Eine Bibliothek ist ein Dritter Ort oder soll sich auf den Weg dorthin machen. In Deutschland hat sich diese Sichtweise in den vergangenen Jahren rasant verbreitet. Auch Christoph Höwekamp war lange Zeit von dieser Idee fasziniert, bis er im Gespräch mit Rob Bruijnzeels (»Ministerium für Vorstellungskraft« der Niederlande) seine Ansichten dazu zu hinterfragen begann. Als Vordenker im Bibliotheksbereich (unter anderem »In sieben Schritten unterwegs zur Bibliothek der Zukunft«) betrachtet Bruijnzeels die Dinge gerne ganzheitlich und in längerfristigen Perspektiven. Höwekamp traf den niederländischen Bibliotheksexperten in der Hochschule der Medien Stuttgart, wo Bruijnzeels das Seminar »Bibliotheken neu denken« hielt.
Christoph Höwekamp: Rob, in Deutschland ist der Begriff »Dritter Ort« oder auch »Wohnzimmer der Stadt« in Bibliotheken sehr populär. Wie hast Du die Entwicklung in Deutschland verfolgt?
Rob Bruijnzeels: Die Diskussion hierüber gibt es auch in den Niederlanden, aber in Deutschland ist sie viel präsenter, da hier alle über »Dritte Orte« reden, auch in Bibliotheksentwicklungsplänen taucht der Begriff auf. Einerseits konnte man das erwarten. Es passiert so viel mit Bibliotheken und Politikern muss man schnell vermitteln, was eine Bibliothek heutzutage ist. Der Begriff ist offensichtlich etwas, womit sie sofort »gute Laune« bekommen und Ideen auch umgesetzt sehen möchten. Auf dieser Ebene, also wenn man es politisch als Bild verwendet, finde ich das in Ordnung. Auf der anderen Seite habe ich es auch mit ein wenig Staunen wahrgenommen. Ich kenne Deutschland als seriöses Land mit sehr viel Fachliteratur, worüber wir in den Niederlanden ein wenig neidisch sind. Diese ist oft auch sehr theoretisch und sehr gründlich. Daher habe ich mich sehr darüber gewundert, dass Bibliothekare untereinander auch über diesen Begriff reden.
Als eine Art »Verabredungsbegriff«, um ein Bild zu erzeugen, kannst Du ihn also verstehen. Er hat auch sehr geholfen, die Aufenthaltsqualität von – nicht nur Öffentlichen – Bibliotheken in den Fokus zu rücken. Was ist mit der anderen Seite?
Wir selbst verwenden den Begriff im »Ministerium für Vorstellungskraft« (niederländisch: »Ministerie van Verbeelding«) nicht. Für mich ist er eine Ablenkung von einer seriösen Debatte, über das, was eine Bibliothek heutzutage sein kann.
Was wäre denn eine Alternative zum Begriff? Manche verwenden das Wort »Lieblingsort«. Brauchen wir nicht irgendein Bild?
Wir haben schon ein Bild und das ist »Bibliothek«! Aber sicher, für Jahrhunderte war deutlich, was Bibliotheken sind. Und dann ist sehr viel passiert. Ich glaube, dass Bibliotheken gegenwärtig nicht mehr richtig artikulieren können, was eine Bibliothek ist. Das »Warum?« von Bibliotheken ist nicht mehr gut definiert und wir sind auf der Suche nach Neuem und verwenden den Begriff, weil wir nicht mehr benennen können, was eine Bibliothek ist. Warum sagen wir nicht: »Wir sind die Bibliothek der Stadt!« Das kann auch sehr viel bedeuten.
Es ist schon zu beobachten, dass der Begriff nicht von Bibliotheken allein verwendet wird und sich gleichzeitig eine gewisse Ästhetik durchsetzt, wie eine Bibliothek als »Dritter Ort« auszusehen hat. Dies birgt sicherlich auch die Gefahr, dass Bibliotheken austauschbar werden?
Ja, diese bestimmte Ästhetik (zum Beispiel Industrial-Chic und Designermöbel) kann kein Leitbild sein. Wichtig wäre es, einen besonderen Ort zu schaffen, der einen Bezug zur Stadt oder zum Gebäude hat. So, wie wir das beispielsweise in Gouda gemacht haben. Auch ein »Raum der Stille«, also eine Art Detox-Ort, kann ein Feature sein. Wir planen so etwas beispielsweise jetzt in München-Gasteig.
Wie kann denn Deiner Ansicht nach eine Bibliothek das Selbstbewusstsein erreichen zu sagen »Wir sind eine Bibliothek!« und gleichzeitig auch die Bedeutung des Raumes und den Wandel der Aufgaben betonen?
Wir fragen uns, um was es in Bibliotheken geht? Es geht um Inspiration (Bestand), Schöpfung (eigene Kreativität) und Beteiligung. In unseren Gestaltungskonzepten berücksichtigen wir dies stets, indem wir jedem dieser drei Begriffe einen gleichwertigen Platz einräumen. Flexible Möbel sind dabei gar nicht so wichtig, denn alle drei Bereiche sind für uns gleichwertig vom Platz und es sollte keiner »weichen« müssen.
Der Bestand ist dabei zentral und fest. Er wird vom Umfang auch nicht erweitert, sodass immer Raum für die anderen Bereiche bleibt. Man hat also automatisch immer Raum für die beiden anderen Bereiche. Der Bestand darf sich nicht immer weiter ausweiten, muss aber auch nicht jedes Mal für Beteiligungsprozesse weggeräumt werden. Wichtig ist uns auch, die Bereiche so viel wie möglich zu mischen, damit sich alle drei Bereiche gegenseitig beeinflussen und bereichern. Beim Bestand versuchen wir, durch Programmarbeit Bedeutung zu schaffen.
In den Niederlanden wird der Bestandsaufbau schon recht lange zu einem großen Teil mit KI gemacht. Wie gelingt es da, den einzelnen Bibliotheken mit ihrem Bestand Bedeutung zu erzeugen?
Ich bin der Meinung, KI ist in Ordnung. Man sieht durch Auswertungen, dass ein großer Teil der Medien in allen Öffentlichen Bibliotheken gleich sein kann. Wenn man aber Fragen an eine Stadt stellt und Programmarbeit macht, kann man dies mit dem Bestand vergleichen und auf diese Weise kann der Bestand eine individuelle Bedeutung erhalten. Es reicht, wenn 20 Prozent des Bestandes ohne KI gekauft werden, um sehr zielgerichtet Bedeutung zu schaffen.
Was würdest du uns in Deutschland für die weitere Entwicklung der Öffentlichen Bibliotheken gerne mit auf den Weg geben?
Bibliotheken neu denken! Herausfinden was eine Bibliothek ist und nicht metaphorisch sprechen. Es wird auch bei uns in den Niederlanden leider sehr oft gesagt, was eine Bibliothek alles nicht ist, zum Beispiel »nicht nur Bücher«, »nicht nur still« oder »nicht langweilig«. Dabei ist es wichtig, neu zu erfinden, was eine Öffentliche Bibliothek sein kann. Was ein Bestand bedeuten kann. Neue Ziele und Zwecke für einen Bestand zu finden und Methoden zu finden, dass Menschen mit dem Bestand arbeiten, kreativ sind und dass sie mitmachen können.
Beteiligung darf dabei nicht bedeuten, dass man »mitmachen darf«, sondern dass man versucht, alle Leute zu »Bibliothekaren« zu machen. Das ist eine Utopie, aber wir meinen damit, dass man eine neue Rolle für die Nutzer finden muss. Ganz seriös mit dem Nutzer sprechen und die Rolle der Bibliothek in der Stadt neu definieren. Man könnte auch sagen, dass die ganze Stadt eine Bibliothek ist und überall Wissen sichtbar gemacht werden kann. Die Stadt ist das Biotop für die Bibliotheksarbeit der Zukunft.