Die kritische Edition von Hitlers »Mein Kampf« – Eine Analyse

Hitlers »Mein Kampf«
Die beiden Bände der kommentierten Ausgabe von Hitlers »Mein Kampf« vom Institut für Zeitgeschichte. Foto: Institut für Zeitgeschichte

Am 31. Dezember 2015, also 70 Jahre nach Hitlers Tod, erlischt das Urheberrecht an seinem Buch »Mein Kampf«. Damit kommt ein Dilemma zurück auf die Tagesordnung, das sich 70 Jahre lang vermeintlich einfach im Giftschrank der Geschichte verstecken ließ: Wie soll mit einem Buch umgegangen werden, dessen Autor wie kein zweiter Hass und Vernichtung verbreitet hat und das gewissermaßen als Blaupause dieses Schreckens gilt? Wie soll gleichzeitig aber auch mit einem Buch umgegangen werden, dessen Symbolkraft seine Substanz mittlerweile bei Weitem übersteigt? Das Münchner Institut für Zeitgeschichte hat sich diesen Fragen gestellt und wird zum Januar 2016 eine kritische wissenschaftliche Edition vorlegen. Im Folgenden ein Überblick über Zielsetzung und Arbeitsweise des Editionsprojekts.

Wieso überhaupt eine kommentierte Neuauflage von »Mein Kampf«? Aus Sicht der Wissenschaft gibt es dafür eine eindeutige Antwort: »Mein Kampf« ist Hitlers wichtigste politische Schrift. Sie entstand in den Jahren 1924 bis 1926 in zwei Bänden und ist stilisierte Autobiografie, ideologisches Programm, Parteigeschichte, Hetzschrift und Anleitung zur Erringung der Macht in einem. Große Teile des ersten Bandes entstanden, als Hitler nach seinem Putschversuch vom November 1923 in Landsberg am Lech im Gefängnis saß. Politisch gescheitert und das Aus seiner Partei vor Augen, nutze er die Zeit der Haft, um sein Weltbild erstmals schriftlich niederzulegen und der NSDAP eine neue Perspektive und Strategie zu geben. Nirgendwo sonst hat Hitler das, was er glaubte und wollte, so detailliert und so offen erläutert wie in dieser Schrift. Aus diesem Grund ist »Mein Kampf« eine zentrale historische Quelle, um Hitlers Weltanschauung und Programmatik zu erschließen und damit ein Schlüsseldokument zur Erforschung des Nationalsozialismus. Doch während nahezu alle übrigen Texte Hitlers – seine Reden, sämtliche Parteianordnungen und Lagebesprechungen bis hin zu seinem sogenannten Zweiten Buch (1) – längst publiziert wurden und damit der Forschung zur Verfügung stehen, liegt von »Mein Kampf« bislang keine wissenschaftlich kommentierte Gesamtausgabe vor. Innerhalb der Geschichtswissenschaft wird es deshalb seit Langem als dringend notwendig erachtet, diese Forschungslücke zu schließen.

Eine der ersten Adressen der NS-Forschung

Das Institut für Zeitgeschichte, das seit seiner Gründung im Jahr 1949 weltweit zu den ersten Adressen in der NS-Forschung zählt, kann auf diesem Feld bereits auf vielfältige Expertise verweisen: Das Münchner Institut publizierte in mehreren Bänden Hitlers »Reden, Schriften, Anordnungen 1925-1933« ebenso wie die Edition der Tagebücher von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels oder jüngst die Aufzeichnungen seines Chefideologen Alfred Rosenberg. (2)

Das wissenschaftliche Ziel der Neuveröffentlichung von »Mein Kampf« ist es demnach, das Buch als zeitgeschichtliche Quelle aufzubereiten: Das Editionsteam des Instituts für Zeitgeschichte ordnet die historischen Personen und Ereignisse ein, zeichnet den Entstehungskontext von Hitlers Weltanschauung nach, legt seine gedanklichen Vorläufer offen, prüft seine Behauptungen und propagandistischen Darstellungen auf ihren historischen Gehalt und macht mit seiner wissenschaftlichen Erschließung »Mein Kampf« auch für weiterführende Forschungen über den Nationalsozialismus nutzbar. Schon jetzt hat sich während der Editionsarbeit gezeigt, dass die tiefere Beschäftigung mit Hitlers Schrift vielfältige Anstöße für die Grundlagenforschung liefern kann – angefangen von neuen Erkenntnissen zur Frühgeschichte der NSDAP bis hin zu der in der Geschichtswissenschaft immer wieder zentral diskutierten Frage nach der Bedeutung Hitlers und seiner Person für die spätere Politik des NS-Regimes.

»Eingerahmt wird die wissenschaftliche Kommentierung des Originaltexts durch eine umfangreiche Einleitung sowie ein Sach-, Orts- und Personenregister.«

Doch es wäre zu kurz gesprungen, die Edition rein auf ihre wissenschaftliche Notwendigkeit zu reduzieren. »Mein Kampf«, das ist unbestritten und hat sich auch am öffentlichen Diskussionsbedarf und am enormen Medieninteresse rund um das Forschungsprojekt immer wieder gezeigt, ist kein Projekt für den akademischen Elfenbeinturm. Denn »Mein Kampf«, so die Lehre der letzten 70 Jahre, ist mehr als nur ein Buch – und wer wüsste dies besser als Bibliothekarinnen und Bibliothekare, für die der schwierige Umgang mit dem Werk Teil ihres Berufsalltags ist? So ist »Mein Kampf« zwar entgegen der landläufigen Meinung kein verbotenes Buch – weder der Besitz, noch die Lektüre, noch der Kauf oder Verkauf von antiquarischen Ausgaben ist strafbar. Doch die juristische Lage ist komplex, von der moralisch-ethischen ganz zu schweigen: Wie umgehen mit einer politischen Propagandaschrift, deren Autor nach seinem Machtantritt Europa und die Welt mit einem verbrecherischen Vernichtungskrieg überzogen hat und dessen antisemitische Hetze in den Gaskammern von Auschwitz endete? Darf ein solches Buch überhaupt wieder den Weg in die Regale von Buchhandel und Bibliotheken finden? Wer sich dieser Diskussion ernsthaft stellt, muss konstatieren: Die Existenz des Buches ist ein Faktum und sein Reiz wird nicht geringer, wenn das Buch weiterhin vom Mythos des Verbotenen profitieren kann. Schon jetzt ist Hitlers Text auf vielerlei Wegen zugänglich: Sei es über alte Ausgaben auf Großmutters Dachboden, die das Buch 1939 vom Standesbeamten als Hochzeitsgeschenk überreicht bekam (3) oder in antiquarischen Buchhandlungen, sei es über völlig legal gedruckte englischsprachige Neuauflagen (4) oder mit wenigen Mausklicks als komplette Datei im Internet. Wie einfach es ist, eine vollständige Fassung von »Mein Kampf« im Netz zu erhalten, zeigt eine einfache Google-Abfrage. Ob in Frakturschrift, Antiqua oder gar mit elektronischer Suchfunktion – das Angebot ist groß und unterstreicht nur den Bedarf nach einem seriösen Gegenangebot zur ungefilterten Verbreitung von Hitlers Lügen, Halbwahrheiten und Hasstiraden.

Das Institut für Zeitgeschichte verfolgt deshalb mit seiner Editionsarbeit eine doppelte Zielsetzung und versteht seine Forschung auch ganz bewusst als Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung. Mit wissenschaftlicher Präzision dekonstruiert die kritische Edition Hitlers Propaganda und liefert die Gegenargumente zu seiner Demagogie. Sie wendet sich bewusst nicht nur an die akademische Welt, sondern an einen breiten Leserkreis. Die kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte will damit dazu beitragen, die hohe Symbolkraft von »Mein Kampf« zu entzaubern.

Um diese beiden Ziele zu erreichen, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Editionsteams »Mein Kampf« Kapitel für Kapitel aufbereitet und mit erläuternden Einleitungen versehen. Mehr als 3 500 Anmerkungen

  • liefern Sachinformationen zu den dargestellten Personen und Ereignissen
  • erläutern zentrale ideologische Begriffe
  • legen Hitlers Quellen offen
  • erklären die ideengeschichtlichen Wurzeln seiner Weltanschauung
  • rekonstruieren den zeitgenössischen Kontext
  • setzen Fakten gegenüber sachlichen Fehlern und einseitigen Darstellungen

Ungewöhnlich für eine Edition, spannen die Historiker darüber hinaus den Bogen bis in die Zeit nach 1933 und kontrastieren die Programmatik Hitlers mit seinem tatsächlichen Regierungshandeln.

»Die Existenz des Buches ist ein Faktum und sein Reiz wird nicht geringer, wenn das Buch weiterhin vom Mythos des Verbotenen profitieren kann.«

So wird einerseits der großzügige Weichzeichner deutlich, mit dem Hitler seine biografischen Kapitel übertüncht hat, um sich von der gestrandeten Existenz aus dem Wiener Männerwohnheim zum von der Vorsehung bestimmten »Führer« emporzuschwingen. So wird andererseits der tiefe Sumpf an völkischem Gedankengut sichtbar, das schon lange vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten in rassistischen und antisemitischen Hetzschriften und Propagandabegriffen zirkulierte und Hitler damit umso mehr als Produkt seiner Zeit, als radikales Sprachrohr eines bereits vergifteten Zeitgeists erscheinen lässt. Nicht zuletzt macht der Blick auf die Jahre nach 1933 klar, mit welcher erschreckenden Konsequenz ein Teil der Parolen in faktisches Regierungshandeln umgesetzt wurde: Schwadroniert Hitler in »Mein Kampf« noch darüber, dass es Aufgabe des Staates sei »was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet« ist, für »zeugungsunfähig« zu erklären, setzt der Kommentar der Editoren die Realität im NS-Staat dagegen und verweist auf das bereits 1933 erlassene »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das den Weg für tausendfache Zwangssterilisierungen bereitete. (5)

Eingerahmt wird die wissenschaftliche Kommentierung des Originaltexts durch eine umfangreiche Einleitung sowie ein Sach-, Orts- und Personenregister. Analog zum Original erscheint die Edition in zwei Bänden und präsentiert den Hitler-Text so auch in der ursprünglichen Paginierung der Erstausgabe von 1924/26. Das Layout ist so konzipiert, dass auf keiner Seite Hitler unkommentiert zu Wort kommen wird. Der Umfang der IfZ-Edition liegt damit bei etwa 2 000 Seiten, also ungefähr dem doppelten Volumen der Originalausgabe. Erscheinen wird die Edition unmittelbar nach Ablauf des Urheberrechts im Januar 2016. Angesichts der sensiblen Thematik hat sich das Institut für Zeitgeschichte entschieden, das Buch im Selbstverlag zu veröffentlichen, um damit auch ein klares Signal gegen jegliche kommerzielle Interessen im Zusammenhang mit einer Neuveröffentlichung von »Mein Kampf« zu setzen. In diesem Kontext ist auch die Preisgestaltung zu sehen: Mit 59 Euro ist die zweibändige Edition auf Grundlage der Herstellungskosten kalkuliert und soll den Anspruch der historisch-politischen Aufklärung auch für ein breites interessiertes Publikum erschwinglich machen.

Dienst im Sinne der Opfer des Nationalsozialismus

Was wird passieren, wenn also nun zum 31. Dezember die urheberrechtliche Frist verstreicht und »Mein Kampf« aus dem Giftschrank geholt wird? Die Arbeit an der Edition wurde in den vergangenen Jahren von einer intensiven öffentlichen Debatte begleitet, der sich das Institut mit einem Höchstmaß an Transparenz zu stellen versucht hat und aus der sich sicher bereits einige Erkenntnisse ableiten lassen: Bei aller medialen und politischen Aufgeregtheit, die das Thema provoziert, ist es doch bemerkenswert, wie sachlich und im positiven Sinne abgeklärt das Für und Wider in der Öffentlichkeit abgewogen wurde. Befürchtungen, dass von einer Neuveröffentlichung eine echte Gefahr ausgehe, haben nicht nur Experten aus der politischen Bildung, sondern jüngst sogar das Bundesamt für Verfassungsschutz entkräftet: »Mein Kampf« spiele als rechtes Propagandainstrument keine Rolle mehr, die Neonazi-Szene orientiere sich längst an anderen Themen und Codes. (6) Dies soll keinesfalls ein Argument zur Verharmlosung sein, wohl aber eines dafür, dass gerade angesichts der allfälligen Verfügbarkeit des Buches ein Verbot allenfalls symbolische Bedeutung hätte, an der Existenz rechtsradikalen Gedankenguts aber nichts ändern würde. Das Institut für Zeitgeschichte hat deshalb immer betont, dass es seine Arbeit an der Edition auch und gerade als Dienst im Sinne der Opfer des Nationalsozialismus versteht: Bei der Befassung mit »Mein Kampf« geht es auch darum, sich anhand einer zentralen Quelle wissenschaftlich fundiert damit auseinanderzusetzen, wie Hitlers Demagogie funktionierte und welche geistigen Vorläufer und gesellschaftlichen Bedingungen diese Ideologie befördert haben, sich also noch einmal den eigentlichen Kernfragen zu stellen, was Hitler und den Nationalsozialismus in Deutschland überhaupt möglich machte. Das Buch noch länger unter Verschluss zu halten, würde dagegen eher den gegenteiligen Effekt erzeugen und anstatt einer mündigen und kritischen Auseinandersetzung nur weiter eine gefährliche Mythenbildung schüren.

Die kommentierte Fassung soll in diesem Sinne ein Angebot sein, wie sich eine demokratische Gesellschaft 70 Jahre nach Hitlers Tod mit seiner Ideologie und seiner Propaganda auseinandersetzen kann und dafür das wissenschaftliche Handwerkszeug liefern.

 

Simone Paulmichl ist Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Institut für Zeitgeschichte München – Berlin. Die gelernte Tageszeitungsredakteurin hat bei der »Augsburger Allgemeinen« volontiert und war von 1999 bis 2012 Pressesprecherin der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Bayerischen Landtag. Sie hat Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Amerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert und mit Magister abgeschlossen.

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(1) Hitlers »Zweites Buch« ist ein zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebener Versuch aus dem Jahr 1928, eine Fortsetzung von »Mein Kampf« zu schreiben. Im Zentrum stehen außenpolitische Überlegungen. Veröffentlicht wurde es unter Gerhard L. Weinberg (Hrsg.): Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, Stuttgart 1961.

(2) Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.): Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen 1925-1933, 6 Bde., München 1992-2003; Elke Fröhlich u.a. (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, 32 Bde., München 1993-2008; Frank Bajohr/Jürgen Matthäus (Hrsg.): Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt a. M. 2015

(3) Seit 1936 wurden sogenannte Hochzeitsausgaben hergestellt, die Brautpaare im Namen und auf Kosten der Stadt vom Standesbeamten geschenkt bekamen. Diese zählen noch heute zu den am meisten verbreiteten Exemplaren in Antiquariaten oder auf Flohmärkten (vgl. Christian Hartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Töppel (Hrsg): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, München 2016, S. 67

(4) Bereits 1933 hatten sich ein britisches und ein amerikanisches Verlagshaus die Rechte an der englischen Übersetzung von »Mein Kampf« gesichert. Die englische Version ist damit vom deutschen Urheberrecht nicht betroffen (vgl. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, S. 9).

(5) Auf Grundlage des 1933 erlassenen »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« wurden zwischen 1934 und 1945 in Deutschland etwa 400 000 Menschen unter Zwang sterilisiert. Schätzungsweise 5 000 bis 6 000 Frauen und 600 Männer starben an den Folgen dieses Eingriffs (vgl. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, 2. Bd., S. 37).

(6) Vgl. »Keine Angst vor ›Mein Kampf‹«, in: »Der Spiegel«, Heft 41/2015, S. 13

 

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