlich in der Lage so viel mehr aufzunehmen als das, was unmittelbar im Raum war. Die Bücher wurden zu Freunden. Wir trugen sie zu Sabine und baten sie, vorzulesen. Sabine war mehr als eine Kindergärtnerin für mich. Vielmehr war sie eine erste Lehrerin.
In der Schule lernte ich dann das Lesen. Das heimische Telefonbuch konnte entziffert werden. Ich begann, darin zu blättern und mir Geschichten zu den Namen und Adressen auszumalen. Auch die Tageszeitungen, die mein Vater abonniert hatte, nahm ich zur Hand. Die Welt weitete sich.
»In der Bücherei konnte ich meinem Alltag entfliehen. Hier musste ich nicht funktionieren.«
Ich werde nie vergessen, wie es für mich war, die Städtischen, niedersächsischen Landesbibliotheken zu entdecken. Eine neue Welt tat sich auf. Vor allem: eine, die nichts kostete. Ich konnte es kaum fassen: Man konnte hier Bücher umsonst lesen, sie mit nach Hause nehmen! Bücher waren für mich und meine Geschwister Luxusgüter. Wir konnten sie uns nicht leisten. Aber hier war ein Ort, der Zugang zu Bildung bot, abseits der Schule. Als Erweiterung. Dieser Wert kann überhaupt nicht beziffert werden! Der wohl berühmteste Bibliothekar der Welt, Jorge Luis Borges, hat es einmal so formuliert: »Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.« Was in Bibliotheken an Verschaltungen von und Zwiegesprächen zwischen Gehirnen stattfindet, ist ein Wert in sich, der für alle Zeit bewahrenswert ist!
In der Bücherei konnte ich meinem Alltag entfliehen. Hier musste ich nicht funktionieren.
In einer eigenen Welt
Sehr gut kann ich mich an die Landesbibliothek am Lindener Marktplatz erinnern. Hier war ich in meiner eigenen Welt. Die Bücher wurden zu meiner zweiten Heimat, meine Freunde. Die Möglichkeiten, sich in andere Welten zu träumen, war hier in seiner ganzen Fülle erfahrbar. Ich fühlte mich wie in zwei Leben. Die Literatur, die meine beste Freundin wurde, habe ich nach Hause gebracht. Ich muss dabei an Virginia Woolf denken: In ihrem berühmten feministischen Essay »Ein Zimmer für sich allein« schrieb sie, dass man als Schriftstellerin Geld und eben ein Zimmer für sich allein braucht.
Ich muss auch an Ani denken, die ich für den Band »Die mutigen Frauen Irans« interviewt habe. Eine junge Frau aus Saqqez, in einer der kurdischen Provinzen im Westen des Landes. Aus Saqqez stammt auch Jina Amini, die so brutal von der Sittenpolizei misshandelt wurde wegen ihres »schlecht sitzenden« Kopftuchs, dass sie an den Verletzungen starb. Ani hatte ihr Grab besucht auf dem Aichi-Friedhof in Saqqez und hatte dort den Tanbur gespielt, eine traditionelle kurdische Laute. Sie filmte sich dabei und das Video wurde millionenfach im Netz geteilt. Poesie, Musik und Bücher geben Ani Kraft. Sie bezieht sich ebenfalls auf Virginia Woolf, bei der sie Inspiration und Trost findet inmitten der Revolution für »Frau – Leben – Freiheit«, in der die Frauen sich Räume für sich in jeder Hinsicht erkämpfen. Ani liest Bücher auf Persisch, auf Kurdisch und auf Englisch. Viele Bücher dürfen in Iran nicht erscheinen. Eine Zensur findet statt. Aber es gibt Schlupflöcher und so manches Buch schafft es an der Zensur vorbei. Vielleicht sind die kulturellen Wächter und Gatekeeper des Regimes doch nicht so gebildet. Oder sie denken, dass für ein Buch wie das von Virginia Woolf kein Interesse besteht, sodass es ruhig erscheinen darf – was ein weiterer Beleg dafür wäre, dass die Regierung jeglichen Kontakt zu seiner Bevölkerung verloren hat.
»Die Lesesäle wurden zum Zimmer für mich, ebenso wie ein Zimmer für alle, die die Welt der Bücher entdecken wollten.«
Ani zitiert Virginia Woolf: Eine starke Frau müsse immer über sich selbst schreiben, nicht über die »große Geschichte«, die über Jahrhunderte hinweg von Männern gemacht und geschrieben wurde. Im Rückblick habe sie vieles richtig gemacht und mit sieben Jahren angefangen, Tagebuch zu schreiben.
Die Absonderung war für mich als Kind und Heranwachsende in einer Großfamilie nicht so leicht. Als Kind, das die Welt der Bücher entdeckte, brauchte ich immerhin kein Geld. Das Zimmer für mich allein wurde erst mit meinem Auszug von zu Hause Wirklichkeit. Ich hatte zunächst die Bibliotheken, die mir über diese Zeit halfen. Die Lesesäle wurden zum Zimmer für mich, ebenso wie ein Zimmer für alle, die die Welt der Bücher entdecken wollten oder sie schon entdeckt hatten und immer wieder zurück an den wärmenden Herd der Ideen, Geschichten und Wissensspeicher kamen.
Der Weg in den Ausleihkorb
Kinderbücher und Hörspiele, Jugendromane, der ein oder andere erste Klassiker fanden den Weg in meinen Ausleihkorb. Als ich älter wurde, änderte sich auch meine Lektüre. Die deutsche Literatur kam in den Blick: Theodor Fontane, Thomas Mann, Gottfried Benn, Hermann Hesse, Franz Kafka und Goethe. Letztere waren besonders prägend für meine Politisierung. In meinem Elternhaus ging es schon sehr politisch zu. Mein Vater war damals schon Menschenrechtsaktivist: Er machte deutsche Politiker auf die Verfolgung der Jesiden aufmerksam – ja, überhaupt darauf, dass es uns Jesiden gibt als eigene Religionsgemeinschaft. Er gründete den ersten jesidischen Verein, half immer wieder Menschen in der Community weiter, bei Übersetzungen, bei Ämterangelegenheiten. Ich weiß noch, wie er mich auf DGB-Kundgebungen vor dem Hannoveraner Rathaus mitnahm. Für meinen späteren Aktivismus wurde hier schon der Grundstein gelegt. Und Goethe und Kafka verstärkten den Willen, etwas zu bewegen und zum Besseren hin zu verändern. Sie ermutigten mich darin, politisch zu handeln. In Goethes »Faust« wertet der Universal-Gelehrte in seiner Umschrift des Neuen Testaments die Tat gegenüber dem Wort auf: »Im Anfang war die Tat.« Von Franz Kafka lernte ich, dass diese Tat, das Handeln, uns in den Weltlauf verstrickt. Wir machen uns die Hände schmutzig. Aber ohne diesen Schmutz ist kein Leben und keine Veränderung zu haben. Das waren einschneidende Lese-Erfahrungen für mich während der schulischen Oberstufe. Und diese Bücher hatten wir alle nicht zu Hause. Ich fand sie in der Bibliothek. Sie war für mich auch der Ort, an dem ich in Kontakt mit den Geschichten von Frauen kam. Über die Literatur wurden sie für mich lebendig. Es waren andere Lebenswelten als meine. Aber doch war da ein unsichtbares Band. Mein Horizont überblendete sich mit demjenigen der Frauen, die ich oder über die ich las.
»Ein gedrucktes und gebundenes Buch nimmt physischen Raum ein. Es ist einfach da. Um seine Materialität herum bilden sich kleine Rituale heraus.«
Es ist noch heute so, dass ich immer, wenn ich mich einsam fühle oder Trost brauche, zum Buch greife. Bücher geben mir ein Gefühl von Heimat und zu Hause. Eine Bibliothek kann dieses Geborgenheitsgefühl noch verstärken: nicht nur das Buch, sondern auch der umgebende Raum, ein doppelter Kokon, das perfekte Biotop, in dem Gedanken zum Austausch kommen, reifen können und in dem Horizonte verschmelzen, eben »Denken mit fremdem Gehirn«.
Gedrucktes Buch oder E-Book?
Um das Buch tobt seit einigen Jahren ein Kampf: das gedruckte Buch vs. das E-Book oder Texte im Netz. Dabei geht es auch um Autorinnen- und Vervielfältigungsrechte. Ich würde die digitalen Angebote als Ergänzung betrachten. Auch das E-Book kann einem erlauben, wertvolle Lese-Erfahrung zu machen. Ich würde aber – gerade in der heutigen Zeit, da die digitalen Bilder dominieren – für das gedruckte Buch eine Lanze brechen. Digitale Schrift ist ortlos. Die Hoheit über den Zugang zu Schriften – die heutzutage etwas despektierlich häufig »con- tent« genannt werden – liegt bei den großen Tech-Firmen. Die Entscheidung darüber, ob ein Schriftgut digital öffentlich zugänglich wird und bleibt, ist gar nicht so demokratisch, wie man denkt. Inhalte können von heute auf morgen auch offline genommen werden. Es ist eine sehr wunderbare Errungenschaft, dass man in Windeseile einen Text ergoogeln kann. Gerade für Menschen mit wenig Geld oder mit weiten Wegen zur nächsten Bibliothek ist das Gold wert! Aber von der Marktmacht der Digitalkonzerne dürfen wir uns nicht zu sehr abhängig machen.
Ein gedrucktes und gebundenes Buch nimmt physischen Raum ein. In der Bibliothek nimmt es einen ganz bestimmten Platz ein. Es ist einfach da. Um seine Materialität herum bilden sich kleine Rituale heraus: vom Betreten der Bibliothek, über die Suche im Katalog, über das Auffinden des gewünschten Buches im Regal. Dann muss der geeignete Ort innerhalb der Bibliothek gefunden werden, um das Eintauchen in das Buch zu ermöglichen. Der Heidelberger Philologe Roland Reuß hat das gedruckte Buch als »die perfekte Lesemaschine« bezeichnet. Da ist viel Wahres dran! Wer einmal den Blick in einer Bibliothek über den Lesesaal und die Lesenden schweifen lässt, wird rege Betriebsamkeit entdecken.
Ein Zimmer für uns alle
Meine Welt als Kind und Heranwachsende war anstrengend und sie war laut. Großfamilie hieß Unterordnung, Verhandlungsprozesse. Dem anderen Raum lassen, um selbst Raum beanspruchen zu können. Wenn ich in die Bücherei ging, konnte ich diese Welt hinter mir lassen. Es trat Ruhe, Gelassenheit und Frieden in mein Herz. Das hat mich verändert und nie wieder losgelassen. Ich wusste, dass es diesen Ort gibt, den ich jederzeit aufsuchen kann.
Ich wünsche mir, dass die Büchereien für die nächsten Generationen auch erhalten bleiben. Jede Bibliothek ist eine eigene Bildungseinrichtung. Ein Zimmer für uns alle.
Düzen Tekkal (Foto: Sebastian Schramm) ist Politikwissenschaftlerin, Sozialunternehmerin, Kriegsberichterstatterin, Filmemacherin, Gründerin, Journalistin und Autorin. Sie ist Mitglied der Expertenkommission Fluchtursachen und Menschenrechtsexpertin des Bundestages. Für ihren Dokumentarfilm »Háwar – Meine Reise in den Völkermord« reiste sie mehrfach in den Irak und dokumentierte dort den Völkermord an den Jesiden. Düzen Tekkal hat schon als Kind gelernt, sich zu vernetzen und zu engagieren: Sie wuchs mit zehn Geschwistern in einer kurdisch-jesidischen Familie auf, die in den 1960er Jahren aus der Türkei floh. Gemeinsam mit ihren Schwestern gründete sie die Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help, mit der sie verschiedene multireligiöse und multiethnische Projekte im Irak und in Deutschland ins Leben gerufen hat. Im Jahr 2019 gründete sie die Bildungsinitiative GermanDream, um Schüler für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu begeistern.