Wandering Library: Die zweimal Evakuierten

Nach der Evakuierung: Die Luhansker Regionalbibliothek startet als wandernde Bibliothek in der Stadt Tscherkassy mit neuen Online- und Offlineangeboten.
Das Foto zeigt das Team der Wandering Library aus Luhansk in der Ukraine.
Bereits zwei Mal wurde die wissenschaftliche Universalbibliothek der Region Luhansk evakuiert. Das Foto zeigt das Team während der ersten Evakuierung nach 2014 in Starobilsk bei einer Videokonferenz. Fotos: Luhansk Regional Universal Scientific Library

 

Der russisch-ukrainische Krieg hat im März 2014 begonnen. Vorausgegangen waren die Annexion der Halbinsel Krim und Teile der Regionen Luhansk und Donezk. In den vergangenen acht Jahren haben wir gelernt, auch im Kriegszustand weiterzuleben: Wir haben veraltete Infrastruktur modernisiert, Straßen und Autobahnen gebaut, Reformen durchgeführt, die Gemeinden gestärkt und über Kultur und europäische Werte diskutiert. Der 24. Februar 2022 hat das Leben jeder Ukrainerin und jedes Ukrainers jedoch grundlegend geändert: Die Russische Föderation hat eine großangelegte Invasion in die Ukraine begonnen. Chaos, Explosionen, zerstörte Gebäude, der Tod unschuldiger Zivilistinnen und Zivilisten, annektierte Territorien – all das muss unser Land (immer noch) erleiden.

In diesen sehr schweren Zeiten ist es besonders schmerzhaft, wenn Bibliotheken in Mitleidenschaft gezogen beziehungsweise ganz vernichtet werden. Denn gerade Bibliotheken haben immer eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Kultur und der nationalen Identität gespielt. Die ukrainischen Bibliotheken als Standorte von Freiheit, Demokratie und Wandel stellen für die Ideologie der sogenannten »russkij mir« (dt.: »russische Welt«) eine Gefahr dar. Deshalb zerstören die russischen Besatzer nicht allein Bibliotheksgebäude, sondern auch deren Bestände.

Die Luhansker Regionalbibliothek vor 2014

Die Bibliothek wurde 1897 gegründet. In den 1960er-Jahren wurde für die Bibliothek ein sechsstöckiges Gebäude mit einer Gesamtfläche von 222 Quadratmetern errichtet. Der Bibliotheksbestand umfasste fast eine Million Medien. Zum ersten Mal hat die Bibliothek im 20. Jahrhundert einen Krieg erlebt. 1943 haben die Nazis die Bibliothek zerstört und eine Sammlung von 120.000 Büchern verbrannt.  Im 21. Jahrhundert, die Ukraine hatte ihre Unabhängigkeit wiedererlangt, wurde die Bibliothek zum zweiten Mal mit einem Krieg konfrontiert: 2014 sind bewaffnete russische Kämpfer in die Bibliothek eingedrungen, haben die damalige Leiterin bedroht und sie zur Kooperation mit der Besatzungsmacht gezwungen. Um kein Risiko einzugehen, hat die Leitung beschlossen, die Bibliothek in von der Ukraine kontrolliertes Gebiet evakuieren zu lassen. Die Leiterin hat nur die Gründungsunterlagen und den Stempel der Bibliothek mitgenommen. So verlief die erste Evakuierung der Luhansker Regionalbibliothek.

Die Luhansker Regionalbibliothek nach 2014

Nach der Evakuierung musste die Bibliothek ein neues Leben in der Kleinstadt Starobilsk im Norden der Region Luhansk beginnen, 100 Kilometer von der Gebietshauptstadt entfernt. Etwa 18.000 Menschen lebten damals in Starobilsk. Am neuen Standort entstand unter dem Slogan »Good Library« eine neue Bibliothek. Dank einer großen Werbekampagne und der Unterstützung des Ukrainischen Bibliotheksverbandes konnte ein gänzlich neuer Bestand aufgebaut werden: 12.000 Bücher unterschiedlichster Gattungen aus verschiedenen Fachbereichen. Zu einem echten Alleinstellungsmerkmal der Bibliothek ist ihr neues Team geworden, das neben Bibliothekarinnen und Bibliothekaren auch aus Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher kreativer Berufsfelder wie Design, Fotografie, Musik, Technik und Analytik besteht.

 
»Damit unsere Bibliothek überleben und weiterarbeiten konnte, haben wir ein neues Betriebskonzept entwickelt: eine Wanderbibliothek.«

 

Innerhalb der sieben Jahre ihres Bestehens hat die »Good Library« eine Vielzahl von Veranstaltungen organisiert und durchgeführt: Schulungen, Autorenlesungen, Vorträge zu verschiedenen Themen, Diskussionsforen, Kinovorführungen, IT-Events sowie diverse Festivals. Und all das auf einer Fläche von nur 146 Quadratmetern. Unsere Bibliothek hat sich auch durch Gespräche mit bekannten ukrainischen Autoren hervorgetan. Unter den Gästen waren unter anderem den diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Serhij Zhadan, Andrej Kurkow, Oleh Senzow, Max Kidruk und Saschko Dermansky.

Die Luhansker Regionalbibliothek nach dem 24. Februar 2022

Anfang März sind die russischen Truppen in die Stadt einmarschiert. Deshalb musste das Team der Bibliothek in weiterhin von der Ukraine kontrolliertes Gebiet evakuiert werden. Als Folge sind nun die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek über viele ukrainische Groß- und Kleinstädte zerstreut.

Damit unsere Bibliothek überleben und weiterarbeiten konnte, haben wir ein neues Betriebskonzept entwickelt: eine Wanderbibliothek. Das Hauptziel besteht darin, ein flexibles Organisationsmodell von Bibliotheksangeboten zu erarbeiten, das die vertriebenen Bibliotheksbeschäftigten in allen Teilen der Ukraine abhängig von ihrer jeweiligen Lage realisieren können.

Die Mission der Wanderbibliothek: Sie soll in erster Linie den Angestellten der Bibliothek sowie den Menschen in den besetzten Gebieten, die die Bibliothek nutzen, Hilfe leisten sowie Binnenvertriebene unterstützen. Es soll weiter über Bücher diskutiert und es sollen Strategien zur Leseförderungen umgesetzt werden können. Es geht uns auch darum, unsere in den letzten Jahren gemachten Erfahrungen vor allem in puncto Bildung eines Teams und Aufbau von komplett neuen Beständen zu vermitteln.

 
»Wir wollen aber nach der Befreiung unseres Heimatgebiets in die Gebietshauptstadt Luhansk zurückkehren, um ein drittes Mal von Neuem zu beginnen.«

 

In den fünf Monaten der Evakuierung ist es dem Team gelungen, mit seinen Kundinnen und Kunden in Verbindung zu bleiben: Es werden Ukrainisch- und Yogakurse für alle Interessierten angeboten, Sitzungen des »Code Club: Programmieren für Kinder und Jugendliche« durchgeführt sowie Trainings in Medienkompetenz veranstaltet. Alle Aktivitäten finden online statt. Nichtsdestotrotz wird jetzt auch an der Wiederaufnahme des Offline-Betriebs gearbeitet. Inzwischen hat die Bibliothek in ihrem Präsenzangebot Trainings zur Medienkompetenz und Sicherheit im Netz, einen Ukrainisch-Sprachklub sowie einige Workshops. Die Zielgruppe sind Menschen, die nach dem 24. Februar 2022 aus den vorübergehend besetzten Gebieten ausgereist sind.

Der Sitz unserer Bibliothek ist heute die Stadt Tscherkassy im Zentrum der Ukraine, wobei unser Team über sieben ukrainische Städte zerstreut ist. Die Bibliothek hat vor, mittelfristig in Tscherkassy Fuß zu fassen und in vollem Umfang mit dem Offline-Betrieb zu starten. Wir wollen aber nach der Befreiung unseres Heimatgebiets in die Gebietshauptstadt Luhansk zurückkehren, um ein drittes Mal von Neuem zu beginnen.

Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht in BuB 11/2022, Seite 584-586.

Übersetzt aus dem Ukrainischen von Tanya Suprun

Anastasiia Litashova ist Bereichsleiterin IT und Elektronische Ressourcen in der wissenschaftlichen Universalbibliothek Luhansk.

 

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