Bibliotheken im Leseland Tschechien: Eine Reise durch das aktuelle Partnerland von Bibliothek & Information Deutschland.
Die Tschechische Republik ist im Zeitraum von 2022 bis 2025 Partnerland des bibliothekarischen Dachverbandes Bibliothek & Information Deutschland (BID). In diesem Partnerschaftsprogramm ermöglichte die Kommission für den internationalen Fachaustausch des BID, Bibliothek & Information International (BII), im September 2023 eine einwöchige Studienreise nach Tschechien, um den interkulturellen Austausch zwischen Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken zu stärken. Während der Reise wurde zusätzlich die Teilnahme am internationalen Bibliothekskongress Knihovny současnosti 2023 in Olomouc/Olmütz organisiert. Zwölf Bibliothekarinnen und Bibliothekare, vertreten aus Öffentlichen, Wissenschaftlichen und Spezialbibliotheken aus ganz Deutschland, lernten sich in dieser Woche kennen und erlebten einen fachlich wie persönlich sehr intensiven Austausch.
Das tschechoslowakische Bibliotheksgesetz von 1919 verpflichtete jede Gemeinde zur Einrichtung einer Öffentlichen Bibliothek.1 Infolgedessen existieren heute in Tschechien gut 6.000 Bibliotheken. Dazu gehören neben der Tschechischen Nationalbibliothek und den 14 Regionalbibliotheken, 5.302 Gemeindebibliotheken, 115 Medizinische Bibliotheken, 69 Universitätsbibliotheken, 60 Bibliotheken der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, 236 Bibliotheken von Museen und Galerien sowie 93 andere Fachbibliotheken.2
Tschechien ist in 14 Regionen gegliedert. Jede Region besitzt eine Regionalbibliothek, von denen die Reisegruppe drei besichtigte. Die Besichtigungen fanden in der Regionalbibliothek Ústí nad Labem/Aussig, der Wissenschaftlichen Bibliothek Liberec/Reichenberg und der Regionalbibliothek Vysočina in Havlíčkův Brod statt. Diese Bibliotheken nehmen Koordinationsaufgaben für andere Bibliotheken ihrer Region wahr. Sie unterstützen beispielsweise Öffentliche Bibliotheken in kleinen Orten beim Erwerb und der Katalogisierung von Büchern, beraten bei der Einführung neuer Technologien und bieten Schulungen des Bibliothekspersonals an. Außerdem erhalten sie von jeder in der Region gedruckten Veröffentlichung ein Pflichtexemplar.3
Im Jahr 2020 veröffentlichte die Tschechische Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit dem Bibliothekarischen Institut und dem Kulturministerium der Tschechischen Republik ein Strategiepapier, das die Entwicklungsziele der tschechischen Bibliotheken für die Jahre 2021 bis 2027 umreißt. Die bibliothekarische Arbeit ruht demzufolge auf den drei Pfeilern der Zivilgesellschaft, der Bildung und des kulturellen Reichtums.4
Experimentierfreude und Ideenreichtum
Es ist auffällig, auf welche Weise Bibliothek und Gesellschaft in Tschechien zusammengedacht werden. Die meisten der acht besuchten Bibliotheken bieten monatlich zwischen 15 und 50 Veranstaltungen mit mehr oder weniger engem Bezug zu Literatur und Lernen an. In Deutschland gibt es dafür die Bezeichnung als sogenannter »Dritter Ort«. Das Besondere hierbei ist, dass es sich in vielen Fällen um Angebote handelt, die im deutschsprachigen Raum von den Volkshochschulen gemacht werden. Sowohl Inhalte als auch Formate decken eine große Bandbreite ab. Das Spektrum reicht von Lesungen über astronomische Himmelsbeobachtungen bis zu Makerspaces unterschiedlichster Ausrichtungen. Die Bibliotheken setzen diese Vorhaben mit großer Experimentierfreude und viel Ideenreichtum um.
Die Reisegruppe war positiv überrascht, welche Möglichkeiten sich in Tschechien offenbaren. Mit Ausnahme der Technischen Nationalbibliothek und der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik bieten alle besuchten Bibliotheken viel Raum für Kinder – sowohl in Form der vorhandenen Medien als auch in der fantasievollen Gestaltung der Räume und schließlich auch durch die Zusammenarbeit mit Schulen.
In der Wissenschaftlichen Bibliothek Liberec/Reichenberg arbeiten die Bibliothekare und Bibliothekarinnen mit den Schulkindern zusammen, indem sie Medien für Kinder mit Hör- oder Sehbehinderung gestalten. Diese Zusammenarbeit ist wichtig, um auf das Thema Inklusion noch aufmerksamer zu machen. Inklusion in Bibliotheken wird sehr ernst genommen. Als gutes Beispiel geht die Regionalbibliothek Vysočina voran. Die Bibliothek verfügt über eine eigene Abteilung mit Medien und Hilfsmitteln für sehgeschädigte Menschen sowie Materialien, um die Feinmotorik zu schulen.
Hinsichtlich verschiedener Communities existieren spezifische Projekte. So spricht beispielsweise die Zweigstelle Vítkovice der Stadtbibliothek Ostrava/Ostrau mit einigen Angeboten gezielt Angehörige der Roma an.5 Mehrere Bibliotheken kooperieren mit den örtlichen LGBTQIA+-Communities und bieten diesbezügliche Veranstaltungen an.6 Diese Aktivitäten sorgen in verschiedenen Städten allerdings auch für Kontroversen. Neutralität in gesellschaftlichen Konflikten zu wahren, ist öfters ein Balanceakt – etwa, wenn eine rechtsextreme Partei Räumlichkeiten einer Bibliothek anmietet.7
Um einen vertieften Einblick in die Potenziale, Sorgen und Chancen des tschechischen Bibliothekswesens zu erhalten, war die Teilnahme am Bibliothekskongress Knihovny současnosti von unschätzbarem Wert. Der Kongress fand vom 12. bis zum 14. September 2023 in der Palacký-Universität Olmütz statt. Unsere Reisegruppe nahm an den ersten beiden Tagen teil. In den sieben Sektionen »Young«, »Punk«, »Media & Digital Literacy«, »Libraries in the age of technical innovation«, »Surveys«, »Literature and reading« sowie »The library and its place in society« wurden Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen angeboten. Der Kongress wurde vorrangig in Originalsprache abgehalten; allerdings gab es für die Eröffnungsveranstaltung und die Sektionen »Young« und »Punk« englische Simultanübersetzungen.
Großes Interesse an internationalem Austausch
Zusätzlich zu den tschechischen Vorträgen brachten Referate aus Kenia, Deutschland und der Slowakei internationale Perspektiven mit ein. Das inspirierendste Projekt stellte die Kenianerin Angela Wachuka vor. Sie sprach über die Organisation »Book Bunk« und ihr Projekt, die McMillan Memorial Library in Nairobi neu zu strukturieren. Diese Bibliothek ist die älteste Öffentliche Bibliothek in Nairobi und war bisher stark von Kenias kolonialer Vergangenheit geprägt. Es soll eine öffentliche Einrichtung entstehen, die viel mehr bietet als die Ausleihe von Büchern, nämlich ein Ort, der Kunst, Bildung und Geschichte für alle erlebbar macht.8 Der Ansatz mag zunächst nicht außergewöhnlich klingen, gewinnt jedoch vor dem Hintergrund kolonialer Unterdrückungserfahrungen eine andere Dringlichkeit. Wissen zur Verfügung zu stellen und neues Wissen zu generieren, um die eigene Identität zu stärken, erscheint hier nicht als Luxus, sondern als Bedürfnis. Dass die Gründer von »Book Bunk« eine Einladung nach Tschechien erhielten, signalisiert sehr deutlich das große Interesse an einem fachlichen und internationalen Austausch. Auch unsere Reisegruppe war aktiv in die Sektion »Young« eingebunden.9 Auf der Konferenz trafen wir einige Bibliothekarinnen wieder, die wir erst tags zuvor bei Führungen durch ihre Einrichtungen kennengelernt hatten. Durch die verschiedenen Vorträge aus dem ganzen Land bekam die Reisegruppe einen Überblick, welchen Thematiken in Tschechien aktuell sind.
1. Regionalbibliothek Aussig 2. Wissenschaftliche Bibliothek Liberec 3. Rote Kirche (Wissenschaftliche Bibliothek in Olmütz) 4. Regionalbibliothek Vysočina in Havlíčkův Brod 5. Stadtbibliothek Pisek 6. Bibliothek des Goethe-Instituts Prag 7. Technische Nationalbibliothek in Prag 8. Nationalbibliothek der Tschechischen Republik in Prag
Exemplarisch für die Leistungen tschechischer Bibliotheken soll an dieser Stelle die Wissenschaftliche Bibliothek Liberec/Reichenberg näher betrachtet werden.10 Büchereien gibt es in Liberec/Reichenberg seit dem 18. Jahrhundert. Unmittelbarer Vorläufer war die Bücherei der Deutschen, die 1924 eröffnet wurde. 1945 wurden die Bestände in die tschechischsprachige Staatliche Studienbibliothek überführt.11 Die schwierige räumliche Situation machte nach der politischen Wende 1989/9012 einen Bibliotheksneubau erforderlich. Als Schirmherren für diesen »Bau der Versöhnung« konnten die Staatspräsidenten der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, Václav Havel und Roman Herzog, gewonnen werden.
Das anvisierte Grundstück gehörte der jüdischen Gemeinde und war bis 1938 der Standort der Synagoge. In die neue Bibliothek sollte auch ein Synagogen-Neubau als fester Bestandteil integriert werden.13 Der Komplex wurde in den Jahren 1996 bis 2000 fertiggestellt und 2001 für die Öffentlichkeit freigegeben. Die Bibliothek dient als Öffentliche und Wissenschaftliche Bibliothek, sie kommt ihrer Funktion als Regionalbibliothek für die Region Liberecký kraj nach.14 In die öffentliche Sparte gehören die Allgemeine Bibliothek, die Kinder- und Jugendbibliothek, sowie die Musikbibliothek.15 Im wissenschaftlichen Bereich liegt der Schwerpunkt auf Glas- und Textilindustrie, Pädagogik, Architektur und Medizin.
Durch Kooperationen mit dem Goethe-Institut Prag und dem österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten ist germanistische Fachliteratur repräsentativ. Die Bibliothek in der Euroregion Neisse ist im Austausch mit deutschen und polnischen Partnerinstituten als Kulturzentrum aktiv. Sie hat circa 1,5 Millionen Medieneinheiten, von denen ungefähr 250.000 im Freihandbestand aufgestellt sind.16 Konzipiert wurden die Magazinräume für den Bedarf der nächsten 50 Jahre, allerdings ist bereits jetzt, nach zwanzig Jahren, über die Hälfte des Platzes belegt.
Ein Gefühl von Weite und Großzügigkeit
Auch in Liberec/Reichenberg wird viel Wert auf ein umfangreiches gesellschaftliches Angebot gelegt. Es gibt spezielle Angebote für Schulklassen; so ist an die Kinderbibliothek ein kleiner Seminarraum angegliedert. Ebenso sind ein Aufnahmestudio, ein Konferenzraum, mehrere Säle, ein Café und ein Ausstellungsraum vorhanden. Einige Veranstaltungen finden in den Lesesälen statt, wie der »Literarische Mittwoch«. Dabei spricht eine Literaturwissenschaftlerin regelmäßig zu einem Thema der Weltliteratur. Es gibt auch eine Strickgruppe, die sich regelmäßig in der Bibliothek trifft.
Bemerkenswert ist es, dass im November im Ausstellungsraum ein Ball ausgerichtet wird, der durchschnittlich 350 Teilnehmer anzieht. Insgesamt arrangiert die Bibliothek 40 bis 50 Veranstaltungen pro Monat für die Öffentlichkeit. Bücher können entweder an einem Selbstverbuchungsautomaten oder mithilfe des Personals an der Theke ausgeliehen werden. 30 bis 40 Prozent der Ausleihen finden an der Theke statt.
»Umso wichtiger ist es, dem fachlichen internationalen Austausch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, denn es profitieren sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer davon.«
Obwohl das Gebäude mittlerweile 20 Jahre alt ist, vermittelt die Bibliothek ein Gefühl von Weite und Großzügigkeit. Der Eingang sowie auch das Gebäude an sich sind barrierefrei zugänglich. Die Technik ist modern und zeitgemäß. Am besten ist die Atmosphäre in der Regionalbibliothek wohl mit dem Wort »Wertschätzung« umschrieben: Wertschätzung gegenüber dem Nutzer, dem Gebäude – und gegenüber dem Buch.
Nicht zuletzt wurde auch unserer Reisegruppe eine ungewöhnliche Wertschätzung entgegengebracht: Die Bibliotheksleiterin, Dr. Dana Petrýdesová, führte uns persönlich mit einer Kollegin durch die Räume. Die beiden Bibliothekarinnen wechselten sich im Dialog mit Deutsch und Englisch ab. Durch den straffen Zeitplan der Reisegruppe und der vorherigen Verspätung durch den Straßenverkehr begann die Führung eine halbe Stunde später als ursprünglich geplant. Dana Petrýdesová hatte bereits Dienstschluss, aber nahm sich die Zeit und empfing die Reisegruppe sehr herzlich.
Viele von uns aus der Reisegruppe hatten nicht gedacht, dass sie die Kriterien erfüllen, um auf die Studienreise mitfahren zu können. Umso wichtiger ist es, die Kolleginnen und Kollegen im eigenen Betrieb zu ermutigen, sich auf solche Angebote zu bewerben. Die Möglichkeit, an einer Studienreise teilzunehmen, eröffnet neue Wege und lebt vom interkulturellen Austausch – wie bereits oben beschrieben, war es eine sehr intensive und prägende Woche. Es gab genug Raum für fachlichen Diskurs miteinander und die eine oder andere neue Freundschaft wurde geschlossen. Es ist wichtig, dem fachlichen internationalen Austausch mehr Aufmerksamkeit zu schenken, denn es profitieren sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer davon. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an das Team vom BII für die Organisation und allen Beteiligten, die uns als Reisegruppe in der Woche zur Seite standen und uns unterstützt haben.
Tschechien, das Land hinter der deutschen Grenze, hat die Reisegruppe durch sein Engagement und die Kreativität in der Bibliothekswelt erstaunt. Betrachtet man den Kontext mit den historischen Hintergründen, so hat sich definitiv einiges getan.
Dorothee Hanke (Foto privat) studierte Mediävistik, Historische Hilfswissenschaften, Theologie und European Studies an den Universitäten Freiburg, Aarhus und Frankfurt (Oder). An der FH Potsdam erwarb sie einen Abschluss als Wissenschaftliche Dokumentarin. Nach beruflichen Stationen an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Deutschen Institut für Urbanistik arbeitet sie seit 2019 in der Redaktion der Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft (BDSL), die an der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main angesiedelt ist.
Nastasja Wegner (Foto privat) beendete ihre Ausbildung zur Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste Fachrichtung Bibliothek in der Stadtbibliothek Bernau bei Berlin. Nach der erfolgreich absolvierten Ausbildung wechselte sie Anfang 2014 an die Hochschule Technik und Wirtschaft Berlin, wo sie bis heute tätig ist. Im Oktober 2019 schrieb sie sich zum Studium an der Humboldt Universität zu Berlin in dem Kombi-Bachelor Bibliotheks- und Informationsdienste ZF Skandinavistik ein. In Zukunft möchte sie als Bibliothekarin arbeiten und sich im internationalen Kontext bewegen.