Digitale Formate sind heute selbstverständlicher Teil im Veranstaltungsangebot vieler Bibliotheken. Auch die Stadtbücherei Frankfurt am Main widmet sich verstärkt den Möglichkeiten von Robotics, Coding & Co. Besonders erfolgreich ist sie mit der Verschmelzung von Robotertechnik und Leseförderung. Das Format »Roboter hört mit! – Lautlesen 4.0« wurde in enger Zusammenarbeit mit der Hochschule Wildau konzipiert und umgesetzt und 2021 mit dem Deutschen Lesepreis ausgezeichnet.
In den vergangenen Jahren hat die Stadtbücherei Frankfurt am Main viele neue Formate rund um digitale, elektronische Themen und MINT entwickelt. Startschuss war die Einrichtung des Bereiches »Digitale Dienste«. Elfriede Ludwig, die das Sachgebiet leitet, legt einen Schwerpunkt auf die Vermittlung digitaler Kenntnisse. Seit 2019 initiiert sie neue Projekte und sucht dabei die Zusammenarbeit mit qualifizierten Partnerinnen und Partnern. Dazu gehören die TechnoTHEK – eine »Werkstatt« mit technischen Baukästen, die in Zusammenarbeit mit dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) realisiert wurde und Coding-Workshops mit Arduino in Zusammenarbeit mit der Hochschule Darmstadt. Lernroboter, der Handhabungsroboter »Dobot«, der die Möglichkeiten des Robotereinsatzes in der Industrie aufzeigt, sowie der humanoide Roboter Ada, ein NAO-Roboter, unterstützen die Stadtbücherei in ihrer Bildungsmission.
Lächelnd verrät Elfriede Ludwig: »Ada, benannt nach der ersten Programmiererin Ada Lovelace, ist der Star unter unseren Robotern. Ihre Auftritte lösen generationsübergreifend Begeisterung und Neugierde aus.« Eine interne Arbeitsgruppe hat Schritt für Schritt Formate entwickelt, die die vielen Funktionen der Roboterdame nutzen. Mit Corona waren und sind die Möglichkeiten von Live-Veranstaltungen allerdings begrenzt, und so bietet die Stadtbücherei Interessierten jetzt auch die Möglichkeit einer Online-Remote-Coding-Session mithilfe der vom Fraunhofer Institut bereitgestellten Plattform »OpenRoberta«. Zielgruppe des Robotics & Coding-Programms sind – je nach Art der Veranstaltung – Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die Frankfurter Bibliothekspädagogin Tanja Schmidt, die bereits mit Tablets, Apps und (Lern)Robotern in der Bibliothek arbeitet, begrüßt die kreativen Möglichkeiten digitaler Formate: »In der Verbindung von digitaler Mediennutzung mit pädagogisch ausgearbeiteten Konzepten liegt ein großes Potenzial für eine zeitgemäße Leseförderung.«
Bereits unmittelbar nach Start des Robotics-Projektes hat die Stadtbücherei Frankfurt am Main interessiert auf die Aktivitäten der Technischem Hochschule Wildau und der dortigen Hochschulbibliothek geschaut. In Wildau wird intensiv an Möglichkeiten des Einsatzes von Robotern in Bibliotheken geforscht und gearbeitet. Dort wird unter Leitung von Prof. Janett Mohnke an der Entwicklung moderner Informations- und Assistenzsysteme gearbeitet. Dabei wird im RoboticLab Telematik an der Entwicklung und Erprobung von Szenarien geforscht, in denen speziell humanoide Roboter in verschiedenen Bereichen des Alltags zum Einsatz kommen, um Lösungsansätze für aktuelle Probleme der Gesellschaft zu inspirieren. Bewusst setzt man auf die Neugierde und das Interesse von Menschen an solchen Robotern. Das Lab ist Teil des iCampus Wildau der Hochschule.
Auch und gerade Kinder sind von Robotern fasziniert. Das weiß man auch in Wildau. Und so entsteht dort in enger Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek Wildau bereits 2017 die Idee, Roboter in der Leseförderung einzusetzen. Inspiration waren die Berliner Lesehunde: Hunde als wertungsfreie und geduldige Zuhörer sollen bei Kindern die Freude am lauten Vorlesen steigern und so auch dazu beitragen, Ängste zu nehmen und Lesefähigkeiten zu verbessern – ein Angebot, das in Berliner Schulen und Kindergärten auch heute noch sehr gefragt ist.
Auch der Berlin-Brandenburgischen Stiftung für Bibliotheks-Forschung e. V. gefiel die Idee aus Wildau sehr gut – sie wurde mit dem Innovationspreis der Stiftung ausgezeichnet. Das verhalf dem Projekt zu einem Preisgeld von 10.000 Euro und somit zu einer Startfinanzierung für die Umsetzung. Prof. Mohnke erklärt: »Ziel unseres Projektes war es, die Lesekompetenz von Kindern im Grundschulalter zu stärken – dieses gemeinsame Anliegen beflügelte die Kolleginnen der Stadtbibliothek Wildau ebenso wie das RoboticLab Telematik der TH Wildau.« Gemeinsam setzte man auf die Faszination Technik und entwickelte eine Projektidee, in der der humanoide Roboter NAO der Firma Softbank Robotics eine zentrale Rolle spielt: Er sollte als Lesepate eingesetzt werden, um bei Kindern die Freude am Lesen zu stärken.
Was nun ist die prinzipielle Idee des Lese-NAOs? Ein Tandem aus humanoidem NAO-Roboter und menschlicher/-m Betreuer/-in laden Kinder im Grundschulalter zum Lautvorlesen ein. Ein bis zwei Kinder lesen (abwechselnd) aus einem vorab ausgewählten Buch vor. Der NAO hört zu. Im Anschluss an das Vorlesen stellt der Roboter Multiple-Choice-Fragen zum Inhalt, die die Kinder über ein Tablet beantworten können. Um auch den Wunsch der Kinder zu erfüllen, in einen direkten Kontakt mit den NAO-Robotern treten zu können, wurden Interaktionen ergänzt.
Technische Vorbereitung und erste Erfahrungen
Von der Idee bis zur ersten Vorlesestunde lag ein weiter Weg. Prof. Mohnke betont: »Dieses Projekt wäre ohne die initiale Entwicklung der Idee durch die Kolleginnen der Stadtbibliothek Wildau und deren anschließende Verwirklichung durch die Studierenden des RoboticLabs Telematik nicht möglich gewesen. Nur so konnte dieses Projekt zu einem Erfolg werden!«
Das RoboticLab Telematik der TH Wildau war für die technische Umsetzung und die Evaluation verantwortlich. Damit der LeseNAO seine Rolle ausfüllen konnte, musste zuerst die entsprechende Infrastruktur geschaffen werden (siehe Abbildung 1). Das ideale Projekt für die Studierenden Amanda Klingner, Tina Lüthe und Oskar Lorenz, die mit Kreativität, Enthusiasmus und Wissen an die Arbeit gingen: Der NAO-Roboter und das Tablet mit der entsprechenden Software (1) bilden den zentralen Teil, mit dem die Kinder direkt interagieren. Zusätzlich muss es auch eine Möglichkeit geben, die verwendeten Bücher und dazugehörige Fragen vorab in das System einzupflegen und zu verwalten. Das erfolgt über eine webbasierte Anwendung (2). Mithilfe einer Backend-Anwendung wird alles zusammengeführt (3). Alle Inhalte, also die Bücher und Fragen, werden in einem Content-Management-System gespeichert. Der NAO kann diese von dort abrufen.
In Frankfurt hört der Roboter mit!
Als Elfriede Ludwig im August 2019 auf der IFLA WLIC Preconference Satellite »Robots in Libraries: Challenge or Opportunity« das Robotics-Projekt vorstellt, kommt es zu einem ersten Kontakt mit dem »LeseNAO« und Prof. Janett Mohnke. Ludwig sah sofort große Chancen in einer Zusammenarbeit: »Die Stadtbücherei Frankfurt war vor allem daran interessiert, die theoretischen und praktischen Erkenntnisse über Roboter in die Praxis einer Großstadtbibliothek zu überführen.« Es sollten weitere Angebote für die Bürger/-innen geschaffen und nicht zuletzt die Kenntnisse der Mitarbeiter/-innen erweitert werden. Die Studierenden aus Wildau erhalten wiederum die Möglichkeit, die Anforderungen, Möglichkeiten aber auch Grenzen in der Arbeit mit einer großen bibliothekarischen Einrichtung kennenzulernen. Die so entstandene Zusammenarbeit mündet in einem Kooperationsprojekt: »Roboter hört mit! – LautLesen 4.0«.
Frankfurt am Main ist eine wachsende Stadt, in der Menschen aus 180 Nationen zusammenleben. Zur Stadtbücherei Frankfurt gehören 19 Öffentliche Bibliotheken, eine Fahrbibliothek und über 100 Schulbibliotheken. Um die in Wildau erprobten Vorlesestunde mit dem humanoiden Roboter einer entsprechend größeren Zielgruppe zugänglich zu machen, hat die Stadtbücherei das inhaltliche Konzept des Programms
»LeseNao« verändert. Aus der Eins-zu-Eins-Situation, in der ein Kind in mehreren Sitzungen dem Roboter vorliest, wurden Einzelveranstaltungen mit Kleingruppen und Moderation. Der Schwerpunkt liegt bei »Roboter hört mit! – LautLesen 4.0« weniger auf dem Aspekt des Lesetrainings, sondern mehr auf dem besonderen Vorlese-Erlebnis in der Gruppe.
Für das Format hat Bibliothekspädagogin Tanja Schmidt, die das inhaltliche Konzept verantwortet, drei sehr unterschiedliche Bilderbücher ausgewählt: »Vor meiner Tür auf einer Matte« von Nadia Budde, »Der kluge Fischer« von Heinrich Böll, als Comic gestaltet von Emile Bravo, und »Herr Eichhorn und der Mond« von Sebastian Meschenmoser. Schmidt erklärt, was ihr bei der Zusammenstellung wichtig war: »Bei der Auswahl war darauf zu achten, dass es nicht zu viel Text gibt, damit das Buch in der Veranstaltung ganz vorgelesen werden kann und dass Geschichte und Illustrationen auch für acht- bis zehnjährige Kinder interessant wären. Die drei ausgewählten Bilderbücher haben sich in den Veranstaltungen bewährt. Sie bieten immer wieder viele Gesprächsanlässe, die von den Kindern angeregt aufgegriffen werden.«
Pro Termin wird eines der Bücher gemeinsam gelesen. Mit dabei ist immer ein festes Veranstaltungsteam: jeweils eine Kollegin, die den Roboter bedient und eine Kollegin, die die Veranstaltung moderiert. Das Veranstaltungsformat tourt durch die Bibliotheken der Stadtbücherei, ist also stadtweit präsent und erreicht Kinder in vielen Frankfurter Stadtteilen.
Danke, ich werde durch euch heute sehr schlau
Ada sitzt bequem in einem Sessel, die Kinder sitzen im Halbkreis um sie herum. Nach der Begrüßung stellt Ada sich selbst vor und erklärt, woher ihr Name kommt. Die Kinder stellen sich dem Roboter einzeln vor, was dieser mit »Schön, dass du da bist« oder »Ich freue mich, dich kennenzulernen« erwidert. Ada fordert die Kinder nun auf, ihr aus dem jeweiligen Buch vorzulesen. Die Kinder lesen reihum in ihrem eigenen Tempo vor, nach jeder Seite kommen die Kinder mit der Moderatorin ins Gespräch über den Inhalt oder die Bilder.
Um den Roboter aus seiner nur zuhörenden Rolle herauszulösen, haben wir Fragen zu schwierigen Wörtern vorprogrammiert. Die Moderatorin fragt Ada zum Beispiel, ob sie weiß, was eine Marinadenfabrik ist. Ada antwortet an die Kinder gerichtet mit »Nein, könnt ihr mir das erklären?« An anderer Stelle unterbricht Ada und fragt selbst nach Wörtern, die ihr unbekannt sind. So werden Begriffe, die einige Kinder möglicherweise nicht kennen, über die »Unkenntnis« des Roboters für alle erklärt. Es macht den Kindern großen Spaß, Ada zu belehren. Diese bedankt sich mit »Danke, ich werde durch euch heute sehr schlau«.
Im Anschluss an das Vorlesen stellt Ada den Kindern in einem Multiple-Choice-Quiz Fragen zur Geschichte. Hierbei geht es um Textverständnis; die Kinder überlegen die Antwort in der Gruppe und rufen sie Ada zu. Wenn die Antwort richtig ist, jubelt Ada, bei falscher Antwort gibt sie selbst die richtige Lösung. Nach fünf Quizfragen bedankt sich der Roboter bei den Kindern für die unterhaltsame Vorlesestunde und verabschiedet sich »Tschüss, Arrivederci und Bye-Bye«.
Die Veranstaltung ist hier aber noch nicht zu Ende. Tanja Schmidt erklärt warum: »Bei ›Roboter hört mit! – Laut-
Lesen 4.0‹ geht es uns einerseits um Leseförderung mit spannenden Bilderbüchern sowie um die Förderung der Laut-lese-Kompetenz und andererseits auch um die Förderung von MINT-Erfahrung durch den Umgang mit Zukunftstechnik wie dem Roboter.« Deshalb haben die Kinder nach dem Vorlesen die Möglichkeit, Adas Funktionen, ihre Programmierung und technische Details näher kennenzulernen. Es gibt gewissermaßen einen Bruch in der Fiktion, und Ada wird zur »Maschine degradiert«.
Die Entzauberung, wenn die Kinder erfahren, dass alles, was Ada vermeintlich spontan gefragt und gesagt hat, vorprogrammiert ist, dass also keine »echte« Kommunikation mit dem humanoiden Roboter möglich ist, kommt für manche Kinder überraschend, schmälert jedoch keineswegs die Faszination, die der Roboter auf die Kinder ausstrahlt. Im Gegenteil: Die Kinder haben viele Fragen an die Kolleginnen. Die erste Frage ist meist »Kann Ada auch laufen?« Sie kann nicht nur laufen, sondern zum Beispiel auch Tiere nachmachen, die die Kinder erraten müssen, oder Tai-Chi-Übungen, die sie zum Abschluss gemeinsam mit den Kindern macht.
Deutscher Lesepreis für das Konzept
Der Roboter als aktiver Zuhörer kommt gut an. »Roboter hört mit! – LautLesen 4.0« stößt auf großes Interesse bei Eltern und Kinder; die Veranstaltungen sind immer ausgebucht. Neben dem offensichtlichen Spaß, den die Kinder in der Interaktion mit Ada haben, freuen sich Elfriede Ludwig und Tanja Schmidt besonders, dass ein wichtiger Aspekt des Programms aufgeht: »Alle Kinder lesen ohne Scheu und mit Freude laut vor, obwohl die meisten noch nicht gut vorlesen können. Durch Ada wird eine mögliche Hemmschwelle auf Null gesenkt. Das ist bemerkenswert, gerade auch in einer Gruppe. Genauso bemerkenswert ist, dass alle Kinder konzentriert und geduldig den anderen zuhören – wie Ada.«
Neben den Veranstaltungen im offenen Programm, zu dem Eltern ihre Kinder anmelden können, fand »Roboter hört mit!« auch ein halbes Jahr lang in einer Kooperation mit dem Diakonischen Werk für Frankfurt am Main und Offenbach mit Kindern aus einer Geflüchtetenunterkunft statt. Die Reihe war sehr erfolgreich und wird in diesem Jahr fortgesetzt.
Auch der Lese-NAO in Wildau 2018 war schon ein voller Erfolg. Das Interesse daran war so groß, dass das Evaluationsteam des RoboticLabs Telematik eine Warteliste anlegen musste. Während jeder Runde wurde ein Beobachtungsprotokoll geführt. Im Anschluss gab es ein Gespräch, in denen die Kinder und ihre Begleiter*innen um ihre Meinung gebeten wurden. Dabei wurden auch Verbesserungs- und Erweiterungsvorschläge aufgenommen. Prof. Janett Mohnke ist zufrieden: »Die Ergebnisse dieser Evaluation zeigten zum einen, dass die Idee auch in der Praxis sehr gut ankommt und bei vielen Kindern, deren Eltern und Großeltern große Begeisterung auslöst. Zum anderen wurden sie genutzt, um die Anwendung weiter zu verbessern«.
In Frankfurt am Main hat sich das Projekt jetzt in einem modifizierten Konzept, in der Praxis einer Großstadtbibliothek und zur besonderen Sprachförderung bei geflüchteten Kindern bewährt. Dass die Stadtbücherei Frankfurt 2021 beim Deutschen Lesepreis den ersten Platz in der Kategorie »Herausragende Leseförderung mit digitalen Medien« belegte, ist allen Beteiligten Freude und Ansporn zugleich.
Jetzt wird überlegt, wie die Projekte erweitert und auf andere Szenarien angepasst werden könnten. Das Team des RoboticLabs arbeitet hierzu auch mit Schulen, Volkshochschulen und ganz besonders gerne weiterhin mit Bibliotheken zusammen. Außer Frankfurt experimentieren zurzeit auch die Humboldt-Bibliothek in Berlin-Reinickendorf und die Bücherhallen Hamburg mit dem Lese-NAO. Die Anwendung steht aktuell zweisprachig, in Deutsch und in Englisch, zur Verfügung. Eine Erweiterung auf weitere Sprachen ist möglich.
Wie erfolgreich Wissenschaft und Praxis zusammenarbeiten können, das zeigt das prämierte Projekt »Roboter hört mit! – LautLesen 4.0«. Die Stadtbücherei Frankfurt am Main und die Technische Hochschule Wildau freuen sich schon auf ihre weitere Zusammenarbeit und neue Ideen rund um das Thema Robotics.