Mit Bourdieu in der Bibliothek - Ein kritischer Blick auf aktuelle Bibliotheksräume

Aus dem Archiv: Eine Analyse moderner Bibliothekskonzepte hinterfragt, wie ästhetische Urteile soziale Positionen widerspiegeln und welche Rolle Architektur in der Inklusion spielt.
Das Foto zeigt die James B. Hunt Library auf dem Centennial Campus der North Carolina State University in Raleigh. Foto: zimmytws - stock.adobe.com

 

»Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 2016) berichten über eine großangelegte französische Studie einer Arbeitsgruppe um Pierre Bourdieu, welche in den 1970er-Jahren der Frage nachging, wie sich in der Bevölkerung Geschmack verteilt. Die Studie war empirisch angelegt und umfasste mehrere tausend Interviews, die bei Personen daheim durchgeführt wurden. Dabei wurden zum Beispiel Angaben zu deren Wohnstil aufgenommen und als Daten integriert. Am Ende entstand aus diesen Daten ein Modell, das unterschiedliche Formen von Kapital (ökonomisches, soziales, kulturelles) beschrieb, die eingesetzt werden, um mehr Kapital zu erarbeiten. Dieses Kapital wird vererbt, umgewandelt, vermehrt. Relevant war in der Studie auch der Nachweis, dass Geschmack, Stil, das was als schön, hässlich, praktisch, funktional verstanden wird, an die soziale Schicht gebunden ist.

 

Ästhetische Urteile sind soziale Urteile

Menschen verstehen Ästhetik als persönliche Entscheidung: Was ich hübsch finde, was ich als gute Musik oder Kunst, Möbel oder Kleidung, Essen oder Ausgehgelegenheiten ansehe, sei meine Entscheidung, ganz individuell. Bourdieu und seine Arbeitsgruppe zeigten, dass das nicht so ist. Alle ästhetischen Urteile werden zwar individuell getroffen, aber sie sind eng damit verbunden, wo Personen in der Gesellschaft verortet waren und sind. Einzelne Personen fallen immer heraus, innerhalb sozialer Schichten gibt es Alternativen, aber im Großen und Ganzen bleiben die ästhetischen Urteile an die soziale Position gebunden.

Es gab seitdem zahllose Texte, in denen behauptet wurde, dass dies jetzt nicht mehr so sei. Die Menschen wären jetzt freier in ihren Urteilen, die Alternativen zahlreicher, Ästhetik sei Privatsache und so weiter. Aber: Immer, wenn es empirisch untersucht wurde, zeigte sich, dass weiterhin stimmt, was bei Bourdieu gezeigt wurde (vgl. Haut 2011, der dies explizit thematisiert). Es gibt Verschiebungen im Großen – klassische Musik hat zum Beispiel insgesamt weniger Bedeutung, die Bedeutung von Fernsehen hat sich verschoben –, aber nicht in der Struktur.

 

Bibliotheksräume

Hat man das im Hinterkopf, sind aktuelle Entwicklungen beim Bau von Bibliotheksräumen erstaunlich. Aktuell werden in Deutschland wieder Bibliotheken neu- und umgebaut, die große Begeisterung bei Kolleginnen und Kollegen auslösen. Dabei wird aktuell oft betont, dass sie in partizipativen Prozessen erarbeitet wurden, den Anspruch haben, für alle Menschen offen zu sein, soziale Kommunikation zu ermöglichen und helfen sollen, Communities zu bilden. Das scheint als neu begriffen zu werden (was es historisch nicht ist, aber das ist nicht Thema des Artikels.)

Zum Beispiel die Stadtteilbücherei Hubland in Würzburg: genau mit diesem Anspruch eingerichtet, in einem Prozess, der möglichst viele Stakeholder einband und heute unter anderem eine »Staffless Library«, vermarktet unter der Bezeichnung »öffentliches Wohnzimmer für alle«. Im Rahmen einer Weiterbildung besuchte ich, der Autor dieses Textes, diese im September 2019. Anja Flicker, Leiterin der Stadtbücherei, führte sichtlich überzeugt in diese ein und schilderte positive Nutzung und Rückmeldungen von Nutzenden (wie auch in Flicker 2019). Anschließend waren die meisten anwesenden Kolleginnen und Kollegen begeistert, wanderten durch die beiden Etagen, machten zahllose Fotos. »Hier will ich arbeiten«, war zu hören. Das scheint eine normale Reaktion zu sein, ich habe sie auch in anderen solchen Bibliotheken erlebt.

»Was hier und anderswo gebaut wurde, scheinen Räume für und vom unteren Mittelstand zu sein, zu dem die meisten Kolleginnen und Kollegen in Öffentlichen Bibliotheken gehören.«

Selber konnte ich das auch »in live« nicht nachvollziehen. Die Bibliothek mag modern sein, Möbel enthalten, die secondhand sind – aber nicht so aussehen – und durchdesignt sein. Verschiedenste Menschen mögen bei der Erarbeitung der Bibliothek beteiligt gewesen sein. Sie mag den Anspruch haben, offen zu sein für Menschen aller Schichten und Herkünfte. Es ist aber nicht ersichtlich, wie diese Bibliothek ihren Anspruch erfüllen soll. Sie sieht aus und fühlt sich an, wie der wahr gewordene Traum des Mittelstandes: funktional, ordentlich, wenig verspielt, dafür mit klaren Aufgaben, die in den einzelnen Ecken angelegt sind. Simulierte Lebendigkeit. Die zufällig anwesenden Nutzenden verhielten sich auch genauso, dass sie in so einen Raum hineinpassen.

Aber wenn ästhetische Urteile auch soziale Urteile sind, ist das verständlich. Was hier und anderswo gebaut wurde, scheinen Räume für und vom unteren Mittelstand zu sein, zu dem die meisten Kolleginnen und Kollegen in Öffentlichen Bibliotheken gehören. Diese Räume scheinen eine Haltung zu Medien, zwischenmenschlichen Kontakten, Offen- und Geschlossenheit von Angeboten, Vorstellungen darüber, wie Gesellschaft im Lokalen funktioniert, umzusetzen, die spezifisch für eine soziale Schicht mit ungefähr gleichem ökonomischen, sozialen, kulturellen Kapital ist.

 

Design weiß wenig vom Sozialen

Wie kann das sein, insbesondere, wenn doch anderes angestrebt wird? Eine Vermutung ist, dass die Methoden, welche gewählt werden, und die Grundsätze, die diesen eigen sind, dabei eine wichtige Rolle spielen. Aktuell wird oft versucht, sich am Design und dessen Arbeitsweisen zu orientieren, deshalb wohl auch die Begeisterung für Design Thinking.

Es gibt eine Geschichte von Versuchen, Design (und Ähnliches wie Architektur und Städtebau) einzusetzen, um eine bessere, offene Welt zu schaffen und dann an diesen Ansprüchen zu scheitern. Immer wieder setzen sich bei solchen Design- oder ähnlichen Prozessen Vorstellungen durch, die eher dem Mittelstand oder gar den oberen Schichten der Gesellschaft entsprechen. Das ist heute, wo unter dem Schlagwort des Social Design vor allem Märkte und Begegnungszonen gebaut werden, die ein eher mittelständisches Verhalten erzwingen, nicht anders als bei Stadtplanungen, die soziale Kohäsion verstärken sollten, aber zu sozialer Spaltung führten (vgl. Sennett 2018, der genau darüber nachdenkt und einige Bespiele diskutiert).

»Die Situation scheint so zu sein, dass neue Bibliotheken mit dem Anspruch gebaut werden, offen für alle zu sein, aber aktuell vor allem so gebaut werden, dass sie von diesem Ziel wegführen.«

Wichtig ist aber nicht der Anspruch, sondern das, was tatsächlich gebaut wird. Dabei scheint oft vergessen zu gehen, dass Design gerade keine Wissenschaft von Gesellschaft und Kultur ist. Das sind eher Soziologie und Ethnologie. Design und verwandte Felder mögen anstreben, sozial zu sein, ihr Wissen und Können für eine bessere Gesellschaft einzusetzen. Aber ihre Vorstellungen davon wie Gesellschaft funktioniert, sind oft unterkomplex, einfach, ohne empirische und historische Grundlage. Deshalb funktioniert sie auch selten.

Wenn zum Beispiel ästhetische Urteile als Privatsache angesehen werden, die, wenn nur richtig gemanagt, in besser gestalteten Räumen ausgeglichen werden könnten, reproduziert das am Ende Überzeugungen aus der spezifischen Schicht, aus dem der Großteil derer stammt, die in diesem Feld arbeiten. Das geht dann über das aus der Soziologie bekannte Wissen darüber, dass ästhetische Urteile soziale Urteile sind, genauso hinweg wie über das Wissen, dass historisch viele Designprojekte, die mit dieser Überzeugung durchgeführt wurden, gescheitert sind. Bibliotheken sollten sich davon nicht irritieren lassen, sondern das Wissen aus den richtigen Feldern für die richtigen Aufgaben verwenden.

 

Exkurs: Drei Cafés in Neukölln

Dass soziale Urteile gebaut werden und Auswirkung darauf haben, wer sie wie nutzt, lässt sich auch in jeder größeren Stadt selber nachvollziehen. Ich wähle ein Beispiel aus Berlin-Neukölln, aber nur, weil ich dort wohne.

Es gibt dort ein von einem australischen Paar geführtes Café. Als es eröffnet wurde, hörte ich mit, wie für eines der hundert Lifestyle-Blogs ein Interview mit diesem Paar geführte wurde. Sie legten ihre Vision dar: Das Café solle für alle offen sein, auch für die ohne Geld. Alle sollten kommen, es solle sich eine Gemeinschaft bilden, zusammengesetzt aus allen Schichten, egal ob neu oder schon immer oder nur kurz in Berlin.

Ich schaute mich um im Café und fragte mich, ob das ein Witz sein sollte. Der Raum ist so eingerichtet, wie der Mittelstand sich ein Berliner Café vorstellen würde: hell, viel Holz, leicht designt, funktional. Espressomaschine, high quality coffee, dass Essen wie in Melbourne – etwas exotisch, aber nicht zu viel. Viel Avocado. Heute ist das Café ein Hotspot für Expats. Man kann dort gut Tee trinken, aber nicht verweilen.

»Bibliotheken sollten sich nicht Methoden hingeben, die behaupten, Differenzen zwischen verschiedenen Stakeholdern, sozialen Gruppen et cetera ließen sich einebnen, zum Beispiel wenn man nur zusammen gestalten würde.«

Ein paar Meter weiter findet man eine billige Backstube, etwas lokal geprägt mit Fladenbrot und Baklava, aber sonst mit den überall gleichen aufgebackenen oder gelieferten billigen Backwaren, Kaffee aus der einfachen Maschine. Die Möbel sehen verbraucht und wie im Baumarkt gekauft aus. Alles gekachelt, ein wenig schäbig. In den Fenstern werden Angebote angepriesen. Diese Backstube ist immer voll. Einige Menschen verbringen hier viel Zeit, es ist laut. Kleidung und Verhalten ist anders als im ersten Café. Nicht nur die Preise legen nahe, dass die Menschen hier aus anderen sozialen Schichten stammen.

Ein bisschen weiter ein drittes Café. Es hat Räume nach hinten, alles ist verbraucht: die Möbel, der Raum, die Toiletten. An der Wand (wechselnde) zeitgenössische Kunst. Das Angebot zwischen traditionell und exotisch, aber auch mit Standards wie Bier und einfachem Kaffee. Viele Leute kommen hierher, um lange an den Tischen hinten zu sitzen und zu arbeiten (zum Beispiel an diesem Artikel). Es ist auch ein Raum, in dem sich eher eine bestimmte Gruppe von Menschen findet: auch aus dem Mittelstand, aber vielleicht nicht so gut abgesichert, mit einem Interesse an Offenheit und Privatsphäre.

Gibt es Menschen, die alle drei Cafés nutzen? Sicherlich, ich zum Beispiel. Wird jemand aktiv aus einem Café ausgeladen? Auf keinen Fall, überall wird man freundlich begrüßt (für den Berliner Kontext). Und doch zeigen sich in den Räumen und den sozialen Werten, die sie präsentieren und ermöglichen, offenbar Barrieren für Menschen aus bestimmten Schichten und für bestimmte Verhaltensweisen. Deshalb »sortieren« sich die Menschen mehr oder minder in verschiedene Cafés ein und folgen dabei ästhetischen Werturteilen, die eng verbunden sind mit ihrer jeweiligen sozialen Position.

Cafés scheinen ein einfaches Beispiel zu sein, aber diese Effekte beschränken sich nicht auf sie. Sie treffen selbstverständlich auch auf Bibliotheken zu.

 

Das lässt sich testen

Die Situation scheint so zu sein, dass neue Bibliotheken mit dem Anspruch gebaut werden, offen für alle zu sein und  gesellschaftliche Funktionen zu übernehmen, aber aktuell vor allem so gebaut werden, dass sie von diesem Ziel wegführen. Wenn es tatsächlich so ist, dann sollten Bibliotheken damit aufhören.

Die Situation ist sehr gut, um dies zu überprüfen: Es gibt jetzt auch in Deutschland einige dieser neu gebauten Bibliotheken, die aussehen wie durchgestylte Cafés, aber gleichzeitig den Anspruch haben, offen zu sein, Communities zu bilden, soziale Aufgaben zu übernehmen et cetera. Wir können in diese gehen und untersuchen, welche Effekte sie tatsächlich haben. Nicht, welche sie haben sollen und für welche sie gebaut wurden. Wie im ersten Café können die Betreibenden solche Ziele haben, während andere Personen sich fragen, ob das ein Witz sein soll. Die Theorie und Methodiken dazu liegen in zahlreichen Dissertationen, Studien und soziologischen Klassikern vor. Nicht im Design oder der Marktforschung, deren Methoden auf andere Fragen gerichtet sind.

Einige der Fragen, die zu klären wären:

  • Wer – im Sinne von wer aus verschiedenen sozialen Schichten, aber auch nach anderen Kategorien – nimmt die Bibliotheksräume wie war? Welche Aufgaben schreiben diese der konkreten Bibliothek zu?
  • Wie verstehen Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten die neu gebauten Räume? Sehen sie »integrierte« Aufgaben, Anforderungen, Potenziale? Was denken sie, für wen diese Bibliotheken offen sind?
  • Wovon fühlen sich Personen aus verschiedenen Schichten abgestoßen, aufgehalten oder eingeladen in diesen Räumen?

Dabei müsste nach Effekten, die sich aus sozialen Schichten ergeben, geschaut werden. Wir haben auch hier Studien, die im Anschluss an Bourdieu Hinweise auf ästhetische Urteile, die aktuell verbreitet sind, geben und die wir anhand von gebauten Bibliotheksräumen testen können.

 

Was soll man bauen?

Wenn man aber eine Bibliothek bauen oder neu einrichten kann, was soll man dann bauen, wenn man der hier dargestellten Argumentation folgt? Auch dafür gibt es einige Ansätze:

Bibliotheken sollten sich nicht Methoden hingeben, die behaupten, Differenzen zwischen verschiedenen Stakeholdern, sozialen Gruppen et cetera ließen sich einebnen, zum Beispiel wenn man nur zusammen gestalten würde. Solche Methoden fördern offenbar nur, dass sich Vorstellungen von Schichten, die in der Gesellschaft ohnehin machtvoll sind, durchsetzen. Vielmehr sollten Methoden gewählt werden, die Kompromisse ermöglichen, ohne Unterschiede einzuebnen. Durchgängig sollte darauf geachtet werden, wer sich beteiligt und daraus Schlüsse gezogen werden.

Auch zu der Frage, welche Räume und Infrastrukturen tatsächlich soziale Kontakte und Nutzung durch Personen aus verschiedenen sozialen Schichten ermöglichen, gibt es soziologische Untersuchungen (zum Beispiel, eher wahllos herausgegriffen, Mawer & Kiddle 2019). Bibliotheken können sich an deren Ergebnissen orientieren: Einfache, unprätentiöse Räume, die tatsächlich genutzt aussehen und die möglichst wenig ästhetische oder andere Barrieren gegenüber unterschiedlichen Gruppen präsentieren, dafür eine gewisse Privatsphäre ermöglichen. Das sind keine durchdesignten Räume. Eher solche, die möglichst viele Menschen aus möglichst vielen Schichten langweilig und unauffällig finden. Deshalb funktioniert der oben genannte Backshop auch viel besser als Ort, an dem man sich trifft, als die beiden anderen Cafés.

Nicht zuletzt sollte man wieder akzeptieren, dass die meisten Bibliothekarinnen und Bibliothekare und die meisten Designer/-innen aus jeweils ähnlichen sozialen Schichten kommen – und die damit verbundenen ästhetischen Urteile tendenziell teilen. Das gilt auch dafür, welche Methoden man als sinnvoll ansieht, um diese Urteile zu erheben. Dagegen kann man nicht angehen, indem man behauptet, dass das nicht so wäre. Soziologie lesen hilft besser – auch in Zukunft –, zumindest die verschiedenen Vorstellungen zu verstehen, als Design.

 

Literatur

Bourdieu, Pierre (2016 [1979]). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main, 25. Aufl., 2016

Flicker, Anja (2019). Was die Kunden wollen. In: BuB 71 (2019) 7: 416-421.

Haut, Jan (2011). Soziale Ungleichheiten in Sportverhalten und kulturellem Geschmack: eine empirische Aktualisierung der Bourdieu’schen Theorie symbolischer Differenzierung. Münster, 2011

Mawer, Chantal; Kiddle, Rebecca (2019). Suburban shopping malls as spaces for community health and human flourishing: an Aotearoa New Zealand case study. In: Journal of Urban Design   2019, doi.org/10.1080/13574809.2019.1649594

Sennett, Richard (2018). Building and dwelling: ethics for the city. London, 2018

zuerst erschienen in BuB 02-03/2020

Dr. Karsten Schuldt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaften, FH Graubünden. Forscht vor allem zu sozialen und historischen Fragen des Bibliothekswesens. Arbeitet und lebt in Berlin, Chur und Lausanne.

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