Seid authentisch und menschlich – probiert und scheitert!
Ein Rückblick auf den virtuellen OCLC-Bibliotheksleitungstag 2023, der mehr als 1500 Teilnehmende verzeichnete.
Wie können Bibliotheken die Brücke zur digitalen Bildungswelt bei YouTube & Co. schlagen? Woher sollen Bibliotheken Inhalten für den Social-Media-Kanal bekommen? Warum sollten sich Bibliotheken mit den Bedürfnissen der Generation Z und mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen? Antworten auf diese aktuellen Fragen der Bibliotheksbranche bekamen über 1 500 angemeldete Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 22. und 23. November 2023 beim virtuellen Bibliotheksleitungstag von OCLC.
Unter dem Motto »Weiter gehen! – Warum die Bibliotheken die Komfortzone jetzt verlassen… und wie das geht« spornten der Keynote-Speaker Daniel Jung, bekannt als Mathe-YouTuber und Bildungsunternehmer, sowie Referentinnen und Referenten in weiteren elf Video-Vorträgen zum Verändern und Aufbruch an. Gerade in Zeiten von Informationsflut, Desinformation und Unsicherheit seien Bibliotheken ein Ort, an dem man fundierte Informationen und Austausch fände, sagte Sebastian Müller von OCLC. Moderiert wurde die Tagung von Bibliotheksberater Andreas Mittrowann.
Bibliothek als vertrauenswürdiger Gegenpol zu YouTube & Co.
Keynote-Speaker Daniel Jung führte die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in den Bildungssektor. Auf YouTube hat sich Jung als virtueller Mathe-Tutor seit mehr als zehn Jahren einen Namen gemacht und zahlreiche Schülerinnen und Schülern »durch die Mathe-Prüfungen gebracht – unabhängig von finanziellem oder sozialem Hintergrund«. Bibliotheken sollten es ähnlich tun: Sie können eine wichtige Rolle für Bildungsgerechtigkeit übernehmen, als sozialer, vertrauensvoller Ort Lernende und Lehrende zusammenbringen und vertrauenswürdige Inhalte kuratieren.
Bundesweit stünden 45 000 Schulen etwa 8 000 Bibliotheken gegenüber. Beide könnten sich lokal »als analoge Spielwiese« vernetzen, als öffentliche Einrichtung Medienkompetenz vermitteln und eine Wissenscreator-Community gründen, um nicht nur privatwirtschaftlichen Portalen wie YouTube oder Google die Hoheit über Wissensinhalte zu überlassen. Konkret schlug Jung ein Pilotprojekt vor, in dem sich zehn Bibliotheken mit beispielsweise zehn Digital-Tutoren oder analogen Lehrkräften vernetzen und vor Ort in den Bibliotheken – im geschützten, störungsfreien Raum mit technischer Ausstattung – mit Schülerinnen und Schülern Wissen erarbeiten, beispielsweise Videos oder Podcasts produzieren und teilen und so eine analoge und digitale Spielwiese für die Lernenden sind. »Denn nie war der Mensch, dem man beim Lernen vertraut, wichtiger für den Bildungserfolg als heute«, bekräftigte Jung in seinem Vortrag. Diese Position sollten Bibliotheken nutzen und aus ihrer Komfortzone in die Bildungswelt hinausgehen.
Müssen Mitarbeitende für TikTok & Instagram tanzen?
Ein weiteres großes Thema, das Mut von Bibliotheken verlangt, ist die Selbstdarstellung auf den Social-Media-Plattformen. In einer Spontanbefragung unter den Tagungsbeteiligten schätzte über 90 Prozent die Bedeutung von Social Media und Online-Marketing als »deutlich wichtiger« und »wichtiger« als vor fünf Jahren ein.
Daniela Wittke, Online-Beraterin von Bibliotheken gab beim Bibliotheksleitungstag Tipps für den Start: Entsprechend der Zielgruppe, die man erreichen will, sollten die Einrichtungen sich für eine Social-Media-Plattform entscheiden und diese ausprobieren. Wichtig sei es, ein Ziel zu verfolgen: Möchte man mehr Veranstaltungsbesucher gewinnen? Dann sollte man die Veranstaltungen begleiten. Möchte man neue Personen zur Nutzung der Bibliothek animieren? Dann sollte man am besten das Angebot und viele Beschäftigte und Geschichten hinter den Kulissen auf Instagram, Facebook & Co. zeigen, um Nähe und Vertrauen zu schaffen. Allgemein gilt: Das Social-Media-Team sollte Inhalte veröffentlichen, mit denen man sich wohlfühlt. Auf die Angst-Frage, ob man vor der Kamera tanzen müsste, antwortet Wittke eindeutig: »Nein, tanzen muss man nicht vor der Kamera, es sei denn, es gefällt. Seid einfach authentisch und entwickelt euren eigenen Stil.«
Aus der Praxis berichteten Anna Kolb und Noah Engelhaupt vom Kulturforum Hanau über den Mehrwert von Social-Media-Kooperationen mit (städtischen) Partnern – ob mit der Pressestelle, den Verkehrsbetrieben oder dem Kulturamt. Wichtig sei, die Zusammenarbeit proaktiv, konkret für ein Thema und lokal zu starten. »Damit erreichen wir mehr Kreativität und Synergieeffekte«, erklärten die beiden Hanauer. Auch in Wissenschaftlichen Bibliotheken wirken sich kreative Social-Media-Aktivitäten positiv für das Image aus: Rachel Ellis von der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen sowie Marie Adler von der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel zeigten, dass Kanäle wie Facebook oder Instagram zu den Kommunikationsstandards in ihrem Umfeld gehören. Wissenschaftliche Inhalte oder gar Wissenschaftsmythen und -klischees in Blogs, Quizzen, Podcast oder mit einem Therapie-Waschbär bereiten sie für die Community oder das breite Publikum auf: Es gehe um Infotainment statt Fußnoten. »Heiter scheitern« statt lange planen. Wenn's menschelt (oder tierisch zugeht), funktionieren die Beiträge am besten. Ellis rät Wissenschaftlichen und Öffentlichen Bibliotheken, als einfachste Maßnahme das Google-Business-Profil zu pflegen. Dort sollten beispielsweise Öffnungszeiten und Änderungen aktualisiert sowie Kommentare und Bewertungen beantwortet werden.
Welche neuen Fachkräfte in der Bibliothek arbeiten sollten
Es ist vielleicht das wichtigste Thema für Bibliotheken: Wie bekommen wir gutes Personal? Wie gewinnen wir den Nachwuchs der Generation Y und Z? Und die ketzerische Frage: Wird es 2050 noch Bibliothekarinnen und Bibliothekare geben? Ja!, sagte Professor Achim Bonte von der Staatsbibliothek zu Berlin beim Bibliotheksleitungstag. »Statt Medien zu vermitteln wird die Bibliothek der Zukunft gesellschaftlich relevanter sein, sich mehr mit Nutzenden und der Digitalität beschäftigen«, prognostizierte er. Dadurch werde sich die Stellenzusammensetzung in der Bibliothek ändern: Laut seiner Einschätzung wird es mehr Stellen im höheren Dienst geben für Kommunikation, Veränderung oder Drittmittelakquise. Zwei Systeme laufen parallel: Das bisherige hierarchische und das agile. Komplexe Probleme machen das agile System notwendig, um Neues auszuprobieren und Fehler zu ertragen. Für beide Systeme brauche es die passenden Menschen. Zudem sei laut Bonte Personalentwicklung in Bibliotheken erforderlich. Seine Staatsbibliothek führt Teambuilding-Workshops durch, es gibt Lunchtime-Termine zwischen miteinander unbekannten Führungskräften, es wird miteinander abgestimmt, was man als Führungskraft darf oder nicht darf, was man sich trauen kann. Das Ziel sei, psychologische Sicherheit in Zeiten der Veränderungen zu bekommen.
Beispielhaft zeigten Nicole Graf und Ursula Meier von der Bibliothek der ETH Zürich, wie neue Mitarbeitende mit dem Online-Onboarding-Format »Meet the Library« statt langwierigen Powerpoint-Präsentationen einsteigen. Die Neulinge sollen sich schnell zugehörig fühlen und Kolleginnen oder Kollegen mit Namen, Aufgaben, Standort und auch familiärer Situation so kennenlernen, dass sie sich trauen, sie bei Fragen von der Arbeit bis zur Kinderbetreuung direkt anzusprechen.
Was die Generation Z vom Arbeitgeber Bibliothek erwartet
Damit Stellen im öffentlichen Dienst nicht, wie aktuell, 106 Tage vakant bleiben, sprach sich Regine Lipka von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) dafür aus, auf die Bedürfnisse von Bewerberinnen und Bewerbern der Generation Y (geboren 1980 bis 1994) und Z (Jahrgänge 1995 bis 2009) einzugehen. Sie legen laut Lipka Wert auf Freunde, Familie, enge Beziehungen, Selbstbestimmung, Erlebnisse und Abenteuer. Einblicke in die Bibliotheks-Arbeitswelt über Praktika oder Videos bei Social Media sind unerlässlich. Die Digital Natives lieben Feedback. So empfiehlt Lipka Bibliotheken, bei Stellenausschreibungen das Wording anzupassen und sich schnell bei den Bewerbenden zurückzumelden, um dem Feedback-Bedürfnis nachzukommen. Faktoren bei der Arbeitgeberwahl seien neben Gehalt und einem unbefristeten Vertrag ein gutes Betriebsklima, Entwicklungsmöglichkeiten und wenig Stress.
Aus Sicht der Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer könnte die Personalnot in Bibliotheken über diese drei wichtigsten Maßnahmen bewältigt werden: Man sollte Personal mit anderen Qualifikationen einstellen, eine Personalstrategie entwickeln und eine Image-Kampagne durchführen.
Wenn die Fehlerkultur auf andere Teams überschwappt
Die Menge an Herausforderungen für Bibliotheksleitende und Mitarbeitende ist gewaltig. Stephan Schwering von der Stadtbücherei Düsseldorf, Bibliothek des Jahres 2023, erzählte im Round Table von den Veränderungen in Richtung Open Library: »Es ist wichtig, Schritt für Schritt aus der Komfortzone herauszukommen.« Nicht alle Mitarbeitende seien gleich schnell. »Wir haben zuerst ein agiles Team ohne Hierarchien gegründet, da eine Fehlerkultur etabliert und erst mal eine Stunde Open Library ausprobiert. Der Spirit ist dann übergeschwappt auf andere Teams«, berichtete er beim Bibliotheksleitungstag. Er und die weiteren Mitstreiterinnen und -mitstreiter beim Round Table bekräftigten, dass man zudem die Nutzersicht einnehmen, die Bedürfnisse der Bibliotheksnutzenden erfragen und erkennen und ihre Sprache sprechen solle. »Bei uns hat das bedeutet, dass wir keine Anglizismen mehr verwenden und die Beschilderung in Verben formulieren, zum Beispiel »Medien zurückgeben« statt »Medienrückgabe«, so Schwering.
Der Tagungs-Gastgeber OCLC will bei den Veränderungen unterstützen und Bibliotheken noch stärker für Internetnutzerinnen und -nutzer sichtbar machen. So rief OCLC Bibliotheken dazu auf, sich bei WorldCat zu beteiligen, um neue Nutzergruppen zu gewinnen. Sucht jemand beispielsweise einen Reiseführer bei Google, soll der Person neben Amazon & Co. die nächstgelegene Bücherei angezeigt werden, in der sie sich direkt anmelden und das elektronische oder physische Buch ausleihen kann. Dafür müssten sich noch mehr Bibliotheken im WorldCat vernetzen. Zudem zeigte OCLC, wie Bibliotheken in der neuen Anwendung Bibliotheca next weitere digitale Services wie die Online-Anmeldung, Bezahlfunktionen oder eine App nutzen können. Imke Koch verdeutlichte außerdem, wie man in Braunlage über die Projektbezuschussung eine Social Gaming Area als neuen sozialen Treffpunkt in der Bibliothek etabliert hat.
Was künstliche Intelligenz kann – und was nicht
Im zweiten Teil des Bibliotheksleitungstags beschwichtigte Jan Ullmann, E-Learning-Berater und Bildungsunternehmer, die Angst vor der Künstlichen Intelligenz (KI). Er forderte Bibliotheken auf, die Chance zu nutzen, indem sie beispielsweise ChatGPT zur Verbesserung interner Arbeitsabläufe nutzen oder um Suchanfragen von Nutzenden optimaler zu gestalten. Auf der anderen Seite seien Bibliotheken gerade in dieser technologisierten Welt als Ort menschlicher Werte und Kultur gefragt. Ullmann rief die Bibliotheksleitungen dazu auf, aus der bisherigen Komfortzone auszutreten und die neue Rolle jetzt proaktiv mitzugestalten. In weiteren Vorträgen verdeutlichten Armin Glatzmeier von der Universitätsbibliothek der FU Berlin sowie Anna Kasprzik vom ZBW Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft, wie maschinelles Lernen schneller und intelligenter Inhalte erschließen kann.
Zudem zeigten Sabine Wolf, Patricia Schöler, Raimar Oestreich und Ulrike Motte aus der Praxis ihrer Öffentlichen Bibliotheken in Berlin und Velbert, wie sie die Einrichtungen in Richtung Open Library geöffnet haben. Doch Öffnung und Veränderung braucht auch Finanzierung: So zeigte Angelika Brauns mit einem Beispiel aus dem ländlichen Niedersachsen, wie Bibliotheken durch Förderung digitaler geworden sind. Lorenz Blume von der Agentur für kommunalen Klimaschutz des Bundeswirtschaftsministeriums empfahl Bibliotheken, die Projektförderung für Klimaschutzmaßnahmen in der Bücherei zu nutzen, um sich nachhaltig zu verändern.
Katja Edelmann (Foto: privat) arbeitet als freie Autorin und Kommunikationswirtin. Zwei Jahre war sie als Quereinsteiger-Bibliothekarin in der Stadtbücherei Heidelberg für digitale Kommunikation und Social Media tätig. Seit vielen Jahren verfolgt sie Zukunftsideen der Bibliotheksbranche beim Bibliotheksleitungstag – ihr Motto: »Zukunft schreiben«.
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