»Chemnitz diskutiert« als Vorbild für Bibliotheken?

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[caption id="attachment_13375" align="alignleft" width="597"] »Chemnitz diskutiert«: An fünf Tischen diskutierten die Teilnehmer miteinander über die Sicherheit in der Innenstadt vor dem Hintergrund der Zuwanderung. Fotos: Uwe Mann[/caption]

 

 

 

»Wir wollen, dass Sie schöner streiten!«[1] Ein spannendes Projekt, für das sich die Bibliotheken öffnen möchten – und das nicht zuletzt auch Potenzial für den Umgang mit rechter Literatur bietet. In Zeiten, in denen die Gesellschaft auseinanderzudriften scheint, braucht es neue Möglichkeiten, (wieder) miteinander ins Gespräch zu kommen. Gestritten in der Sache wurde auch bei einem neuen Diskussionsformat, das die regionale Tageszeitung »Freie Presse« aufgelegt hat. Sie erscheint mit einer Auflage von mehr als 200 000 Exemplaren in der Region Chemnitz in Sachsen.

 

Das Format »Chemnitz diskutiert« war von der Redaktion nicht etwa von langer Hand vorbereitet worden. Es entstand vielmehr aus der besonderen Situation heraus, die nach den »Chemnitz-Ereignissen« Ende August/Anfang September 2018 in der Stadt herrschte: Am Wochenende des Stadtfestes, der Veranstaltung mit der höchsten Besucherresonanz (250 000 Gäste jährlich) in Chemnitz, ist ein 35-Jähriger mit mehreren Messerstichen getötet worden. Der Tatort liegt mitten im Zentrum, am Rande des Festgeländes. In der Folge kam es zu Kundgebungen, die zum Teil in gewalttätigen Ausschreitungen mündeten. Daran teilgenommen hatten auch Neonazis, Hooligans, Rechtsextreme, die bundesweit binnen Stunden mobilisiert worden waren. An den ersten beiden Tagen war die Polizei dem Geschehen nicht gewachsen. Sie hatte Anzahl und Gewaltbereitschaft der Teilnehmer unterschätzt. Bilder aus Chemnitz, die gewaltbereite Hooligans mit Hitlergruß auf der einen, Wasserwerfer auf der anderen Seite zeigten, gingen um die Welt.

 

Wie reagierten die Chemnitzer auf die Ereignisse und auf das Bild, das von ihrer Stadt gezeichnet wurde? Zunächst kaum. Die Stadt war gelähmt, im Schockzustand. Weder von der Stadtspitze noch aus der Mitte der Gesellschaft heraus gab es geeignete Angebote, die Geschehnisse zu verarbeiten. Zwar wurden Großveranstaltungen mit Oberbürgermeisterin, Landespolitikern und Hunderten Besuchern organisiert. Ein Gespräch kam in dieser aufgeheizten Atmosphäre jedoch nicht zustande. Das war es aber, was viele Chemnitzer suchten, wie uns Reaktionen in Briefen und zahlreichen Anrufen am Lesertelefon zeigten.

 

Häufiger und intensiver als in »normalen Zeiten« haben Chemnitzer den Kontakt zur Redaktion gesucht. Sie wollten reden – aber nicht nur über das Geschehene, sondern vor allem darüber, wie es weitergehen kann in der Stadt, wie die tiefen Gräben geschlossen werden können. Deshalb hat sich die »Freie Presse« schon wenige Tage nach den Ereignissen entschieden, das Gesprächsformat »Chemnitz diskutiert« aufzulegen und eine Diskussionsplattform anzubieten.

 

Die eingeladenen Leserinnen und Leser (30 insgesamt) waren zum einen 15 Personen, die in diesen Tagen auf die Redaktion zugekommen waren – mit Kritik und Anregungen – oder aufgrund ihres Engagements, ihrer Tätigkeit oder Herkunft ausgewählt wurden, darunter Flüchtlingskritiker ebenso wie Flüchtlingshelfer. Hinzu kamen 15 weitere Personen, die aus 32 schriftlichen Anmeldungen ausgelost worden waren. Das Format der Veranstaltung und das Teilnahmeverfahren wurden vorab in der Zeitung veröffentlicht. Jeder konnte über einen Coupon sein Interesse anmelden.

Leitgedanke: Der andere könnte recht haben!

Wie ist die Veranstaltung abgelaufen? Sie fand in einer Location statt, die mehrere Räume bot, um den bewusst gewählten Werkstatt-Charakter zu unterstreichen. An fünf Tischen diskutierten je sechs Teilnehmer miteinander über die Sicherheit in der Innenstadt vor dem Hintergrund der Zuwanderung. Die Workshops liefen parallel zueinander ab. Es wurde nicht über das Große und Ganze diskutiert, sondern über die konkrete Situation in der Stadt.

 

Jeder Tisch wurde von einem Moderator begleitet. Dafür konnten wir Persönlichkeiten der Stadt gewinnen, wie den Superintendenten, den Generalintendanten des Theaters oder die Präsidenten eines Sportvereins, dessen Mannschaft in der zweiten Bundesliga spielt. Für die Dokumentation in der Zeitung wurden die Gespräche an jedem Tisch jeweils von einem Journalisten festgehalten. Zur Seite standen den Diskutanten außerdem zwei Experten: der ehemalige Polizeipräsident sowie eine in der Flüchtlingsarbeit engagierte Helferin. Sie standen den Teilnehmern der Workshops für Fragen zur Kriminalitätsentwicklung und Integration zur Verfügung.

 

[caption id="attachment_13376" align="alignright" width="300"] In Kleingruppen wurden Ideen für eine lebenswerte Stadt gesammelt, in der sich alle wohlfühlen können.[/caption]

 

Die fünf parallel laufenden Workshops waren in drei Abschnitte gegliedert: Zunächst wurden Probleme beschrieben und priorisiert, danach Lösungsansätze erarbeitet und zum Schluss in großer Runde präsentiert.

 

Die Folgen: »Chemnitz diskutiert« hat Menschen mit sehr unterschiedlichen Anschauungen miteinander ins Gespräch gebracht. Die entwickelten Vorschläge wurden publiziert, einer davon nur Tage danach von der Stadt aufgegriffen und kurz darauf realisiert. In der Stadt stehen nun mehr Frauenparkplätze zur Verfügung, die auf gut beleuchteten Wegen unmittelbar in der Innenstadt erreichbar sind. Das war ein Anliegen vor allem aus der Gastronomie und dem Einzelhandel, die damit die Situation für die oft bis spät in den Abend arbeitenden Mitarbeiterinnen verbessern wollten.

 

Die Resonanz auf das Workshop-Format war durchweg positiv. Geschätzt wurde vor allem der vergleichsweise kleine Gesprächskreis, bei dem jeder zu Wort kam, bei dem jeder jedem Respekt zollte und der unter dem Leitgedanken stattfand: »Der andere könnte recht haben.« Es war die erste »Spielregel«, die als Etikette in allen Räumen ausgehängt war. Dazu gehörten außerdem: »Ich höre zu und versuche zu verstehen. Ich habe Respekt vor meinem Gesprächspartner. Wir streiten über die Sache, nicht über Menschen und ihre Meinungen. Wir halten Unterschiede aus, suchen trotzdem nach Verbindendem. Es geht um konkrete Probleme und Lösungen vor Ort, nicht um das große Ganze. Beleidigungen und Hetze machen jedes Gespräch unmöglich.«

 

Nach der guten Erfahrung soll das aus einer Ausnahmesituation heraus entstandene Gesprächskonzept »Chemnitz diskutiert« verstetigt werden. Die nächste Veranstaltung fand Ende April statt. Das Thema – Verkehrssituation in der Stadt – konnten die Leser aus drei Vorschlägen selbst wählen.

Die Autorin

Mandy Fischer (Foto: Uwe Mann): In Zwickau, Sachsen, geboren (1972) und aufgewachsen, nach dem

Abitur Volontariat bei der »Freien Presse«, seit 1992 Redakteurin. Ab 2004 Leiterin der Lokalredaktion Stollberg, 2008 Wechsel nach Zwickau als Leiterin der Regionalredaktion Westsachsen. Seit November 2013 stellvertretende

Redaktionsleiterin in Chemnitz.

Mandy Fischer, Freie Presse Chemnitz / 14.6.2019

(zuerst erschienen in BuB 06/2019)

 

 

[1] Die Lektoratskooperation aus Berufsverband Information Bibliothek (BIB), Deutschem Bibliotheksverband (dbv) und der ekz.bibliotheksservice GmbH hat beim diesjährigen Bibliothekskongress in Leipzig das bundesweit bekannte Format »Deutschland spricht«, an dem sich neben tagesschau.de viele weitere nationale und regionale Medien wie Spiegel, Süddeutsche Zeitung und Zeit beteiligen, unter dem Slogan »Wir möchten, dass Sie schöner streiten« aufgegriffen und die Möglichkeiten einer Ausweitung dieser Diskussionsveranstaltung auf Öffentliche Bibliotheken ausgelotet. Kern des Formats ist: Menschen mit gegensätzlichen Meinungen reden miteinander statt übereinander – direkt, persönlich, in kleinen Gruppen.

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