Poesie und Gedichte erhalten den besten Platz

Eine kleine Dorfbibliothek in Norwegen zeigt, wie man mit kreativen Ideen Lyrik gezielt zum gefragten Genre machen kann.
Einladende Präsentation: Neue Gedichtbände und thematische Lyrik werden in der Bibliothek von Nissedal in Süd-Norwegen mit den Covern nach vorne aufgestellt, um den Besuchern einen Blickfang zu bieten und das Interesse an Poesie zu wecken. Fotos: Sigrid K. Nesland Vejen

 

Sowohl in Buchhandlungen als auch in Bibliotheken hört man oft, dass Lyrik nur schwer an den Leser zu bringen sei, dass niemand sich für Lyrik interessiere und schon gar nicht für zeitgenössische. Muss das so sein? Stimmen diese Aussagen überhaupt?

Nissedal ist eine kleine Gemeinde in Telemark, Süd-Norwegen. Die Gemeinde ist 905 Quadratkilometer groß und hat knapp 1 400 Einwohner. Die Bibliothek ist Öffentliche Bibliothek und Schulbibliothek zugleich. Die Bibliothek wird von mir, Sigrid K. Nesland Vejen, einer fachausgebildeten Bibliothekarin, in einer 50-Prozent-Stelle geleitet. Ich habe ein großes Interesse an Lyrik und wollte versuchen, dies kreativ umzusetzen.



Dank Fördermitteln von der Nationalbibliothek in Oslo konnte in den Jahren 2022 und 2023 das Projekt »Lyrikk til alle« (Lyrik für alle) durchgeführt werden. Vor dem Projekt lagen die Ausleihzahlen für Lyrik zwischen 50 und 60 Exemplaren im Jahr. 2022 lag die Zahl schon bei 236 und 2023 bei 265 Exemplaren. Insgesamt verzeichnet die Bibliothek pro Jahr circa 5.500 Ausleihen.

Der Warenhandel kennt das Geheimnis der gezielten Produktplatzierung. Warum glauben Buchhändler und Bibliothekare, dass die Leser Lyrik finden, wenn sie sie mehr oder weniger verstecken? Mein erstes Ziel war es also, der Lyrik den besten Platz zu geben. Wer zur Tür hereinkommt, sieht direkt auf die Regale, auf denen die Lyrik zu finden ist. Gezielt werden einige Bücher mit ihrer Vorderseite sichtbar aufgestellt. Es sind immer kleine Ausstellungen mit Blickfang. Es können neue Gedichtbände sein oder Lyrik zu einem bestimmten Thema oder die Lyrik eines bestimmten Autors. Immer liegen kleine Zettel mit Auszügen oder Zeilen von Gedichten zum Mitnehmen bereit. Je nach Jahreszeit oder Thema sind diese Zettel zum Beispiel als Herz ausgeschnitten oder als Laubblatt. Manchmal werden diese Zettelchen kombiniert mit Origami. Dies dient dann ebenfalls als Blickfang.

Bei Bücherausstellungen ist grundsätzlich immer Lyrik mit dabei. Egal ob das Thema »Vögel«, »Gartenarbeit«, »Adventszeit«, »Herbst« usw. ist, eine gezielte Kombination von Belletristik, Fachbüchern und Lyrik ergibt interessante Effekte, und viele Leser entdecken so Literatur, die ihnen sonst nicht aufgefallen wäre.

Wenn die Bibliothek an einem Samstag geöffnet ist (20 Samstage im Jahr, primär im Winterhalbjahr), findet um 12 Uhr »Dikt & Te« (Gedichte & Tee) statt. Es ist eine kleine Pause im Alltagsstress, in der zwei bis drei Gedichte vorgelesen werden. Die Bücher, aus denen die Gedichte stammen, liegen bereit. Manchmal sind es Gedichte zu einem Thema oder passend zur Jahreszeit, oder es sind Gedichte eines Dichters, auf den man aufmerksam machen möchte. Die Spannweite reicht von Shakespeare, Robert Frost, Jon Fosse und Ulla Hahn bis Nora Gomringer. Es ist ein gefragtes Angebot, und viele planen ihren Bibliotheksbesuch inzwischen so, dass sie an »Dikt & Te« teilnehmen können. 

Kreative Poesieveranstaltungen in der Bibliothek

Wir haben Autorenabende mit Dichtern und »Abende der Poesie« mit unterschiedlichen Themen veranstaltet. Ein Thema war zum Beispiel »Die Biene in der Lyrik«. Es wurden Gedichte von Carol Ann Duffy und Emily Dickinson vorgelesen. Dazu wurde Wissenswertes über die Biene und ihre Bedeutung in unserer Gesellschaft vermittelt. Außerdem gab es Honigkuchen und Tee mit einer Auswahl an Honig. Wer Lust hatte, konnte Kerzen aus Bienenwachs basteln. Zum gruseligen Edgar-Allan-Poe-Abend hatte ich mich als der Geist von Poe verkleidet. Es gab kleine Kuchen, die aussahen wie Fledermäuse, und Gedichte wurden im Original und in Übersetzung vorgelesen.



Am Abend, an dem man mehr über die Dichterin Emily Dickinson erfahren konnte, wurde über ihr Leben erzählt und es wurden Gedichte vorgelesen. Das Motto des Abends war einem ihrer bekannten Gedichte entnommen: »Hope is the thing with feathers«. Wer wollte, konnte ein kleines Nest aus Holz und Zweigen basteln und es mit Federn ausschmücken, dazu kam das genannte Gedicht auf schönem Papier in jedes Nest. Ein Abend, der sehr positive Rückmeldungen bekam und zu einem großen Interesse an Emily Dickinson führte.

Einen spielerischen Umgang mit Lyrik bietet die Methode »Blackout-Poetry«. Kurz gesagt handelt es sich hierbei um kreatives Spielen mit Text. Der Name deutet es bereits an, in einem existierenden Text streicht man alles aus, außer einige Wörter, die einen neuen Satz oder sogar ein kleines Gedicht ergeben. Oft illustriert man die Arbeit zusätzlich, entweder ganz nüchtern oder man macht ein kleines Kunstwerk. Es ist eine ganz persönliche Erfahrung. Wenn man den gleichen Text einer Gruppe gibt, entstehen sehr unterschiedliche Blackout-Poetrys. Diese Methode haben wir Schülern in Zusammenarbeit mit ihren Lehrern angeboten. Wir hatten auch Workshops primär für Erwachsene veranstaltet. Ein großer Erfolg – und diese Methode zeigt das Spielerische an der Lyrik ganz besonders.

Mit dem Poesistien (Poesieweg) ist ein kleiner Traum in Erfüllung gegangen. Der Traum war, die Lyrik nicht nur aus den Regalen zu holen, sondern sie auch außerhalb der Bibliothek, an Orten, an denen man sie nicht erwartet, zu präsentieren. Der Poesieweg ist ein kleiner Teil eines längeren Geh- und Fahrradweges. Dieser Teil des Weges ist altersfreundlich gestaltet, leicht zu gehen und hat viele Bänke. Als ich das erste Mal von der Idee mit den Bänken hörte, kam die Idee, kleine Schilder mit Gedichten an den Bänken zu montieren. Die Kriterien waren, dass es Gedichte von einem neuen Dichter bzw. einer neuen Dichterin und dass es kurze Naturgedichte sein sollten, Gedichte, die Jung und Alt begeistern können – und die auch in kleinen Ausschnitten funktionieren. Die Wahl fiel auf die norwegische Lyrikerin Ruth Lillegraven. Es war eine sehr gute und konstruktive Zusammenarbeit mit ihr. Sie kam sogar zur Eröffnung des Poesiewegs. Mehrere Personen, die diesen Weg gegangen sind, fanden die Gedichte so gut, dass sie in die Bibliothek kamen, um die Bücher zu lesen. Damit hatten wir unser Ziel erreicht, Lyrik ist ein selbstverständlicher Teil des Alltagslebens bei vielen Einwohnern geworden. Mit Lust und Kreativität lässt sich viel bewegen, auch mit kleinen Maßnahmen.

Sigrid K. Nesland Vejen wurde 1976 in Stavanger geboren. Sie erwarb 1998 ihren Bachelor in Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Oslo. Im Jahr 2021 schloss sie ihre Masterarbeit über das Potenzial von Lyrik im Fremdsprachenunterricht in Norwegen ab, in Zusammenarbeit mit der Hochschule Østfold, der Universität Göteborg und der Linnaeus Universität. Seit 2014 leitet sie die Bibliothek in Nissedal, nachdem sie zuvor als Leiterin der Bibliotheken in Åmli, Lardal und Lillehammer tätig war. Im Jahr 2021 gründete sie ihre eigene Firma »Lyrikk Vejen«. – Kontakt: sigrid.nesland.vejen@nissedal.kommune.no

Weitere Beiträge zu Lyrik und Literatur sind im Themen-Schwerpunkt zur Frankfurter Buchmesse der kommenden Oktober-Ausgabe von BuB zu finden. Sie erscheint am 11. Oktober.

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