Volksbibliothekare im Nationalsozialismus: Handlungsspielräume, Kontinuitäten, Deutungsmuster. Herausgegeben von Sven Kuttner und Peter Vodosek. Wiesbaden: Harrassowitz 2017 (in Kommission). 324 Seiten: Illustrationen. (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens; 50) ISBN 978-3-447-10720-4; ISSN 0724-9586 – Festeinband, EUR 74, –.
Unübersehbar ist die Spur der Beschäftigung mit der Geschichte der öffentlichen Bibliotheken, die Peter Vodosek hinter sich herzieht und die mittlerweile vier oder fünf Jahrzehnte zurückreicht. Er hat geforscht und rezensiert und viele Texte und Kompilationen veröffentlicht. Auch andere haben wichtige und gewichtige Beiträge zur Thematik geliefert, es sei nur an Wolfgang Thauer, Margaret F. Stieg, Engelbrecht Boese erinnert.
Die Besonderheiten von Vodoseks Arbeit an der Geschichte der öffentlichen Bibliotheken aber sind, dass er immer wieder neue Themen und Aspekte aufgreift, darüber schreibt und so die Geschichte als vielfältiges und komplexes Geschehen darstellt, wobei das nicht nur für die Geschichte selbst, sondern ebenso für ihre Darstellung gilt. Noch prägnanter aber ist ein weiterer Aspekt: Ihm gelingt es immer wieder, Geschichtsforschung zusammenzufassen und zu bündeln, indem er das, was andere tun, aufgreift und andere, die noch nichts getan haben, aber durchaus etwas tun könnten, einlädt und animiert, die vor ihnen liegenden bibliothekshistorischen Besonderheiten zu eruieren und darüber zu schreiben.
Die Zusammenfassung dieser Aktivitäten und die Verankerung der Geschichte der öffentlichen Bibliotheken durch entsprechende Tagungen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte, sowie die Publikation der Resultate in der Reihe »Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens« bewirken einerseits so etwas wie eine Institutionalisierung der Bemühungen um die Geschichte der öffentlichen Bibliotheken und damit überhaupt erst eine Institutionalisierung der Geschichte der öffentlichen Bibliotheken, also einer Bewusstmachung davon, dass auch öffentliche Bibliotheken Geschichte haben (und das in einem reichlich ahistorischen beruflichen Umfeld); andererseits mehr und differenziertere Erforschung – und schließlich die Heraushebung entsprechender Aktivitäten aus lokaler Isoliertheit, wodurch überhaupt erst ein Transport in die (Fach-)Öffentlichkeit stattfindet.
Denn oft sind Jubiläen und andere lokale Ereignisse Anlässe für die Aufbereitung geschichtlicher Bibliotheksbesonderheiten, worüber gewöhnlich leider nur in einem lokalen Jahrbuch, einer örtlichen Zeitschrift oder auf der Stadtseite einer regionalen Zeitung veröffentlicht wird, Zusammenhänge mit entsprechenden Ereignissen anderswo nicht bewusst werden und eine breitere (Fach-)Öffentlichkeit uninformiert bleibt.
Der vorliegende Band (als Band 50 so etwas wie ein Jubiläumsband der Schriftenreihe) versammelt die Resultate der Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises, die vom 28. bis 30. September 2015 stattfand. Er ist typisch für die von Vodosek (und stets zusammen mit einem weiteren Herausgeber, im vorliegenden Band: Sven Kuttner) herausgegebenen Bände in der Reihe. Neben dem übergreifenden oder einführenden Aufsatz (hier vom Herausgeber selbst) folgt eine Anzahl von Aufsätzen, die sich mit der Thematik des Bandes beschäftigen (zehn biographische Arbeiten über Bibliotheksakteure der NS-Zeit), darunter stets zwei, die die Thematik für die beiden großen Kirchen beleuchten, sowie ein oder zwei, die Entsprechendes für Österreich tun (hier Aufsätze über Hans Ruppe und August Zöhrer).
»Der Verband Deutscher Volksbibliothekare wurde durch die praktische Angliederung der Bibliotheken an die Reichsschrifttumskammer aufgelöst.«
Und fast immer gibt es einen Aufsatz, der die Thematik für ein nicht-deutschsprachiges Nachbarland aufbereitet (hier: Ole Harbo: Öffentliche Bibliotheken und Besatzer in Dänemark). Dies ist im Buch der letzte Aufsatz, der wie ein Anhang wirkt, weil er – anders als die übrigen Aufsätze – kein biographischer ist. Der Autor schildert das Einwirken der Besatzungsmacht auf das Leben insgesamt, auf das Kulturleben und auf die Bibliotheken. Was er schildert, war wohl durchaus schlimm, doch er kommt zu dem Schluss, dass Dänemark unter den von Deutschland besetzten Ländern ein »Sonderfall« war, im Vergleich zu Norwegen etwa Kabaretttexte, Publikationen, Theateraufführungen nur gering zensiert wurden und die Reglementierung der Bibliotheken sich in Grenzen hielt. Seiner Meinung nach kam Dänemark »relativ glimpflich« davon, weil über das Land kriegswichtige Lieferungen Deutschland erreichen konnten. Und »nach dem ›Endsieg‹ hätte man die Verhältnisse immer noch ändern können«.
Drei Biografien reichsweiter Tätigkeit
Der Band enthält drei Aufsätze über Bibliothekare, die während des Dritten Reichs durch ihre reichsweite Tätigkeit im Bibliothekswesen bekannt wurden. Der Aufsatz über Wilhelm Schuster (Angela Graf: »Wer ein Deutscher ist, der folgt dem Ruf!« Wilhelm Schuster, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Volksbibliothekare) beschreibt einen stramm national-konservativen, völkisch und militaristisch gesinnten Menschen, der 1928 aus dem Konflikt zwischen »Stettinern« (Bibliothekare, die Erwin Ackerknecht folgen) und »Leipzigern« (Bibliothekare, die Walter Hofmann folgen) heraus zum 1. Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Volksbibliothekare (VDV) gewählt wurde.
Mit der »Machtergreifung« (Schuster trat sofort in die Partei ein) erkannte er es als Aufgabe des VDV, die Bibliotheken nach den Anforderungen der NS-Regierung auszurichten, entsprechend schwoll sein Wortschatz an: »nationalsozialistische Revolution«, »Führerprinzip« (war auf den Verband zu übertragen), »echtbürtiges Schrifttum«, »deutsche« Volksbüchereien, »Kampf gegen Literatentum und Asphaltliteratur«, »Befreiung von Überwucherungen der Allzuvielen« usw. 1938 löste sich der VDV anlässlich der Jahrestagung in Leipzig selbst auf; er musste sich auflösen, was damit begründet wurde, dass die praktische Angliederung der Bibliotheken an die Reichsschrifttumskammer bereits seit dem 1. Januar 1934 bestanden habe und diese durch Erlass vom 2. September 1938 auch juristisch vollzogen worden sei.
»Die herausragende organisatorische Leistung war die eine Seite, die selbstgewählte ideologische Verstrickung in das NS-Regime die andere.«
Franz Schriewer (Uwe Danker: Franz Schriewer: Volksbibliothekar, Referatsleiter der Reichsstelle, Grenzkämpfer. Biographische Erkundungen 1921-1959) erarbeitete als Grenzlandbibliothekar den »Büchereiorganismus« in Schleswig an der Grenze zu Dänemark. Über hundert Dorfbüchereien wurden ergänzt durch zehn Kleinstadt- und Stützpunktbüchereien und durch die übergeordnete Zentralbücherei und die Zentrale der »Nordmarkbüchereien« in Flensburg. Er entwarf den Schriewerschen Büchereischrank, normierte Prozeduren: Statistik, zentrale Anschaffungspolitik, Grundbestandslisten, Kataloge speziell für die Hand des Lesers. Als »Volkspädagoge« genügten ihm nicht quantitative Leistungen, so beachtlich sie auch waren, er wollte die »Lektüre der Menschen steuern und sie erziehen«.
Das von ihm aufgebaute Grenzbüchereiwesen war für die neuen Machthaber »hinreichend formiert«, es musste nicht gleichgeschaltet werden. Dennoch wurde Schuster von lokalen NS-Größen aus dem Amt schikaniert. Er erhielt zum 1. Januar 1934 ein adäquates Amt in Frankfurt/Oder. Obwohl er nicht der NSDAP beitrat, entsprachen seine Anschauungen dem neuen Regime. Immer wieder äußerte er sich regimekonform in der Fachöffentlichkeit und mischte eifrig mit beim »deutschen volksbibliothekarischen Aufbruch«. So war es nicht verwunderlich, dass er im Mai 1935 Leiter der »Preußischen Landesstelle für das volkstümliche Büchereiwesen« wurde, deren Aufgabenstellung gleichzeitig aufs ganze Reich ausgedehnt wurde und die ab September 1935 »Reichsstelle« hieß. Das war die Stellung, von der aus Schriewer sein Konzept des »Büchereiorganismus« zum Büchereiprogramm des Dritten Reichs »bis in alle Einzelheiten hinein« machte. Aber er stieß bald auf Grenzen. Die Großstadtbüchereien entzogen sich erfolgreich der »Schriewerschen Büchereidiktatur«.
[caption id="attachment_13116" align="alignleft" width="597"] Blick in die Lesehalle der Volksbibliothek und Lesehalle zu Charlottenburg, eröffnet 9. September 1901. Während des 2. Weltkriegs waren auch die damaligen Volksbibliothekare ein Spiegelbild ihrer Zeit: manche waren glühende Nationalsozialistischen, andere opportunistische Mitläufer und einige leisteten passiven Widerstand. Symbolfoto: Unknown, Volksbibliothek-Chbg-um-1900 754x556, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons[/caption]
Auch ein lange ersehntes Büchereigesetz kam nicht zustande, lediglich »Richtlinien für das Volksbüchereiwesen« in viel schwächerer Ausprägung. Wohl zum Jahreswechsel 1936/37 warf Schriewer hin und kehrte nach Frankfurt/Oder zurück. Ohne jede Zäsur kam er im August 1945 nach Flensburg zurück und erhielt dort sein 1933 verlassenes Amt zurück, unter anderem mit dem Auftrag, eine Säuberung von nationalsozialistischem Schrifttum durchzuführen. Wieder war er rastlos tätig, um noch einmal das Grenzbüchereiwesen in Schleswig zu etablieren, was ihm wieder »außerordentlich« gelang. Er wurde geehrt, 1953 erhielt er die Medaille der Universität Kiel und zum Eintritt in den Ruhestand 1959 das Bundesverdienstkreuz. Seine Rolle im Dritten Reich war ambivalent: Die herausragende organisatorische Leistung war die eine Seite, die selbstgewählte ideologische Verstrickung in der unmenschlichen Gewalttätigkeit des NS-Regimes die andere. Der Aufsatz von Uwe Danker reflektiert an mehreren Schnittpunkten Methoden der Geschichtsschreibung, hält immer wieder inne zu Selbstbesinnung und Selbstermahnung.
Schriewers Nachfolger in der Reichsstelle wurde 1937 Fritz Heiligenstaedt (Ragnhild Rabius: Fritz Heiligenstaedt, ein begeisterter Förderer der Volksbüchereien und überzeugter Propagandist des NS-Volksbüchereiwesens), der in Hannover eine Doppelkarriere zum Direktor eines Gymnasiums und zum Leiter der Beratungsstelle für das Volksbüchereiwesen hingelegt hatte. Als er die Reichstelle übernahm – er hatte sich nicht nur durch seine bisherige Arbeit dafür qualifiziert, sondern durch seine stramme NS-Tätigkeit – war die Ausrichtung der Volksbüchereien auf das Regime abgeschlossen. Seine Aufgaben waren jetzt Aufbau und Organisation der Büchereistellen im Reich, vor allem aber die Bekämpfung der katholischen Borromäusbüchereien (in katholischen Gegenden eine ernsthafte Konkurrenz) und der Aufbau von »Grenzlandbüchereien« zur Unterstützung des deutschen Volkstums. Heiligenstaedt wurde 1949 entnazifiziert, erhielt 1950 eine Lehrerstelle und 1951 die Stelle eines Oberstudiendirektors an einem Gymnasium. Er gehörte – wie fast alle Protagonisten in diesem Buch – zu der Generation des deutschen Bildungsbürgertums, die am Ende der Weimarer Republik fast geschlossen zum Nationalsozialismus überlief.
Die kirchlichen Büchereien
Die beiden Aufsätze über die Schikanierung und die Eingriffe des Regimes in die Büchereiarbeit der Kirchen (Andreas Lütjen: Die Evangelischen Pfarramtsbüchereien in Württemberg 1933-1945; Siegfried Schmidt: Prälat Johannes Braun und die Bonner Zentralstelle des Borromäusvereins 1933-1945) beschreiben, dass die kirchlichen Büchereien vom Regime unerwünscht waren und beseitigt werden sollten und – nachdem das insbesondere für die Borromäusbüchereien zunächst nicht möglich war, weil sie unter dem Schutz des 1933 zwischen dem Vatikan und dem Deutschen Reich geschlossenen Konkordats standen – in ihrer Wirkung drastisch eingeschränkt wurden, indem sie auf religiöses Schrifttum und auf die Nutzung lediglich durch Vereinsmitglieder reduziert wurden.
Letztlich war es dem Prälaten Johannes Braun (er kam 1909 in den Verein, war von 1934 bis 1956 geschäftsführender Direktor und galt als die Personifikation des Borromäusvereins; viele hielten ihn wegen seiner starken Persönlichkeit als besonders geeigneten Verhandlungspartner für den Umgang mit der NS-Bürokratie) nicht möglich, die Schließung bzw. Vernichtung vieler Büchereien zu verhindern, es gelang ihm jedoch, die Zentralstelle des Vereins in Bonn zu halten, eine wesentliche Voraussetzung für die rasche Neuetablierung der Büchereien nach der NS-Zeit.
Der Borromäusverein konnte für die Büchereien insgesamt agieren, sie waren straff an ihn gebunden, besser ausgebaut und erheblich leistungsfähiger als die im Vergleich dazu verloren wirkenden Pfarrbüchereien in der evangelischen Landeskirche in Württemberg, wo jeder Pfarrer ein Einzelkämpfer für »seine« Bücherei war. Für die Büchereien machte sich die Kirche nicht besonders stark; die Auseinandersetzung mit dem Regime war auf anderen Feldern viel intensiver (z.B. Religionsunterricht bzw. Konfirmandenunterricht vs. staatlich propagierter Weltanschauungsunterricht; innerhalb der Kirche selbst: Deutsche Christen vs. Bekennende Kirche).
Dennoch gab es ein paar Pfarrer, denen die Bücherei wichtig war. Hier ist Pfarrer Wilhelm Keller aus Fachsenfeld (heute Stadtbezirk von Aalen) herauszuheben, der im Zuge der von oben angeordneten Aussonderung verbotener Schriften meldete, dass sich keine »marxistischen Werke« und keine »Werke pazifistischer Autoren« fanden, und ausführt: »An Werken ›jüdischer Autoren‹ fand sich eine ältere Ausgabe der Bibel, die zweifellos von ›jüdischen Autoren‹ geschrieben ist, allerdings von dem Deutschen Martin Luther übersetzt. Ich glaubte es verantworten zu können, dieses Buch nicht auszuscheiden.« Es versteht sich, dass von NS-nahen Kirchenoberen die rasche Entfernung Kellers aus dem kirchlichen Dienst verlangt wurde.
»Der Aufbau von ›Grenzlandbüchereien‹ diente der Unterstützung des deutschen Volkstums.«
Ein paar Zwischenbemerkungen: Das Buch ist solide gefertigt (Papier, Druck, Bindung, Einband). Es wäre gut, wenn man das auch von der Grafik auf der vordern Einbandseite sagen könnte. Die ist leider nichtssagend, farblich düster und wirkt laienhaft selbstgebastelt. Das grob gerasterte Zeitungsfoto ist unverständlich; abgesehen davon, dass es kaum zu erkennen ist: Was sagt es über Volksbibliothekare oder den Nationalsozialismus aus? Dieses Foto gibt es – qualitativ etwas besser – auch auf Seite 239. Dort erfährt man durch die Bildunterschrift und durch eine Passage auf Seite 238, dass die abgebildete Schalterhalle 1929 umgebaut wurde und das Foto in einer Zeitung 1934 abgedruckt wurde; außerdem durch einen Hinweis auf Seite 4, dass das Foto verfremdet wurde, aber nirgendwo etwas darüber, was das Foto mit der NS-Zeit zu tun hat.
Der Aufsatz von Andreas Lütjen über die Evangelischen Pfarramtsbüchereien in Württemberg ist ein gut geschriebener, gut zu lesender, interessanter Text. Allerdings besteht der gesamte Aufsatz aus fünf großen Textklumpen, die jeweils Binnentitel tragen. Hier wäre eine weitere Gliederung in Absätze für den Leser hilfreich gewesen. Hätte eine redaktionelle Betreuung helfen können? Oder war das Einschieben der Binnentitel bereits solch eine Hilfe? Und mehr war nicht drin? (Minimal gemildert ist die optische Homogenität des Texts durch er ein paar kursiv und fett gesetzte Wörter und durch die gute Unterfütterung mit Fußnoten). Das Buch enthält 33 Abbildungen, davon sind 13 Porträtfotos, durch die die Fotografierten sich in solider, wohlanständiger Bürgerlichkeit dargestellt sehen. Bei zweien der 13 Fotos fällt auf, dass darüber hinaus durch entsprechende Schattenbildung Wert auf gute Sichtbarkeit von Schmissen gelegt wird, also auf die Kombination konventioneller Bürgerlichkeit mit einer gewissen martialischen Brutalität (Seite 40 und 258).
Dem Aufsatz über Schuster sind gleich fünf solcher Fotos beigegeben, was vielleicht ganz witzig ist, weil durch die chronologische Abfolge die Entwicklung Schusters auch physiognomisch sichtbar wird. Dem historisch Versierten mag es selbstverständlich sein, dass im Buch, das sich mit leitenden Personen des Bibliothekswesens beschäftigt, keine Frau auftaucht. Obwohl damals zahlreiche Bibliothekarinnen ausgebildet wurden, mag es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unüblich gewesen sein, dass Frauen in leitende Positionen gelangten; in der NS-Zeit wurde das offizielle Linie.
Ein Blick auf Österreich
Der in Salzburg 1907 geborene Hans Ruppe (Helmo Gruber: Leipzig – Wien – Salzburg: Stationen der [un]gebrochenen bibliothekarischen Karriere Hans Ruppes) engagierte sich bereits als Student in Wien in »deutscharischen« und agressiv antisemitischen Organisationen und erhielt dann durch die »Burse« in Marburg, einer deutschvölkischen Kaderschmiede, den richtigen rechtsradikalen Schliff. Nach der Universität (Germanistik u.a.) legte er 1933 an der Deutschen Volksbüchereischule in Leipzig das Examen für Volksbüchereien ab.
Walter Hofmann protegierte ihn, stellte ihn bei den Leipziger Bücherhallen an, wo er bald für die zentrale Bücherhalle zuständig war und Hofmanns Stellvertreter wurde. Er profilierte sich durch die rigide »Säuberung« der Buchbestände und durch die Veröffentlichung entsprechend empfehlender Bücherverzeichnisse. Außerdem betrieb er den Ausschluss der jüdischen Büchereibenutzer. Nachdem Österreich zum »Großdeutschen Reich« gehörte, wurde ihm 1938 in Wien »die Leitung des gesamten Büchereiwesens der Stadt« übertragen. Sein Vorhaben, nationalsozialistische Büchereipläne für Wien umzusetzen, ging schief, was nicht nur mit den Mängeln der Kriegswirtschaft zu tun hatte, sondern auch mit seiner Befangenheit in der Leipziger Büchereiideologie. Außerdem gingen Personen und Dienststellen, mit denen er hätte zusammenarbeiten müssen, wegen seines »hochfahrenden Wesens« auf Distanz zu ihm.
Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft ging Ruppe im Mai 1946 nach Salzburg, wo er erneut Karriere machte. Im Juli 1949 wurde er dort Leiter der Stadtbücherei. In Salzburg herrschte damals ein spezielles politisches Klima, in dem Nationalsozialisten als »neue Verfolgte« angesehen wurden, die des Schutzes bedurften.
August Zöhrer (Fritz Mayrhofer: August Zöhrer und das Büchereiwesen in Linz), vor allem religiös geprägt (»Gottsuchender«, Autor religiöser Schriften), dann aber auch naturverbunden, heimatverbunden, schließlich auch dem Deutschtum zugeneigt, war Kulturamtsleiter in Linz. Ihm waren diverse Kultur- und Bildungseinrichtungen zugeordnet, deren jeweiliger Leiter er auch war. So war er auch Leiter der Stadtbücherei, die aber erst noch zu gründen war, bislang gab es in Linz nur eine Vereinsbücherei und Pfarrbüchereien. Parteidienststellen attestierten ihm restlosen Einsatz für den NS-Staat. Er trat der NSDAP am 1. Mai 1938 bei (und aus der katholischen Kirche aus), gab aber an, bereits am 1. April 1936 der damals illegalen NSDAP beigetreten zu sein.
Er wurde in Personalunion auch noch Leiter der Büchereistelle und Gauschrifttumsbeauftragter im Gau Oberdonau (wie Oberösterreich in der NS-Zeit hieß). Er strengte sich bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit an, eine passable Stadtbücherei mit Zweigstellen zu etablieren und im Gau hunderte kleine Büchereien zu gründen. Bis zum Kriegsende war er überzeugt, »dass Gott den Deutschen helfen werde und der ›Führer‹ und mit ihm das deutsche Volk nicht untergehen könnten«. 1945 wird er entlassen. 1946 kehrt er wieder in die Kirche zurück, 1947 tritt er der Sozialdemokratischen Partei bei, der er schon einmal von 1918 bis zu ihrer Auflösung 1936 angehört hatte. Er widmet sich wieder der »Gottsuche« und schreibt historische Abhandlungen, darunter eine Dorfgeschichte seines Geburtsorts.
NSDAP-Mitglied aus Opportunismus oder Überzeugung?
[caption id="attachment_13068" align="alignleft" width="204"] Die Zeitschrift "Die Bücherei" ist während des Dritten Reiches zwischen 1934 und 1944 erschienen. Hier hat Hans Hugelmann seine Fachbuchsammlung vorgestellt.[/caption]
Hans Hugelmanns Wirken in der NS-Zeit (Christine Sauer: Hans Hugelmann als Volksbibliothekar in Nürnberg) wird anhand von drei gut dokumentierten Beispielen beleuchtet. Sein Eintritt in die NSDAP im Mai 1937 stand wahrscheinlich im Zusammenhang mit seiner Beförderung zum 1. April 1937, erfolgte somit aus opportunistischem Grund. Ansonsten wurde ihm von allen Seiten eher Distanz zum Regime bestätigt, was auch sein Handeln nahelegt.
»Der Besitz des Parteibuchs allein sagt nichts über die politische Position, aber viel über die Anpassungsfähigkeit aus«. So hatte er bereits die für die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 aus dem Büchereibestand zu entfernenden Bücher in Abstellräumen eingelagert und stattdessen schon vorher als veraltet und zerschlissen ausgeschiedene Bücher geliefert. Auch bei der 1939-1944 laufenden »Rosenberg-Spende« (»Bücherspende der NSDAP für die Wehrmacht«) verfuhr Hugelmann entsprechend: Bei den vor dem Versand durchgeführten Sichtungen separierte er die wertvollen Bücher, die für die Makulatur bestimmt waren, zur Einlagerung im Souterrain der Bücherei. Das geschah im Einvernehmen mit seinem Vorgesetzten, Friedrich Bock, Leiter der wissenschaftlichen Stadtbibliothek, und mit Wissen seiner Mitarbeiter, die später auch bestätigten, dass Hugelmann am 2. Januar 1945, als das Haus mit den eingelagerten Büchern von Bomben getroffen wurde, unter Einsatz seines Lebens das Feuer bekämpfte, das die Bücher sonst vernichtet hätte.
Ein besonderes Engagement zeigte Hugelmann, Literaturwissenschaftler mit einer besonderen Technikaffinität, für eine Fachbuchsammlung in der Bücherei, die er ab 1939 aufbaute, besonders bewarb (in der Zeitung, mit einer verbilligten Lesekarte) und in der Fachzeitschrift »Die Bücherei« vorstellte und begründete, ein Beitrag, der durch Sachlichkeit und politische Neutralität gekennzeichnet war. Hugelmann wurde 1945 aus dem Büchereidienst entlassen. Nach einigen Jahren wurde er Leiter der Nürnberger Volkshochschule.
»Es werden die Bemühungen der Protagonisten gezeigt, mit ihrer NS-Vergangenheit umgehen zu können.«
Hermann Sauter (Hiltrud Häntzschel: »Volksbüchereien – die Arsenale, die geistigen Bunker«) war ein überzeugter Nationalsozialist, der trotz bester fachlicher Voraussetzungen und heftiger Anbiederung ans Regime als Bibliothekar, er war Leiter der Münchner Stadtbücherei und der angeschlossenen Staatlichen Büchereistelle, insbesondere als Leiter der Büchereistelle scheiterte. Aus dem Bündel an Gründen für das Scheitern sei hier nur der Konflikt mit der Reisebuchhandlung Graf erwähnt.
Der Parteigenosse Hanns Graf, Inhaber einer Reisebuchhandlung in Augsburg, warb in den Dörfern Mitglieder für die Gründung eines »Buchrings«, die einen finanziellen Beitrag leisteten, mit dem ein Buchbestand beschafft wurde, der von den Mitgliedern eine Zeit lang kostenlos genutzt werden durfte. Vielen Bürgermeistern kamen solche Pseudobüchereien gelegen, ersparte es den Gemeinden doch Einrichtung und Betrieb richtiger Büchereien. Bei der Buchbeschaffung umging Graf die Vorgaben der Büchereistelle (hilflose Empörung Sauters), aber die technische Bearbeitung der Bücher lag dennoch bei der Büchereistelle, die jedoch wegen der anfallenden Büchermengen ständig in Verzug geriet. Darüber beschwerten sich die Gemeindeverwaltungen, die Beschwerden landenden schließlich beim Kultusministerium. Am 7. Februar 1942 wurde Sauter der Leitung der Büchereistelle enthoben. Eine Woche später wurde er zum Wehrdienst eingezogen.
»Vodoseks jahrzehntelange singuläre Leistung wäre besonders hervorzuheben.«
Der Text über Walter Hoyer, (Mandy Schaarschmidt: Die Leipziger Städtischen Bücherhallen unter Walter Hoyer 1937-1945), konnte nur dünn ausfallen, weil der als Nachfolger des 1937 durch erzwungene Pensionierung amtsenthobenen Walter Hofmann zwar offiziell von Oktober 1937 bis 1945 Direktor der Leipziger Städtischen Bücherhallen war, tatsächlich aber gerade anderthalb Jahre das Amt ausüben konnte, in denen er nicht Wesentliches tun konnte (auch wenn er NSDAP-Mitglied war), weil er bereits im August 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Informativ und interessant ist der Text vor allem, was Struktur, Ausstattung und Leistungsfähigkeit der Leipziger Bücherhallen betrifft.
An erster Stelle im Buch steht der Aufsatz von Peter Vodosek »Volksbibliothekare im Nationalsozialismus in Darstellungen und Selbstzeugnissen«. Er beginnt mit Feststellungen zur Biographik als Methode der Geschichtsschreibung, um dann alle bisher geleisteten biographischen Arbeiten zur Geschichte der öffentlichen Bibliotheken in der NS-Zeit zusammenzutragen, systematisch zu ordnen und knapp zu kommentieren.
Er endet mit dem Hinweis, dass »Versagen, sich Erinnern, Vergessen, Verdrängen, Leugnen, sich Eingestehen, Bekennen« ein weites Feld umspannen, das nicht nur von Historikern, beispielsweise auch von Schriftstellern zu bearbeiten ist. Beeindruckend ist hier ein Zitat von Eberhard Jäckel: »Je weiter Hitler zurückliegt, umso näher rückt er«. Der Aufsatz bündelt nicht nur bisher Geleistetes und ist dadurch die beste Einführung in dieses aus Biografien bestehende Buch, er sieht vor allem aus wie ein Resümee. Eine Art Abschlussbericht für eine zu Ende gehende Arbeitsepoche, aber auch Anregung für die Zukunft? Vodoseks jahrzehntelange singuläre Leistung wäre besonders hervorzuheben. Nach ihm wird es Ähnliches kaum noch geben. Gerät die Geschichte öffentlicher Bibliotheken wieder in die lokale Isolation?
Das Buch berührt, denn es stellt in allen Teilen den Leser vor die Frage, die niemand (insbesondere niemand für sich selbst) beantworten kann: wie er sich in der NS-Zeit verhalten hätte. Immer wieder wird ihm die moralische Korrumpierbarkeit durch das Regime vor Augen geführt. Hochinteressant sind die Passagen einiger Aufsätze, die über 1945 hinausführen und die Bemühungen der Protagonisten zeigen, mit ihrer NS-Vergangenheit umgehen zu können, mitunter auch eine »verständnisvolle« Umgebung, die den Betroffenen dabei hilfreich entgegenkommt.
Konrad Heyde, 7.5.2019