Immer mehr Bibliotheken übernehmen Aufgaben im Bereich der Datenerhaltung und -pflege. Informatiker/innen tragen im Öffentlichen Dienst oft die Bezeichnung »Angestellte/r in der Datenverwaltung«, obwohl die Verwaltung gespeicherter Daten schon lange keine Aufgabe mehr nur für Informatiker/innen darstellt. Gleichzeitig geht die bibliothekarische Arbeit über die klassische Literaturversorgung hinaus und umfasst zunehmend mehr und mehr technische Bereiche. Ein hochaktuelles Tätigkeitsfeld für wissenschaftliche Bibliotheken stellt das Forschungsdatenmanagement dar. Was verbirgt sich dahinter und welche Anforderungen ergeben sich daraus für das bibliothekarische Berufsbild? Sollen wir jetzt alle Informatiker/innen werden?
Der wissenschaftliche Diskurs ist mittlerweile nicht mehr nur auf Zeitschriften und Bücher begrenzt. In den vergangenen Jahren wurden in vielen wissenschaftlichen Bibliotheken Dokumentenserver eingerichtet, die die Zugänglichkeit und die verlässliche Langzeitarchivierung von digitalen Publikationen sicherstellen sollen. Die Verbreitung und Speicherung von E-Journals, E-Books, Digitalisaten und anderen elektronischen Dokumenten kann als ein erster Schritt der Bibliotheken zur Erweiterung ihres Aufgabenspektrums angesehen werden. Die Verwaltung von Forschungsdaten ist daher nur ein konsequenter nächster Schritt in der Entwicklung von Bibliotheken im digitalen Zeitalter.
»Unter Forschungsdaten sind […] digitale und elektronisch speicherbare Daten zu verstehen, die im Zuge eines wissenschaftlichen Vorhabens zum Beispiel durch Quellenforschungen, Experimente, Messungen, Erhebungen oder Befragungen entstehen.«[1]
Die Aufgabe, Forschungsdaten sicher aufzubewahren und zu erschließen, geht zurück auf das wachsende Bewusstsein des Wertes von Roh- und Primärdaten. So gut wie alle wissenschaftlichen Institutionen in Deutschland haben sich den in der DFG-Denkschrift zur »Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis« festgelegten Grundsätzen verschrieben und sich damit verpflichtet, Primärdaten von Veröffentlichungen mindestens zehn Jahre aufzubewahren. Zeitschriften geben zunehmend die Möglichkeit, Verweise auf Forschungsdaten an Artikel anzufügen, scheuen aber oft die Aufgabe, die Daten selbst zu sichern. In der Praxis übernehmen Rechenzentren vor allem den Transfer, die Speicherung und den Erhalt von Daten auf Bit-Ebene, beschäftigen sich jedoch selten mit deren Inhalten und deren Erschließung. Wissenschaftler/innen sind mit Forschung und Publikation ihrer Ergebnisse ausgelastet und wollen sich in der Regel nicht auch noch um den Erhalt digitaler Primärdaten, deren Katalogisierung und Erschließung kümmern.
Auf der einen Seite stehen also die Wissenschaftler/innen, die möchten, dass ihre Daten sicher aufgehoben und gefunden werden – und dies alles möglichst einfach und komfortabel. Auf der anderen Seite stehen Informatiker/innen, die die inhaltliche Erschließung nicht als ihre Aufgabe ansehen. Bibliotheken sind hier nicht die »Lückenfüller«, sondern es ist ihre Kernaufgabe, sich um die inhaltlich strukturierte Speicherung und Auffindbarkeit von Informationen zu kümmern.
Als Informationsinfrastruktureinrichtungen verfügen sie über Kenntnisse von Formaten, Metadatenschemata und Anforderungen der einzelnen Disziplinen, die für sich genommen weder die Wissenschaftler/innen noch die Informatiker/innen haben. Dadurch fallen ihnen zwei Rollen zu: Zum einen haben sie die gestalterische Aufgabe, die gespeicherten Daten auffindbar zu machen, zum anderen vermitteln sie zwischen Wissenschaftler/innen und Informatiker/innen, wenn es um die Frage geht, was technisch machbar und was wissenschaftlich oder disziplinspezifisch erforderlich ist. Forschungsdatenmanagement wird vor allem dann erfolgreich sein, wenn die Zusammenarbeit zwischen den genannten Gruppen gelingt.
Während Informatiker/innen sich mit den inhaltlichen Anforderungen auseinandersetzen müssen, die letztlich umgesetzt und technisch gelöst werden sollen, müssen Bibliothekar/innen bereit sein, technische Zusammenhänge zu verstehen und gemeinsam mit Informatiker/innen nach umsetzbaren Lösungen zu suchen. Technische Vorbildung ist dabei keine Voraussetzung, dafür aber Abstraktions- und Kommunikationsvermögen. Diese Softskills können nicht ausschließlich theoretisch erlernt, sondern müssen auch trainiert werden.
Abstraktion ist eine der Methoden, die in der Informatik besonders häufig eingesetzt werden. Für die Zusammenarbeit ist es hilfreich, wenn in der Ausbildung von Bibliothekar/innen eventuell vorhandene Scheu vor Technik genommen, Abstraktion und Kommunikationsfähigkeiten trainiert werden. Darüber hinaus gibt es aber auch konkrete Inhalte, die gelehrt werden sollten: der Umgang mit XML, RDF, relationalen Datenbanken, Webtechnologien im Allgemeinen sowie Wissen um Metadatenschemata und Formate.
Genauso, wie sich die Bibliothekswissenschaft mit solchen Inhalten zu einer Informationswissenschaft entwickelt und sich damit der Informatik annähert, gibt es auch die umgekehrte Entwicklung: Über den Forschungsbereich Semantic Web rücken Taxonomien, Thesauri, Metadatenformate und dergleichen in den Blickpunkt der Informatik. Es gibt also zunehmend Berührungspunkte und gemeinsame Interessen beider Disziplinen.
Betrachten wir die Aufgaben von Bibliotheken und die Zusammenarbeit mit Partnern beim Forschungsdatenmanagement an einem konkreten Beispiel: An der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) wird derzeit eine Forschungsdaten-Infrastruktur aufgebaut, in der die Universitätsbibliothek, das Rechenzentrum tubIT und die Forschungsabteilung der TU Berlin ihre Kompetenzen bündeln. In Bezug auf die Universitätsbibliothek werden im Konzept für die Forschungsdaten-Infrastruktur der TU Berlin folgende Kompetenzen hervorgehoben: »Umgang mit Metadaten-Erstellung und Metadaten-Formaten, formale Qualitätssicherung von Daten, Datenpflege, Persistent Identifier, Nachweis und Recherche, Verfahren und Workflows für elektronisches Publizieren, Lizensierungsfragen, Urheberrecht, Open Access, …«[2]
Entsprechend sind die Aufgaben von und die Anforderungen an Bibliothekar/innen im Forschungsdatenmanagement angesiedelt. Für die Konzeption einer Forschungsdaten-Infrastruktur und die Betreuung des Dienstes ergeben sich demnach folgende Aufgaben:
- Auswahl relevanter Metadatenschemata (Dublin Core kann nur ein Anfang sein), gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den Fachreferent/innen nach den Anforderungen einzelner Disziplinen
- Auswahl von Klassifikationen, Taxonomien und Thesauri zur Erschließung der gespeicherten Daten in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftler/innen
- Kompetente Einordnung von Wünschen an eine Forschungsdaten-Infrastruktur und Interessenausgleich zwischen wissenschaftlicher Anforderung und technischer Machbarkeit in Zusammenarbeit mit Informatiker/innen
- Erstellung von Mappings und Konkordanzen zwischen Metadatenschemata für die Anbindung an Nachweissysteme innerhalb und außerhalb der Bibliotheken
- Beratung der Wissenschaftler/innen hinsichtlich Lizensierungs- und Urheberrechtsfragen, dem elektronischen Publizieren sowie zu Open-Data/Open-Access-Strategien
- Formale Qualitätssicherung und Ergänzung der eingereichten Daten und ihrer Metadaten
Wie die Aufgaben der Universitätsbibliothek und das Forschungsdatenmanagement in den Lebenszyklus von Forschungsdaten eingebunden sind, wird in der Aufgabenverteilung innerhalb der Forschungsdaten-Infrastruktur der TU Berlin deutlich (siehe Abbildung).
[caption id="attachment_1053" align="aligncenter" width="466"] Aufgabenverteilung innerhalb der Forschungsdaten-Infrastruktur der Technischen Universität Berlin Abbildung: Monika Kuberek (CC-Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/)[/caption]
Zusätzlich zum Wert von Forschungsdaten für die Verifizierbarkeit von Forschungsergebnissen und die Vertrauenswürdigkeit von Publikationen werden Forschungsdaten zunehmend nachgenutzt. In etlichen Disziplinen spielt die Nachnutzung von Forschungsdaten bereits heute eine große Rolle. Beispielhaft seien hier Wetteraufzeichnungen oder Bohr- und Messreihen genannt, die die zeitliche Veränderung verschiedenster Größen festhalten. Damit umfasst das Forschungsdatenmanagement die Erbringung von »Dienstleistungen im Forschungsprozess selbst und nicht ›nur‹ im Verwalten der Forschungsergebnisse. Dies kommt letztlich einem Paradigmenwechsel gleich. Von Dienstleistern der Publikationsphase zu Dienstleistern und Partnern des gesamten Forschungsprozesses.«[3]
Abschließend sei die Frage aufgeworfen, ob die oben beschriebenen Anforderungen und Aufgaben an Bibliothekar/innen ein neues Berufsbild evozieren oder ob es sich um spezielle Aufgaben für einzelne Expert/innen handelt. Eine häufig dargestellte These besteht im neuen Berufsbild des »Data Librarian« – Bibliothekar/innen, die auf die beschriebenen Aufgaben spezialisiert sind. Aus der Sicht der Autoren handelt es sich allerdings eher um eine Weiterentwicklung des Berufsbilds Bibliothekar/in, wie man sie zum Beispiel bei der Bibliotheksautomatisierung der späten 1960er-Jahre beobachten konnte, die kein vollkommen neues, sondern lediglich ein gewandeltes Berufsbild hervorgebracht hat.
Auf der einen Seite gibt es zunehmend Bedarf an Bibliothekar/innen, die bei Aufbau und Betreuung von Forschungsdaten-Infrastrukturen beteiligt sind, auf der anderen Seite verlieren die bisherigen Kernaufgaben einer Bibliothek dadurch nicht an Relevanz. Wünschenswert wäre, dass die Vermittlung von technisch-bibliothekarischem Wissen in allen Ausbildungszweigen – der Ausbildung von Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste, dem Bachelor- oder Masterabschluss und dem Referendariat – gleichwertig mit dem klassischen bibliothekarischen Wissen erfolgt.
Pascal-Nicolas Becker studierte Informatik an der Freien Universität Berlin, Fabian Fürste Bibliotheks- und Informationswissenschaften sowie Geschichte an der HU Berlin. Beide sind an der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) tätig und arbeiten am Aufbau der Forschungsdaten-Infrastruktur der TU Berlin mit. – Kontakt: p.becker@tu-berlin.de, fabian.fuerste@tu-berlin.de
[1]DFG 2010: www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/ausschreibung_forschungsdaten_1001.pdf, Seite 1. Weitere Begriffe für Forschungsdaten: Rohdaten, Primärdaten, Forschungsprimärdaten
[2]AG Forschungsdaten, Monika Kuberek: »Organisatorisch-technisches Konzept für eine Forschungsdaten-Infrastruktur in der TU Berlin«, www.szf.tu-berlin.de/fileadmin/f33_szf/TUB_Forschungsdaten_Konzept_lang_20120315mk.pdf, Seite 11, abgerufen am 15. Mai 2013
[3]S. Büttner, S. Rümpel, H.-C. Hobohm: »Informationswissenschaftler im Forschungsdatenmanagement«, Seite 206. In: »Handbuch Forschungsdatenmanagement«, hrsg. von S. Büttner, H.-C. Hohbohm, L. Müller. Bad Honnef: Bock + Herrchen, 2011