»Ich wollte eigentlich nie Verleger werden«

Ein Gespräch mit dem Künstler und Verleger Christian Thanhäuser über die Kunst des Büchermachens und die Schönheit Sloweniens.
Die Andruckpresse »Korrex« mit Holzschnitten: Franz Kafka, ein Ahornblatt und ein Waldbild. Fotos: Catarina Caetano da Rosa
Die Andruckpresse »Korrex« mit Holzschnitten: Franz Kafka, ein Ahornblatt und ein Waldbild. Fotos: Catarina Caetano da Rosa

 

Christian Thanhäuser ist ein österreichischer Künstler und Illustrator. 1989 gründete er die Edition Thanhäuser, einen bibliophilen Verlag für Lyrik, Kurzprosa und Essays mit einem Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa. Im Interview mit BuB-Herausgeberin Catarina Caetano da Rosa erzählt er von seiner Zeit in Slowenien – dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse – und gibt Einblicke in seine Werkstatt in Ottensheim.

 

BuB: Auf Judith Schalansky geht die folgende Sentenz zurück: »Bücher sind eine Flaschenpost durch die Zeit, vielleicht das beste Medium, um Bleibendes zu schaffen.« Hat sie recht?
Christian Thanhäuser: Ja, sicher! Da kann ich nur zustimmen. Wir haben diese Botschaften von Früheren bekommen und geben etwas weiter. Wir wissen nicht, wer das einmal schätzen wird. Aber ich sehe, es gibt junge Leute, die sich für das Buch interessieren.

 

Ist eine Welt ohne Bücher denkbar?
Nein, für mich nicht. Bücher müssen einfach sein! Ich könnte mir ein Leben ohne Bücher nicht vorstellen. Ich habe immer ein Buch mit. Wenn ich unterwegs bin, lautet die schwierigste Frage: Welche Bücher packe ich jetzt ein?



Bringen Sie von Ihren Reisen auch Bücher mit nach Hause?
Wenn ich früher in eine Stadt kam, habe ich mich eigentlich nie auf die Sehenswürdigkeiten gestürzt, sondern bin gleich einmal ins Antiquariat. Die Adressen habe ich mir schon vorher rausgesucht – etwa aus dem Telefonbuch oder den Reiseführern von dtv-Merian. Heute gebe ich einen Titel im Internet ein und bekomme verschiedene Angebote. Im Antiquariat dagegen, wenn ich vor den Regalen stehe, entdecke ich immer wieder Sachen, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Das waren immer wichtige Anregungen für mich. Dieses Unverhoffte! Und die Gespräche mit den Antiquarinnen und Antiquaren...

 

Sind Sie ein Liebhaber alter Bücher?
Wenn man ältere Bücher liest, die im Buchdruck hergestellt wurden, dann hat man oft eine leichte Prägung und kleine Unregelmäßigkeiten drin. Das ist für das Auge angenehm. Es ist nicht jedes »E« gleich. Es ist auch haptisch interessant: Wenn ich mit der Hand drüber streiche, spüre ich die Buchstaben. Heute sind sie flach. Vielleicht entspricht es einer Verrücktheit von mir, doch wenn ich ein Buch in alter Drucktechnik finde, dann kaufe ich das und verschenke das neue.

 

Ein Buch lesen Sie also anders als Texte im Netz?
Ja, auch intensiver! Ich glaube, dass die Konzentration beim Lesen eines Buchs größer ist. Was man in Büchern durch Zufall nicht alles mitbekommt.

Herr Thanhäuser, Sie fördern gezielt junge Lyrik-Talente aus Osteuropa und haben in Ottensheim, wo Sie leben und arbeiten, das Ranitz-Stipendium ins Leben gerufen. Woher kommt Ihre Verbindung zu Osteuropa?
Für die Generation meiner Eltern war das alles weit weg. Ich habe immer wieder persönliche Kontakte zu diesen Ländern gesucht, aber ich hatte keinen, der mir etwas dazu erzählt hat. Sobald ich den Führerschein hatte – das war um das Jahr 1977 – bin ich die ganze tschechische, ungarische und slowenische Grenze auf kleinen Straßen abgefahren. Die östliche Grenze von Österreich hat mich interessiert.

 

Mit Slowenien verbindet Sie eine über 30-jährige Geschichte. Wo beginnt diese?
In Kärnten bin ich in Bleiburg gelandet. Das ist eine kleine Stadt, die zweisprachig ist. Diese Kärntner sind Slowenen. Sie haben ständig zwischen Slowenisch und Deutsch gewechselt. Da habe ich gedacht: »Das ist aber schön! Die reden in beiden Sprachen und verstehen sich?« Das habe ich nicht gekannt.

 

Das Zweisprachige findet sich in vielen Büchern der Edition Thanhäuser, die sich den interkulturellen Dialog zum Ziel setzt. Eine Ihrer ersten Arbeiten mit slowenischer Literatur war der von Ludwig Hartinger herausgegebene Gedichtband »Mein Gedicht ist mein Gesicht« mit Texten des slowenischen Dichters Srečko Kosovel (1904-1926).
Dieser Dichter ist mit 22 Jahren gestorben und hat über 1000 Gedichte hinterlassen. Das ist unglaublich! Fast alle beziehen sich auf die Karstlandschaft. Es ist ein Gedichtband entstanden, der mit Text und Bild funktioniert. Lesenden hat er oft als Reiseführer über den Karst gedient.



Wie lange reicht Ihr Wunsch zurück, sich mit osteuropäischer und speziell mit slowenischer Literatur als Illustrator zu beschäftigen?
Das war immer im Hinterkopf! 1989 ist damals im Wieser-Verlag in Klagenfurt sehr schön gestaltete Literatur aus diesen ex-jugoslawischen Ländern – Slowenien, Kroatien und so weiter – erschienen. Das waren lauter Namen, die ich vorher nie gehört hatte. Aber die Bücher waren schön gestaltet. Auf der Buchmesse habe ich dann auch Ludwig Hartinger kennengelernt, der dort Lektor war. Wir sind bis heute befreundet. Er hat Slowenisch gelernt − aus Begeisterung für diese Sprache und für Srečko Kosovel, den Dichter. 
Eines Tages habe ich den Auftrag bekommen, »Tantadruj« von Ciril Kosmač (1910–1980) zu illustrieren − eine Erzählung, die in Slowenien jeder kannte. Sie spielte zum Teil auf einem Friedhof in Piran an der slowenischen Küste. So habe ich mich in diese Gegend zurückgezogen. Ich war eine Woche im Winter dort und habe ein Gespür für das Land bekommen.

 

Haben Sie einen Lieblingsort in Slowenien?
Alle Landesteile Sloweniens sind unglaublich bezaubernd. Jeder Teil des Landes hat seine eigene Atmosphäre: im Osten die Pannonische Tiefebene, wo es hinüber geht in das Prekmurje; Wein gibt’s; dann die hohen Berge und viele schöne unregulierte Flüsse. Slowenien hat alles. Das große Geheimnis der Karstlandschaft mit seinen unterirdischen Flüssen − das interessiert mich sehr.

Zu Ihren künstlerischen Arbeiten hat es weltweit Ausstellungen gegeben – auch in Slowenien wie in Ljubljana, Maribor, Ptuj...
Ptuj ist eine sehr schöne kleine Stadt, mitten im Weingebiet. Es gibt dort ein großes internationales Poesiefestival. Das macht Aleš Šteger, einer der bekanntesten Dichter des Landes. »Poesie und Wein« nennt sich das. Dort ergibt das eine immer das andere: Man lernt Leute kennen… Wenn man gute Weine probieren kann und Lesungen sind, verbindet das die Leute.

 

Herr Thanhäuser, außer für Ihre Federzeichnungen sind Sie auch für Ihre Holzschnitte bekannt, mit denen Sie Bücher anderer Verlage wie der Insel-Bücherei illustrieren. Wo haben Sie das gelernt?
Das habe ich mir selbst angeeignet. In der Anfangszeit habe ich mich viel mit Surrealismus beschäftigt und Experimente angestellt à la Max Ernst mit Frottagen, wo er sich aus der Natur Strukturen holt. Ein altes Forstlexikon war mit im Spiel. Darin las ich über den Buchdruckerkäfer und die Strukturen, die dieser Käfer in der Holzrinde macht. Da habe ich mir gedacht: Das ist ja nicht weit weg und der heißt noch dazu »Buchdruckerkäfer«! Ich habe erkannt, dass das für die Grafik interessant ist. Die Tiere machen eine Art von Holzschnitt: sehr schöne Strukturen mit Verzweigungen. Das habe ich zu Hause ausprobiert: Man kann aus der Natur ganz wunderbare Strukturen herausholen.

 

Wie sind Sie zu Ihrer ersten Druckerpresse gelangt?
Als die Mauer noch stand, haben mich Pressedrucker aus Berlin nach Kreuzberg eingeladen. Berlin Kreuzberg war damals wie eine geschützte Insel. Die Mieten waren niedrig und es wurde viel experimentiert. Und dann sehe ich so eine Werkstatt und denke mir: »Ja, das möcht’ ich jetzt auch haben!« Also, diese ganzen Handsatzlettern und eine kleine Presse. Ich bin eine Zeit lang geblieben, um die Grundlagen für den Handsatz zu lernen. Ich bin dann mit zwei, drei Setzkästen nach Hause gekommen und einer kleinen Andruckpresse. Da habe ich schnell gemerkt: Ich komme damit nicht weit. Ich brauch’ ein bisschen mehr und habe in den 90er-Jahren zwei komplette Setzereien kaufen können.

Im Jahr 1989 haben Sie Ihre eigene Handpressenwerkstatt gegründet. Seither erscheinen in der Edition Thanhäuser jährlich drei bis vier Bücher. Wie war es, Verleger zu werden?
In erster Linie bin ich ja Grafiker und nicht Verleger. Ich wollte eigentlich nie Verleger werden. Das ist mir einfach passiert. Ich habe früher natürlich viel gelesen und Bücher gesammelt. Die Anregungen aus der Literatur waren ganz wichtig für meine Arbeit als Grafiker – für die Zeichnungen und für die Holzschnitte.

 

Der Dichter Hans Carl Artmann (1921-2000) hat Sie früh zum Leben als freischaffender Künstler ermuntert. Wie haben Sie sich kennengelernt?
In den frühen 1980er-Jahren habe ich angefangen, Dichterlesungen in Ottensheim zu organisieren. Einer, der gekommen ist, war H.C. Artmann, den ich als Schüler schon sehr bewundert hatte. Er hat dann gesehen, dass ich Holzschnitte mache. H.C. Artmann hat damals viel mit kleinen Pressendruckern in Berlin zusammengearbeitet und sich auch sehr für alles Handwerkliche interessiert. Gelegentlich hat er mir Publikationen geschenkt. Da habe ich gesehen, dass diese mit großer Liebe gemacht waren. Das war anders als bei den Büchern aus den großen Verlagen.

 

Wie kam es dann zu der Gründung Ihres Verlags? 
Eines Tages steht H.C. Artmann vor der Tür, hat einen Text in der Hand und sagt: »Christian, das wäre was für Dich! Mach’ was Schönes draus!«  Das war eine Husarengeschichte, die noch nicht publiziert war. Ich hatte damals noch keine Andruckpresse. Das heißt, ich habe das alles – wie es vor Gutenberg üblich war – in Lindenholz geschnitten, dann auf Büttenpapier gedruckt und mit Holzschnitten kombiniert. Das waren 500 Stunden Schneidezeit. Mit einer Mappe voller Handabzügen bin ich dann 1989 auf die Frankfurter Buchmesse gefahren. Das war eine kleine Sensation. Viele Leute sind gekommen, die haben gesagt: »Da, schauen’s mal! Da ist einer aus Österreich, der hat das so probiert.« Es tauchte dann eine Frage auf, die habe ich H.C. Artmann gestellt: »Soll man jetzt einen Verlag drauf schreiben?« Darauf hat er gesagt: »Na, schreib’ einfach ›Edition Thanhäuser‹ hin. Das passt dann so!«

Ihr Verlag hat im Jahr 1999 die Auszeichnung für die schönsten Bücher und Schutzumschläge Österreichs bekommen. Gibt es ein Vorbild für Ihre Bücher?
Die weiße Reihe bei Volk und Welt, diese Lyrik-Reihe. Das sind über hundert Bände. Die sind sehr schön gemacht. Zufällig haben sie dasselbe Format wie unsere Bücher. Die Bücher habe ich damals in Prag gefunden, noch in der kommunistischen Zeit. Da hat es immer DDR-Buchhandlungen gegeben – in Budapest und in Prag. Manche Leute haben es hier natürlich schlecht geredet. Aber da war sehr viel Literatur, grad aus dem Osten wie aus Kirgisien, die bei uns nicht am Markt war – auch einiges von dieser weißen Lyrik-Reihe. Sehr schön gesetzt, alles! Nach 1989 wurde leider viel eingestellt.

 

Das Jahr 1989 stellte für die Ostblockstaaten eine Zäsur dar: Ungarn öffnet seine Grenzen, der »Eiserne Vorhang« fällt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Das war eines der prägendsten Jahre für mich, wo sich viel geöffnet hat. Man hat schon davor gespürt, 1988 in Tschechien und Ungarn, dass sich etwas ändern wird, aber dass es dann so schnell gegangen ist, das war die große Überraschung: Die Öffnung der Grenzen! Ich bin schon vorher immer mit dem Visum in die Tschechoslowakei gefahren. Es war kein großes Problem, aber es war eine geschlossene Grenze.

Ihr Buch mit Briefen Adalbert Stifters »Nur das Leben lassen wir dann bleiben«, 1990 erschienen, präsentiert bereits Holzschnitte aus der Grenzregion zwischen Tschechien und Österreich. Wie haben Sie das geschafft?
Da ich in der Nähe vom Böhmerwald zu Hause bin, also in einer Stunde an der Moldau bin, habe ich mich viel mit Adalbert Stifter beschäftigt. Nicht nur mit seinen Erzählungen, sondern auch mit seinen Briefen. So wollte ich ein Buch verlegen mit Briefauszügen, wo Stifter auf Reisen ist. Doch ich konnte dieses Niemandsland, wo Stifter gewandert ist, zuvor nicht besuchen. In der Kindheit hieß es, das sei ein verbotenes Land… Mit 18 Jahren bin ich dann sofort hinüber, um zu zeichnen.

 

Was ist entscheidend, wenn man eine eigene Edition beginnt?
Dass man Leute hat, die ehrlich mit einem sind, die also nicht nur Lob aussprechen, sondern auch sagen: »Bitte, mein Lieber, das kannst Du beim nächsten Mal besser machen!« Ingrid Schultheiß (1932-2021), Professorin für künstlerischen Handeinband von der Burg Giebichenstein, hat mir zu meinen neuen Büchern immer gesagt: »Lieber Herr Thanhäuser, diese Holzschnitte sind alle sehr schön, aber warum haben Sie nicht an dies und jenes gedacht?« Das ist ganz wichtig, wenn man seine Edition naiv beginnt. Ich kenne auch einen Antiquar in Passau, Heiner Henke am Domplatz. Er hat mir immer wieder wertvolle Hinweise gegeben: »Dies musst Du lesen! Das ist jetzt wichtig für Dich!« Er hat auch meine Bücher kritisch beäugt, denn er hatte die Erfahrung aus der Verlagswelt. Er hat mir dazu geraten, die Auflagen nicht zu hoch zu machen, sondern lieber klein und überschaubar zu bleiben. Es sind dann Bücher in kleinen Auflagen entstanden, etwa 100 bis 150 Exemplare. Das war vom Finanziellen her überschaubar. Das Problem war nur, dass sehr viel Zeit darin steckt: hunderte von Stunden! Die Jahre sind einfach zu kurz…

Wie lautet das Rezept für die Schönheit der von Ihnen verlegten Bücher? 
Möglichst einfach bleiben! Wenn man heute auf die Buchmesse geht, ist ja alles sehr bunt. Dagegen komme ich fast immer mit zwei Farben aus.

 

Worauf kommt es bei der »schwarzen Kunst« noch an?
Das nächste ist die Auswahl des Papiers – nicht rein weiß. Durch die kleinen Auflagen ist es nicht so teuer, wenn man möglichst die besten Papiere für den Umschlag verwendet. Der Holzschnitt erscheint manchmal nur als Prägung auf dem Umschlag, nicht mit Farbe gedruckt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass die Haptik des Buches stimmt! Auch das Format soll gut in der Hand liegen. Es kommt des Weiteren auf die richtige Schrift an: Man sollte sie nicht zu eng setzen und sie sollte gut lesbar sein. Bei den Illustrationen sollten es nicht zu viele sein! Sie dürfen die Texte nicht erschlagen. Die Bilder sollten sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern die Gedichte begleiten. Zwischen Text und Bild ist für die Lesenden ein Freiraum zu lassen.

 

Was war Ihr bestes Bibliothekserlebnis?
Eines der besten Erlebnisse mit Bibliotheken hatte ich vor zwei Jahren im Kloster Neustift bei Brixen in Südtirol. Ich habe dort mit dem Aktionskünstler Paul Renner gemeinsam den Eingangsbereich neu gestaltet. Dort leben Augustiner Chorherren, die der Welt sehr offen gegenüberstehen. Ich habe gefragt, ob zur Botanik etwas da wäre, das ich verwenden könnte. Der Abt meinte: »Ja, wir haben ein Herbarium aus der Barockzeit.« Ich hatte mir vorgestellt, dass ich dieses vielleicht mit weißen Handschuhen durchblättern dürfte. Da antwortete der Abt: »Nimm’s mit aufs Zimmer! Dann kannst Du in Ruhe damit arbeiten!« Ich war ein paar Tage dort und konnte das zum Skizzieren verwenden. Die Großzügigkeit und das Vertrauen des Abts haben mich ungeheuer inspiriert!

 

Vielen Dank für das Gespräch.

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