Von den Anfängen bis zur Idee eines nationalen Bibliotheksentwicklungsplans: Ein Überblick über das öffentliche Bibliothekswesen in Österreich.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist die österreichische Bibliotheksgeschichte vor allem von prächtigen Kloster- und Adelsbibliotheken sowie von Universitätsbibliotheken geprägt. Als Beispiel seien hier die bis ins Mittelalter zurückreichende Bibliothek des Stifts Klosterneuburg, die 1776 fertiggestellte Bibliothek des Stifts Admont, die ebenfalls bis ins Mittelalter zurückreichende und 1777 aus Beständen der Hofbibliothek neu als »Akademische Bibliothek« gegründete Universitätsbibliothek Wien und die heute als Österreichische Nationalbibliothek geführte ehemalige kaiserliche Hofbibliothek in Wien.
Das Interesse breiter Bevölkerungsschichten an Berichten über Entdeckungsreisen und Expeditionen in ferne Länder, über politische Ereignisse wie der Amerikanischen und dann vor allem der Französischen Revolution führte im 18. Jahrhundert zur Gründung von Einrichtungen, in denen man Bücher lesen und auch ausleihen konnte. Bereits 1740 gab es eine Leihbibliothek am Wiener Bauernmarkt1 und in seiner berühmten »Topographie von Wien« aus dem Jahr 1794 widmet Ignaz de Luca [1746-1799] den öffentlichen Leseanstalten eine eigene Rubrik: »Leseanstalten: öffentliche, deren gibt es jetzt viele in Wien. Ich verstehe darunter jene Büchergewölber [sic!], in welchen man in jeder Stunde des Tages Bücher zum Lesen ausleiht. Man kann sich gegen eine bestimmte Einlage auf ein ganzes Jahr pränumerieren, auch täglich bezahlen. Ein dergleichen Gewölb befindet sich in der Rauhensteingasse Nr. 971, in der Goldschmiedegasse Nr. 540, am St. Stephanskirchhof im Zwettelhof im Binzischen Buchgewölbe etc.« [Ignaz de Luca: Topographie von Wien, I. Bd., Wien 1794]
Für die Gründung von Öffentlichen Bibliotheken im heutigen Verständnis ist das »Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder« von herausragender Bedeutung, da hier im Artikel 12 festgeschrieben ist, dass die österreichischen Staatsbürger das Recht haben, sich zu versammeln und Vereine zu bilden.
In Kombination mit dem kurz vorher am 15. November 1867 erlassenen Gesetz über das Vereinsrecht, bildete dieses Staatsgrundgesetz die Grundlage für die Gründung von »Volksbildungsvereinen«. Diese veranstalteten für ein breites, nicht akademisches Publikum (populär-) wissenschaftliche Vorträge und gründeten und betrieben in städtischen Ballungszentren frei zugängliche Volksbüchereien. Starken Auftrieb bekam diese Bewegung mit den nach dem Vorbild des angloamerikanischen »University Extension Movement« begründeten volkstümlichen Hochschulkursen, den Vorläufern der noch heute bestehenden Volkshochschulkursen.
Diese Volksbildungsvereine öffneten in den größeren Städten wie Wien und Graz und nach und nach in ganz Österreich Bibliotheken. Das waren im Wesentlichen der bürgerlich-liberal ausgerichtete Volksbildungsverein mit seinen Volksbibliotheken, von dem sich später in Wien der bedeutende »Verein Centralbibliothek« abspaltete, die Arbeiterbildungsvereine mit den Arbeiterbüchereien und der katholische »Verein Vorlesehalle«, aus dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts der katholische »Bibliotheks- und Leseverein« entstand.
Gravierende Auswirkungen auf das österreichische Büchereiwesen hatten die bürgerkriegsähnlichen Ereignisse des Jahres 1934, die zu einer Zerschlagung der Sozialdemokratie und der Etablierung des autoritären Ständestaats führten. Damit ging eine massive »Säuberung« des Bücherbestands – vor allem der Arbeiterbüchereien – einher, im Zuge derer jedwedes fortschrittliche Schriftgut ausgeschieden wurde.
1936 kam es zu einer ersten Kommunalisierung der Volksbüchereien. Nach dem sogenannten Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland 1938 wurde dann das bisherige Büchereiwesen vollständig zerschlagen, die Vereinsbüchereien wurden aufgelöst, die katholischen Büchereien wurden auf eine ausschließlich kirchliche Wirksamkeit beschränkt, die kommunalen Bibliotheken wurden nach der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichtet und den 1937 erlassenen Richtlinien für das Volksbüchereiwesen unterworfen. Es kam zur Gründung neuer meist sehr kleiner Büchereien, die wie alle bereits bestehenden Stadt- und Gemeindebüchereien unter staatlicher Verwaltung standen.
Pfarrbüchereien wurden wie die Vereinsbüchereien aufgelöst und die Bestände nach vorheriger Säuberung neu geschaffenen Stadt- und Gemeindebüchereien übergeben.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs verblieben die Büchereien im Regelfall unter kommunaler Trägerschaft, da die Volksbildungsvereine, die die Büchereien vor der zwangsweisen Kommunalisierung betrieben hatten, finanziell außerstande waren, die Büchereien zu führen.
Nach 1945 wurden die von den Nationalsozialisten in den einzelnen »Gauen« eingerichteten Reichsbüchereistellen von der Republik Österreich übernommen und den in den Bundesländerverwaltungen eingerichteten Volksbildungsreferaten zugeordnet. Verantwortlich waren diese bis 2003 bestehenden Volksbüchereistellen für Beratung der Büchereien und die Veranstaltung von Schulungskursen. Nach deren Auflösung 2003 wurden die Aufgaben vom Büchereiverband Österreichs übernommen.
Dieser wurde auf Anregung des Bundesministeriums für Unterricht am 1. Juni 1948 als »Verband Österreichischer Volksbüchereien« gegründet. Ordentliche Mitglieder konnten anfänglich alle juristischen Personen werden, die Erhalter oder Eigentümer von Volksbüchereien waren und deren Büchereien einen Mindestbuchbestand von 250 Exemplaren aufwiesen. 1988 wurde der Name auf Büchereiverband Österreichs (BVÖ) geändert.
Neben dem Büchereiverband Österreichs existieren in Österreich gesonderte Interessenvertretungen für Büchereien unter kirchlicher Trägerschaft (Bibliothekswerk) und für betriebliche und gewerkschaftliche Büchereien (Büchereiservice des Österreichischen Gewerkschaftsbundes).
Das österreichische öffentliche Bibliothekswesen in Zahlen
Stand 2021 gibt es in Österreich 1.358 Öffentliche Bibliotheken. Diese Zahl beinhaltet Zweigstellen und Sonderbibliotheken (in der untenstehenden Statistik als SB bezeichnet). Sonderbibliotheken sind beispielsweise mobile Bibliotheken und Bibliotheken in Krankenhäusern oder Justizvollzugsanstalten.
Das österreichische öffentliche Bibliothekssystem wird stark von ehrenamtlichem Engagement getragen, so stehen aktuell um die 8.600 ehrenamtlich Tätige knapp 900 hauptberuflichen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren sowie 740 Personen, bei denen die Betreuung der Gemeinde- oder Stadtbibliothek nur einen Teil der Beschäftigung ausmacht, gegenüber (siehe hierzu Abbildung 1).
Die Einschränkungen in der Zeit der Corona-Pandemie hatten auch gravierende Auswirkungen auf die Öffentlichen Bibliotheken. Vor allem im ersten Pandemiejahr 2020 waren durch die Betretungsverbote starke Rückgänge bei den Entlehnzahlen zu vermerken. 2021 haben sich durch die Möglichkeit der Abholung und der Auslieferung vorbestellter Medien die Entlehnzahlen merklich erhöht, allerdings bis dato noch nicht auf das Vor-Corona-Niveau.
Trägerschaft und Finanzierung Öffentlicher Bibliotheken in Österreich
Träger Öffentlicher Bibliotheken sind zum größten Teil juristische Personen öffentlichen Rechts: In den allermeisten Fällen sind dies Gemeinden2. Träger können aber auch juristische Personen des Privatrechts, wie beispielsweise Vereine, sein. Darüber hinaus können auch gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften als juristische Personen öffentlichen Rechts Träger von Bibliotheken sein.3
Im Jahr 2021 stellt sich die Trägerstruktur der Öffentlichen Bibliotheken Österreichs folgendermaßen dar:
49,4 Prozent der Öffentlichen Bibliotheken stehen unter ausschließlicher Trägerschaft einer Gebietskörperschaft (insgesamt 671 Bibliotheken, davon 656 unter alleiniger Trägerschaft einer Gemeinde). 213 Bibliotheken (beziehungsweise 15,7 Prozent) befinden sich unter ausschließlicher kirchlicher Trägerschaft. Eine kooperative Trägerschaft besitzen 364 Bibliotheken (bzw. 26,8 Prozent). Die übrigen 110 Bibliotheken (bzw. 8,1 Prozent) haben eine andere Trägerschaft (Vereine, Arbeiterkammer, et cetera).
Die Finanzierung der elementaren Bereiche von Öffentlichen Bibliotheken wie Personal, Raum, Energie und Medien erfolgt im Regelfall aus Mitteln des jeweiligen Trägers. Die Aufwendungen dafür sind gegliedert nach Trägertypen in Abbildung 2 dargestellt (Stand 2021)4.
Durchaus substanzielle Förderungen für den Ankauf von Medien sowie die Durchführung von Veranstaltungen und Projekten werden von Bund, Ländern, unterschiedlichen Einrichtungen (wie zum Beispiel dem ÖGB) sowie vielen Gemeinden für in ihrem Gemeindegebiet befindliche Bibliotheken unter nichtkommunaler Trägerschaft (zum Beispiel Pfarr- oder Vereinsbibliotheken) bereitgestellt, wie in Abbildung 3 zu sehen ist. In Summe stehen dem österreichischen öffentlichen Bibliothekswesen somit jährlich 67.381.681,19 Euro zur Verfügung. Dies entspricht in etwa 7,50 Euro pro Einwohnerin beziehungsweise Einwohner.
Auf Grundlage dieses Gesetzes wird nicht nur der Büchereiverband Österreichs von dem jeweiligen für das Büchereiwesen zuständige Ministerium (derzeit ist das das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport – BMKÖS) gefördert, sondern es werden die Öffentlichen Bibliotheken auch über eine Büchereiförderung des Bundes direkt gefördert.
Diese vom Büchereiverband Österreichs abgewickelte Förderung umfasst drei Bereiche:
Eine Förderung des Ankaufs von Medien, die beim Erreichen von genau definierten Kennzahlen zuerkannt wird. Die Förderung bewegt sich abhängig von der Anzahl der förderungswürdigen Bibliotheken und der Größe der Gemeinde, in der sich die Bibliothek befindet, zwischen 600 und 4.200 Euro. Aktuell erfüllen circa 400 Bibliotheken die Förderkriterien. Bei Nichterreichen der Kriterien kann ein Förderansuchen mit Begründung der Nichterreichung abgegeben werden, über das dann ein eigener unabhängiger Büchereibeirat befindet.
Dieser von Ministerium und Büchereiverband einberufene Beirat entscheidet auch über die Vergabe von Projektförderungen. Öffentliche Bibliotheken können aktuell hier eine Förderung für Projekte aus dem Bereich der analogen und/oder digitalen Leseförderung beantragen.
Dritte Schiene der Büchereiförderung des Bundes ist eine Förderung von literarischen Veranstaltungen in den Bibliotheken. Von einer Jury ausgewählte Autorinnen und Autoren mit aktuellen Veröffentlichungen können hier für subventionierte Lesungen gebucht werden.
Aus- und Fortbildung im österreichischen Büchereiwesen
Gesetzliche Grundlage der bibliothekarischen Ausbildung im Bereich des öffentlichen Bibliothekswesens bildet wie bereits angeführt das Bundesgesetz über die »Förderung der Erwachsenenbildung und des Volksbüchereiwesens aus Bundesmitteln«, in dem gemäß Paragraf 2 Absatz 1 die »Aus- und Fortbildung von Volksbibliothekaren« als »förderungswürdige Aufgabe« angeführt wird.
Das ermöglicht eine vollumfängliche bundesseitige Finanzierung der Ausbildungslehrgänge und Fortbildungsveranstaltungen für an Öffentlichen Bibliotheken – und zwar sowohl für hauptberuflich als auch für ehrenamtlich – tätige Bibliothekarinnen und Bibliothekare.
Seit einer wissenschaftlich begleiteten, grundlegenden Umgestaltung der Lehrpläne im Jahr 2016, sind die Kurse für hauptberuflich tätige Bibliothekarinnen und Bibliothekare modular aufgebaut und vermitteln in insgesamt fünf Kurswochen, die in einem Zeitraum von 18 Monaten abgehalten werden, die grundlegenden Fertigkeiten für die bibliothekarische Praxis. Im Anschluss an den Grundlehrgang sind vertiefende Fortbildungsveranstaltungen zu besuchen. Diese werden ebenfalls vom Büchereiverband Österreichs organisiert und wie die meisten bibliothekarischen Aus- und Fortbildungsveranstaltungen am Bundesinstitut für Erwachsenenbildung St. Wolfgang abgehalten.
Das österreichische öffentliche Bibliothekswesen ist wie bereits erwähnt in einem außergewöhnlich hohen Ausmaß von ehrenamtlicher Arbeit geprägt. Rund 80 Prozent der Öffentlichen Bibliotheken sind ehrenamtlich organisiert.
Nach Ansicht des Büchereiverbandes Österreichs und auch des für das öffentliche Bibliothekswesen zuständigen Ministeriums ist zur Gewährleistung einer qualitätsvollen Bibliotheksarbeit in Österreich eine bestmögliche Professionalisierung gerade der ehrenamtlich tätigen Bibliotheksmitarbeiterinnen und -mitarbeiter notwendig. Die Ausbildung für ehrenamtlich Tätige ist mit insgesamt drei Wochen deutlich kürzer als jene für hauptberufliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare, was in erster Linie auf die eingeschränkten zeitlichen Kapazitäten der Teilnehmenden zurückzuführen ist, die diese Ausbildung in ihrer Freizeit zu besuchen und zu absolvieren haben.
Im Jahr 2018 wurde auch in diesem Ausbildungszweig unter internationaler wissenschaftlicher Begleitung der Lehrplan grundlegend überarbeitet und ebenfalls modular gestaltet. Durch diese Umgestaltung ist es nunmehr möglich, abgeschlossene Module für eine etwaige spätere Absolvierung des Lehrgangs für hauptamtliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare anrechnen zu können.
In der Ausbildung für ehrenamtlich Tätige ist das gemeinschaftliche Erarbeiten bibliothekarischer Inhalte die vorherrschende didaktische Methode. Ein Team von drei Vortragenden aus der bibliothekarischen Praxis betreut die Lehrgangsteilnehmenden durchgehend. Anders als in der Ausbildung für hauptberuflich tätige Bibliothekarinnen und Bibliothekare ist hier der Unterricht einzelner Fächer durch Fach-Expertinnen und -Experten die Ausnahme.
Durch die speziell am Zielpublikum und den Rahmenbedingungen Öffentlicher Bibliotheken orientierten Lehrgänge kann in intensiver und vergleichsweise kurzer Zeit ein bemerkenswert hoher Grad an Professionalisierung erzielt werden.
Dem hohen Wert und großen gesellschaftlichen Nutzen Öffentlicher Bibliotheken wird auch von der österreichischen Bundesregierung durch ein Bekenntnis zur Bedeutung Öffentlicher Bibliotheken im Regierungsprogramm 2020 bis 2024 Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang wurde 2021 der Büchereiverband Österreichs mit der Erarbeitung eines Vorschlags für einen österreichweiten Bibliotheksentwicklungsplan beauftragt, der Handlungsempfehlungen für ein zeitgemäßes und gesellschaftlich relevantes Bibliothekswesen geben soll.
[1] Dazu Richard Schmidt: Theorie der Leihbücherei: Ihr Wesen, ihre Geschichte, ihre Gestalt. Dortmund 1954, S. 80 und vor allem Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Wiesbaden 1990, S. 749ff. [2] Bundesseitig fungiert nur das Bundesministerium für Justiz als Träger Öffentlicher Bibliotheken und zwar für die 15 in Justizvollzugsanstalten befindlichen Gefängnisbibliotheken, die eine Sonderform Öffentlicher Bibliotheken darstellen. [3] Dazu ausführlich: Maximilian Kralik: Die Bibliothek aus rechtlichem Blickwinkel. In: Büchereiperspektiven 2/2020, S. 26f. [4] Nicht berücksichtigt sind hier die Kosten der E-Medienverbünde im Umfang von insgesamt 312.338,47 Euro, die im Wesentlichen von den Bundesländern getragen werden. [5] In dieser Summe sind neben der Büchereiförderung des Bundes auch nicht explizit für Bibliotheken konzipierte Förderungen enthalten, wie beispielsweise die Förderung in Österreich ansässiger Volksgruppen, die auch von öffentlichen Bibliotheken mit entsprechendem Angebot lukriert wurden.
Markus Feigl, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien mit Abschluss Mag. phil. Bibliothekarische Ausbildung an der Universitätsbibliothek Wien. Bibliothekarische Stationen waren die Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute Wienbibliothek im Rathaus), die bibliothekarische Leitung der Büchereien der Stadt Wien. Seit 2016 Geschäftsführer des Büchereiverbandes Österreichs. Lehrtätigkeit an den Universitätslehrgängen Library and Information Studies an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck. (Foto: Markus Feigl)