Mit Kinderbüchern Brücken bauen und Welten erschließen

Ein Blick auf das literaturpädagogische Programm der Internationalen Jugendbibliothek, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert.
Es geht um die Kinder: Die Kinderbuchausleihe der Internationalen Jugendbibliothek in München wurde am 22. März 2024 feierlich wiedereröffnet. Foto: Internationale Jugendbibliothek
Es geht um die Kinder: Die Kinderbuchausleihe der Internationalen Jugendbibliothek in München wurde am 22. März 2024 feierlich wiedereröffnet. Fotos: Internationale Jugendbibliothek

 

Bücher öffnen Fenster zur Welt, erweitern Horizonte und nähren die Fantasie. Sie sind unverzichtbar für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Diese Überzeugung trieb Jella Lepman an, als sie 1949 in München die Internationale Jugendbibliothek (IJB) gründete – eine einzigartige Institution, die sich dem Sammeln und Bewahren von Kinderliteratur aus aller Welt widmet.75 Jahre später ist die IJB zur größten Spezialbibliothek für internationale Kinder- und Jugendliteratur weltweit gewachsen. Mit innovativen Vermittlungskonzepten wie Lesungen, Workshops und interaktiven Formaten setzt sie sich dafür ein, junge Menschen für Literatur zu begeistern und kulturelle Brücken zu bauen. Dabei bleibt sie ihrem Gründungsgedanken treu: Durch Bücher Verständigung zu fördern und eine friedlichere Welt zu gestalten.

»Ohne Bücher bleibt die Welt eng. […] Wir brauchen viele Bücher, viele, viele, verschiedene Bücher. Viele kleine Gucklöcher in der Wand, die zwischen uns und der oft so unverständlichen Welt steht«, schrieb die deutsche Jugendbuchautorin Mirjam Pressler. Die Welt in Büchern kennenlernen und besser verstehen, sich lesend auf eine Reise der Fantasie zu begeben und dabei die eigene Welt für ein paar Stunden zu verlassen, das könnte man als Leseglück bezeichnen. Lesen macht aber nicht nur glücklich. Es bildet auch, erweitert den Horizont, kann Sehnsüchte wecken und Undenkbares denkbar machen. Bereits die große Kinderbuchautorin Astrid Lindgren erkannte: »Alles Große, das auf der Welt geschehen ist, geschah zuerst in der Fantasie irgendeines Menschen, und wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt zu einem Großteil von dem Maß an Vorstellungskraft derer ab, die heute lesen lernen. Deshalb brauchen Kinder Bücher.«



Auch die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek (IJB) Jella Lepman war davon überzeugt, dass Kinder Bücher brauchen. Bücher, mit denen sie die Welt erkunden und mit denen sie eine bessere Welt aufbauen sollten. Unter dem Motto »Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel« errichtete sie 1949 in München die erste Bibliothek, die sich dem Sammeln von Kinderbüchern aus aller Welt als Teil des Kulturerbes widmete. Jella Lepman gründete diese Bibliothek im Geiste der Völkerverständigung. Sie hatte als verfolgte deutsche Jüdin die NS-Zeit im Exil in London überlebt und wollte mit ihrem Bibliotheksprojekt ein Zeichen setzen. Mit Kinderbüchern sollten Brücken in die Welt geschlagen und neue kulturelle Horizonte erschlossen werden. Sie war davon überzeugt, dass nur die nachwachsende Generation nach den Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs eine friedliche und freie Weltordnung aufbauen könne. Kinder und Jugendliche waren die Hoffnungsträger einer besseren Zukunft. Büchern kam in diesem Konzept eine tragende Rolle zu. Kinder- und Jugendbücher sollten in Jella Lepmans Vorstellung lesenden Kindern gleichsam ein Fenster in die Welt öffnen, Mauern und Grenzen überwinden, die Fantasie anregen und ein Bewusstsein für Frieden, Humanität und Toleranz fördern.

Es wundert nicht, dass eine mit solchen Überzeugungen gegründete Bibliothek von Anfang an ein besonderer Bücherort war. Mit erstaunlicher Großzügigkeit wurden Kinder und Jugendliche in die Gestaltung des Hauses eingebunden. Demokratische Mitsprache und ein fortschrittlicher Begriff von Literaturvermittlung leiteten die Bibliotheksarbeit. Die Devise der Gründerin lautete: »Nicht die Bücher, sondern die Kinder sollen die Hauptsache dieser Bibliothek sein.« Sie wurden zur Mitarbeit und Mitgestaltung des Hauses ermutigt. Es gab ein Jugendkomitee, das die Interessen der Bibliothekskinder vertrat. In Buchbesprechungsgruppen diskutierten junge Leserinnen und Leser über aktuelle Kinder- und Jugendbücher und schrieben Buchkritiken, die die Bibliothek an die Verlage weiterschickte. Kinderbuchautorinnen und -autoren wurden eingeladen und kritisch interviewt. Eine Jugend-UN diskutierte über Kinderrechte und das Schulsystem. Nach dem Vorbild der kunstpädagogischen Abteilung des New Yorker Museums of Modern Art wurde in der Bibliothek ein Malstudio eingerichtet, in dem Kinder von einem Künstler angeleitet wurden, frei an Staffeleien zu malen und ihre kreativen Kräfte freizusetzen.



Fortschrittlich waren auch die Bemühungen um Eltern und Erzieher, die zu pädagogischen Vorträgen und Diskussionen eingeladen wurden. 1951 organisierte Jella Lepman den Kongress »International Understanding through Children’s Books«, an dem mehr als 200 Kinderbuchexperten, Pädagogen, Autoren, Verleger, Journalisten, Buchhändler und Bibliothekare aus etlichen Ländern teilnahmen. Auch diese internationale Veranstaltung zur Kinderliteratur war eine Pionierleistung. Man spürte auf dem Kongress erstmals die Kraft und Bedeutung internationaler Kooperation für die Förderung und Verbreitung guter Jugendliteratur und einer weltumspannenden Friedensutopie.

Mit visionärer Weitsicht, Idealismus, der Hoffnung auf eine bessere friedlichere Welt und einem willensstarken Durchsetzungsvermögen legte Jella Lepman innerhalb weniger Jahre die Grundlage für eine internationale Kinderliteratur. Räumliches Zentrum dieser modernen internationalen Jugendliteratur sollte die IJB in München sein.

Das aktuelle literaturpädagogische Verständnis der Internationalen Jugendbibliothek

Seitdem sind 75 Jahre vergangen. Die IJB ist gewachsen, zog vor 40 Jahren in das spätmittelalterliche Schloss Blutenburg um und ist heute die größte Spezialbibliothek für internationale Kinder- und Jugendliteratur weltweit mit einem Bestand von mehr als 670 000 Büchern in 250 Sprachen aus fünf Jahrhunderten. Sie gibt Kinder- und Jugendbüchern in den originalen Sprachen und Dialekten aller Länder und Volksgruppen ein dauerhaftes Zuhause. Das Sammeln und Bewahren internationaler Kinder- und Jugendliteratur ist das Fundament für alle Aktivitäten, mit denen die IJB in die Öffentlichkeit hineinwirkt, um sich als Anwältin des Lesens für hochwertiger Literatur für junge Menschen einzusetzen. Sie versteht sich als Zentrum der Literaturvermittlung, als ein Ort des Austausches und des interkulturellen Gesprächs über Kinder- und Jugendliteratur.

Wie dieses Verständnis im Einzelnen ausgestaltet und mit welchen Projekten es umgesetzt wird, soll anhand einiger Beispiele aus der aktuellen Bibliotheksarbeit gezeigt werden. Dieser liegt folgender, weit gefasster Begriff von bibliothekarischer Literaturpädagogik zugrunde: Kinder- und Jugendbücher sind Leitmedien für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Lesen fördert Empathie, Fantasie und Konzentration und erlaubt die Erprobung eigener Welt- und Selbstentwürfe. Die Lektüre von Romanen, Erzählungen und anderer literarischer Texte vertieft die Erlebnisfähigkeit, erweitert das Wahrnehmungsvermögen und schult das Denken. Lesen ist weit mehr als eine Kompetenz, sondern bringt Kindern und Jugendlichen die Welt in ihrer Komplexität näher. In diesem Sinne wollen die literaturpädagogischen Projekte der IJB Horizonte weiten und kulturelle Orientierung geben. Dabei steht nicht das Lernen, sondern die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund.



Mit diesem Ansatz führt die IJB ein breites Angebot von Veranstaltungen, Lesungen, Bildungsprojekten, Workshops und Bücherclubs durch, um internationale Kinder- und Jugendliteratur aus Gegenwart und Vergangenheit jungen Menschen näherzubringen. Der Zusammenarbeit mit Schulen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, weil die Bibliothek mit ihren Schulklassenprogrammen Kinder und Jugendlichen aus allen sozialen Milieus erreicht. Sie sollen ohne Druck und ohne schulische Lernvorgaben für das Abenteuer Lesen gewonnen werden. Laufend entwickelt ein Team von Literatur-, Kunst- und Museumspädagoginnen und -pädagogen neue Ideen für Workshops und Projekte, die eine kreative Auseinandersetzung mit Sprache, Illustration und literarischen Texten anregen.

 

Der gesamte Artikel über die Internationale Jugendbibliothek (IJB) in München und ihr breites Veranstaltungsangebot ist in der BuB-Oktoberausgabe zu lesen, die am 11. Oktober erscheint.

Dr. Christiane Raabe ist Direktorin und geschäftsführender Vorstand der Stiftung Internationale Jugendbibliothek, Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft der Freunde der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Bayern, Vorsitzende der Binette-Schroeder-Stiftung, Vorsitzende der Ellis-Kaut-Stiftung, Vorsitzende des Beirats des Goethe-Instituts für den Bereich Literatur und Übersetzung (2016-2022), Beiratsmitglied des Zentrums für Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für das Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendbuchforschung. Außerdem ist sie Mitglied in mehreren Literaturjurys: Erich Kästner Preis, James Krüss Preis und »Die besten 7 Bücher für junge Leser« des Deutschlandfunks. Für ihr Engagement wurde sie 2014 mit der »Europamedaille« des Freistaats Bayern für besondere Verdienste um Bayern in einem vereinten Europa ausgezeichnet und erhielt 2024 den Bayerischen Verdienstorden. Foto: Wolfgang Schmidt

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