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»Wir Kopfaufräumer«

Philosophieren mit Kindern: In der Fahrbibliothek Berlin-Mitte finden »Kopfaufräumergespräche« statt und es wird über die »philosophische Monatsfrage« nachgedacht.
Schüler der Grundstufe der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule in Berlin Wedding beim gemeinsamen Lesen im Bücherbus Nummer Drei der Fahrbibliothek Berlin-Mitte. Foto: Stadtbibliothek Mitte

 

Der Bücherbus Nummer Drei fährt seit 15 Jahren täglich zu Grundschulen und Kitas. Seit 2009 moderiert Ines Lucht »Kopfaufräumergespräche« und bringt die »philosophische Monatsfrage« zu den Kindern. Was ist das Besondere an einer mobilen Bibliothek und weshalb ist diese die Grundlage für ein solches Projekt?

Die drei Bücherbusse der Stadtbibliothek Mitte von Berlin stehen in der Regel direkt auf dem Schulhof oder vor einer Kita. Somit ist die Teilhabe aller Kinder an der Fahrbibliothek, am Ausleihen von Medien, garantiert. Auch Kinder, die nicht in einer Familie aufwachsen, in der die Eltern sie an das Wunder »Bibliothek« heranführen, haben ganz leicht einen Zugang. Die Kinder müssen lediglich das von den Eltern ausgefüllte und unterschriebene Antragsformular im Bücherbus abgeben und schon kann es losgehen. Mit dieser kostenfreien Bibliothekskarte können sie auch in ihre Bibliothek um die Ecke gehen.

Warum ist nun ein Bücherbus Grundlage für das Projekt »Wir Kopfaufräumer«?

Der Fahrplan sieht vor, regelmäßig zu den Einrichtungen zu fahren. Keine Pädagogin, kein Pädagoge würde es zeitlich schaffen, so oft in die nächstliegende Öffentliche Bibliothek zu fahren. Der Bücherbus kommt zu den Kindern und eröffnet ihnen Möglichkeiten, denn das Kopfaufräumer-Angebot ist im Stundenplan der interessierten Lehrerinnen und Lehrer integriert.

Was heißt denn nun »Wir Kopfaufräumer« und warum blieb es nicht beim ursprünglichen Namen »Philosophieren mit Kindern«?

Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass die Kinder mit diesem Wort nichts anfangen können. Die Kinder sollten wissen, was sie tun, was sie erleben, auch um davon erzählen zu können. Der Anlass für den neuen Begriff lag eher im Umgang der Erwachsenen in den Kitas, die meinten, »dass einige Kinder besonders dafür geeignet wären, weil sie einen pfiffigen Eindruck machen«. Dieser elitäre Ansatz missfiel mir, denn alle Kinder stecken voller Fragen und Ideen, doch es sollte noch weitere acht Jahre dauern, bis ein Name gefunden war für das, was den Kindern und mir so viel Freude macht und Begeisterung verbreitet. Ab 2017 wurde der Name »Wir Kopfaufräumer« in Form der philosophischen Monatsfrage getestet, die groß in jedem Bücherbus aushängt und an der sich alle Kinder beteiligen konnten: »Was ist eigentlich ein Kopfaufräumer«?

Die Antworten der Kinder bestätigten, dass es der richtige Name war. Sie erklärten:

  • Das ist so, wie ein Staubsauger im Kopf, der nicht wie ein Staubsauger aussieht. Man lernt was Neues, dann wird das Alte rausgedrückt.

  • Es bedeutet für mich, dass man im Kopf rumwühlt und nachdenkt.

  • Kopfaufräumer hat was mit Philosophieren zu tun, denn man muss mit dem Kopf denken – wir zusammen.

  • Das ist, wenn man in seinem Kopf was sucht und danach kramt und dass man es dann weiß und einsortiert.

Mit den Kindern ein gutes Gespräch führen

Es geht darum, mit den Kindern ein gutes Gespräch zu führen. Wo und wann haben Kinder die Gelegenheit, sich mit Gleichaltrigen intensiv über ein Thema auszutauschen, verschiedene Blickwinkel zu hören, nachzufragen, zu widersprechen und dies mit Argumenten zu belegen? 

Zu Beginn singen alle den Philosophensong, der extra dafür gedichtet und komponiert wurde.

Als Einstieg gibt es immer ein Buch, ein Gedicht, manchmal ein Bild oder ein Lied und alles dreht sich um ein Thema oder eine Frage in der Hoffnung, dass es die Kinder interessiert. Doch vor allem muss es auch mich begeistern und neugierig machen: Was denken wohl die Kinder darüber?

Die Kindergartenkinder malen im Anschluss meistens ihre Gedanken zu der Frage auf und verbinden so ihre Gefühle mit der gehörten Geschichte. Kindergruppen, die durch eine Geschichte in ein Gespräch miteinander kommen, sich »denkend« auseinandersetzen, können sich am Jahresende, wenn alle Bücher noch einmal im Kreis vor ihnen liegen, besser erinnern als Kinder, die nicht zusammen den »Kopf aufgeräumt haben«.

Dieses Kopfaufräumen ist Sprachförderung pur, die Kinder lernen sich besser kennen und vor allem wird ihnen Kinderliteratur nahegebracht. Woher kommen nun all die Ideen, Fragen und Themen?

Zum einen natürlich von den Kindern: 

  • Gibt es wirklich nach dem Tod nichts oder?

  • Also ich hab mich gefragt, wo die Unendlichkeit endet, weil, eigentlich hat ja alles irgendwann mal ein Ende, das Leben?

  • Ich hab mich schon immer gefragt, was passiert nach dem Tod, weil, das weiß man ja nicht und wenn man tot ist, kann man das ja auch keinem mehr sagen?

  • Ich hab mich immer gefragt: Was bin ich und wer bin ich, weil das weiß ja auch niemand?

  • Ich hab mich gefragt, ob das Leben ein Traum ist, weil man hat ja auch manchmal so ein komisches Gefühl?

Kinder wünschen sich, über den Tod zu sprechen. Es ist überhaupt das Thema, das Kinder am meisten interessiert.

Fragen aus dem Alltag

Oder die Fragen begegnen mir irgendwo im Alltag und wenn dann in mir auftaucht: »Hm, was wohl die Kinder darüber denken, das würde ich gern herausfinden«, dann könnte beispielsweise eine neue philosophische Frage des Monats entstehen. So wie im Radio der Satz von Kurt Tucholsky erklang: »Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.« Das ist ja grandios. Was sagen wohl die Kinder dazu? So entstand die philosophische Monatsfrage: Ein Loch – welchen Sinn hat denn so etwas? Und überhaupt, was ist das eigentlich?«

Wenn man genau schaut, findet man wahrscheinlich in jedem Buch eine Assoziation mit einem Loch. Das Buch muss in jedem Fall eine gute Geschichte sein, die die Kinder berührt, begeistert, in Resonanz bringt und von der man selbst entzückt ist.

Das Bilderbuch »Frank und Bert« ist wunderbar zum Philosophieren über das Thema Freundschaft geeignet. Aber es ging ja um die Löcher. In dieser Geschichte kann Frank, der Fuchs, stricken, und wenn man ein Strickwerk genau betrachtet, sind da »Loch an Loch« und schon hatten wir nicht nur eine sehr vergnügliche Geschichte, sondern eben auch ein wunderbares Gespräch über Löcher.

Wie können Kinder angeregt werden, beispielsweise eine Definition zu formulieren? Ganz einfach, mit einem Gedankenexperiment:

»Stellt Euch vor, die Tür geht auf und herein kommt ein Marsmännchen. Es kann, ihr glaubt es nicht, unsere Sprache sprechen, aber es hat keine Ahnung, was ein Loch ist und sagt: »Liebe Kinder, bitte erklärt mir doch, was ist ein Loch?« Und schon geht es los...

  • Ein Loch ist eine Sache, die kaputt ist.

  • Ein Loch ist etwas, wo man reingehen kann, wie zum Beispiel eine Höhle, die ein Ende hat oder auch nicht.

  • Ein Nichts eigentlich.

  • Ein Loch ist ein Kreis oder ein Viereck, wenn da drin nichts ist.

Es gibt natürlich auch Situationen mit den Kindern, aus denen sich Themen ergeben, die man nicht überhören darf. Da war zum Beispiel in einer Kindergartengruppe die Frage, ob man Menschen einsperren dürfe, entwickelt aus dem Bilderbuch »Josef Schaf will auch einen Menschen« von Kirsten Boie und Philipp Waechter: Ein Mädchen antwortete: »Ja, Flüchtlinge, weil die nehmen uns alles weg.« Da saß ich nun und wusste, das muss aufgegriffen werden. In diesem Moment konnte ich nur sagen: »Darüber sprechen wir beim nächsten Mal.« 

Dann bin ich mit dem Buch »Akim rennt« – 2014 ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch – zu den Kindern gegangen. Zunächst fragte ich, was sie denn über die Geflüchteten wüssten und woher. Es schockierte mich, wie viele von diesen noch sehr kleinen Kindern ihre Informationen aus den Nachrichten für die Erwachsenen hatten. Anschließend fand das Gespräch unter den Kindern statt, wo die Dinge so gesagt wurden, dass die Kinder sie verstanden und emotional verkraften konnten. Es war eine berührende Stunde. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie zwei Mädchen dicht zusammenrückten und sich an den Händen hielten. Wie tröstlich, dass Akim seine Mutter wiederfand.

Das war eine der ganz wenigen Kopfaufräumerstunden, über die ich durch Zufall von einer Mutter eine Rückmeldung bekam. Wir kamen ins Gespräch, und sie berichtete voller Dankbarkeit, dass ihre Tochter zu Hause über diese ergreifende Geschichte erzählt hatte und die Eltern dieses schwere Thema so noch einmal aufgreifen und im vertrauten Kreis Fragen klären konnten.

Da dachte ich, mein Mut hat sich gelohnt, denn auch für mich war dieses Thema eine große Herausforderung.

Auch schwierige Themen ansprechen

Der große Vorteil einer mobilen Bibliothek ist die Regelmäßigkeit der Veranstaltungen! Ich kann es mir beispielsweise erlauben, ein neues Buch mit den Kindern auszuprobieren, mit dem ich noch keine Erfahrungen gesammelt habe. Es kann durchaus passieren, dass ich auf irgendeine Art und Weise von der Lektüre fasziniert bin, die Kinder jedoch gar nicht.

Wenn mir das passiert, lächle ich die Kinder an und sage: »Nächste Woche bringe ich Euch ein neues Buch mit und ganz bestimmt wird Euch das besser gefallen.«

Ganz besonders hilfreich ist es, wenn beim Kopfaufräumen eine gute Zusammenarbeit mit den Pädagoginnen und Pädagogen besteht. Es ist immer jemand von der Einrichtung dabei. Dann kann mit einem guten Gefühl gewagt werden, Schwieriges anzusprechen. Ich verlasse die Gruppe nach 45 Minuten, um mit dem Bücherbus an die nächste Schule zu fahren und manchmal ist es geradezu notwendig, dass verantwortliche Erwachsene Offenes aufgreifen.

So hat in einer 6. Klasse durch das Buch »Mein Sommer mit Mucks« von Stefanie Höfler ein Mädchen gewagt, von der häuslichen Gewalt durch den Vater zu sprechen. Die Lehrerin hat sich an das Jugendamt gewandt, welches sofort reagierte. Dem Mädchen wurde auch eine Schulpsychologin an die Seite gestellt. Die Auseinandersetzung mit Literatur kann bedeutungsvoll sein.

Seit 2008 fährt Ines Lucht mit dem Bücherbus zu Grundschulen und Kindergärten und durfte vielfältige literarische Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Kindern machen. Ein besonderes Augenmerk ist ihr Projekt »Wir Kopfaufräumer«. Seit 2009 stellt sie die philosophische Monatsfrage, die Kinder dazu einlädt, Denkwürdiges miteinander zu besprechen. Die Diplom-Bibliothekarin besuchte zahlreiche Fortbildungen, zum Beispiel bei der Akademie für Philosophische Bildung und WerteDialog, Kristina Calvert und Eva Zoller-Morf. Zudem praktiziert sie freies Erzählen von Märchen. Seit 2018 bietet sie mit dem Bilderbuchkaleidoskop Fortbildungen zu Bilderbüchern an. 2022 schloss sie die Jahresfortbildung »Schulfach Glück« mit einem Zertifikat ab. 

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