Vorgestellt: Das Archiv der Flucht

Das Oral-History-Projekt nimmt Erinnerungen migrierter Menschen in den Blick. Bibliotheken sind eingeladen, mit dem Archiv zu arbeiten.
Das Foto zeigt die Ausstellung "Archiv der Flucht" des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.
Das Oral-History-Projekt »Archiv der Flucht« des Hauses der Kulturen der Welt stellt in Filminterviews die Geschichten von Menschen vor, die in den vergangenen 70 Jahren nach Deutschland migriert sind. Foto: Sebastian Bolesch

 

Welche Formen des Erinnerns braucht es in heutigen Einwanderungsgesellschaften? Das Oral-History-Projekt »Archiv der Flucht« des Hauses der Kulturen der Welt Berlin (HKW) betrachtet die Erinnerungen nach Deutschland migrierter Menschen als integralen Bestandteil deutscher Nachkriegsgeschichte und bewahrt sie vor dem Vergessen und Verdrängen. Bibliotheken helfen, diese Fluchterzählungen zu vermitteln.

Als digitaler Gedächtnisort versammelt das Archiv 41 dokumentarische Filminterviews mit Menschen, die in den letzten 70 Jahren in die Bundesrepublik oder die DDR eingewandert sind: Sie erzählen von Heimat und Exil, von dem, was Einwanderung bedeutet – und sie bezeugen eine vielschichtige, aufregende Erzählung der Geschichte dieses Landes. Im digitalen Archiv werden diese Geschichten der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich und für die politische Bildung und Migrationsforschung nutzbar gemacht. Anlässlich ihrer Veröffentlichung im Herbst 2021 waren die Interviews im HKW in einer Installation zu sehen. Während der Thementage zur Eröffnung (30. September – 3. Oktober 2021) diskutierten Theoretiker/-innen sowie Aktivistinnen und Aktivisten entlang des Archivs die Notwendigkeit eines pluralen Gesellschaftsverständnisses. In Kooperation mit Bibliotheken soll das Archiv breit sichtbar und zugänglich gemacht werden. Über Workshops mit Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden die Archivinhalte vermittelt und dienen als Ausgangspunkt für politische Bildungsprojekte zu den Themen Migration, Einwanderung und dem Leben in pluralen Gesellschaften.

Kuratiert wurde das Archiv von der Publizistin Carolin Emcke und der Ethnologin Manuela Bojadžijev. Schirmherr ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Idee entstand nach dem »Sommer der Migration« 2015 als Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über Einwanderung in Deutschland. Mit der größten europäischen Fluchtbewegung seit Ende des zweiten Weltkriegs aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine erhält das Archiv eine traurige Aktualität und neue Relevanz für die politische Bildungsarbeit auch in Bibliotheken.

Warum ein Archiv der Flucht?

Das Archiv der Flucht hält dem gesellschaftlichen Diskurs zur Einwanderung einen Spiegel vor, indem es konkrete Fluchterfahrungen in den Blick rückt. Es lädt ein, sich mit den Geschichten der Menschen, die in den letzten Jahrzehnten geflüchtet sind und nun bei uns leben, auseinanderzusetzen. Dabei erfahren wir von der Gewalt und den Ängsten, denen sie in ihrer Heimat, auf der Flucht, aber auch nach ihrer Ankunft ausgesetzt waren und sind. Wir hören aber auch von ihren Wünschen, Hoffnungen und gelungenen Begegnungen. So entsteht in der Vielfalt der Stimmen ein komplexes Bild über Erfahrungen im Herkunftsland, der Flucht und der Ankunft in Deutschland. In diesen Geschichten wird ein Wissen zur Verfügung gestellt, das bisher so nicht hörbar und wahrnehmbar war. Ein Wissensraum eröffnet sich, der deutsche und internationale Geschichte neu perspektiviert. Es wird deutlich, dass deutsche und auch europäische Geschichte des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht geschrieben werden kann, ohne die Geschichte des Mittleren Ostens, Afrikas und anderer Weltteile einzubeziehen. Das zur Verfügung gestellte Wissen erlaubt es, Perspektiven von Menschen einzubeziehen, die von großen Weltveränderungen betroffen, ihnen ausgeliefert sind. Ihre Perspektive »von unten« in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet, sie zu Akteurinnen und Akteuren einer gemeinsamen Gegenwart zu machen.

 
»Das Archiv der Flucht hält dem gesellschaftlichen Diskurs zur Einwanderung einen Spiegel vor, indem es konkrete Fluchterfahrungen in den Blick rückt.«

 

In ihren Geschichten werden aber auch neue Zusammenhänge erkennbar, die aufgrund der disziplinären Trennlinien bisher kaum diskutiert wurden, wie der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration. Das HKW sieht das Archiv als Möglichkeitsraum, der Materialien zur Verfügung stellt, um Gegenwart und Zukunft neu zu denken und zu verhandeln. Über verschiedene Zugänge zu diesem Archiv soll die gesellschaftspolitische Debatte eröffnet werden, was unsere Gesellschaft heute ist und was sie sein könnte.

Politische Bildung zum Archiv der Flucht

Dazu entstanden in Kooperation mit dem Verein für Medienbildung mediale pfade, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, digitale Ressourcen für neun Workshops, die in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit Anwendung finden können. Die digitalen Workshop-Materialien sind Anleitung und Inspiration zur aktiven Auseinandersetzung mit den Erzählungen der 42 Protagonistinnen und Protagonisten des Archivs. Rassismuskritik und antidiskriminierendes Lernen sind darin ebenso Themen wie Oral History als Gegenerzählung zu konventioneller Geschichtsschreibung oder Flucht als historische und gesellschaftliche Kontinuität. Mit digitalen Tools wie Virtual Reality, digitalem Erzählen, in Soundscapes oder kleinen Inszenierungen nähern sich die Workshops den Inhalten aus ganz unterschiedlichen Richtungen; gleichzeitig orientieren sie sich an dem Mediennutzungsverhalten Jugendlicher und ermöglichen aktive Medienarbeit.

 
»Die digitalen Workshop-Materialien sind Anleitung und Inspiration zur aktiven Auseinandersetzung mit den Erzählungen der 42 Protagonistinnen und Protagonisten des Archivs.«

 

Die Materialien sind in deutscher und englischer Sprache als OER-Materialien abrufbar und funktionieren sowohl in Präsenz als auch im Distanzunterricht bzw. in digitalen Workshops. Das heißt, die Inhalte sind frei zugänglich, frei weiter bearbeitbar, konvertierbar und erweiterbar. Sie werden in Workshops im HKW, in Schulen und in Bibliotheken eingesetzt.

Um das Archiv breit zugänglich zu machen, kooperiert das HKW mit Berliner Stadtbibliotheken, dem Deutschen Bibliotheksverband und der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin, der die Inhalte des Archivs über eine Schnittstelle mit dem Verbundkatalog der Bibliotheken für Forschungszwecke zugänglich gemacht hat. Alle Bibliotheken sind eingeladen, selbst mit und zum Archiv der Flucht zu arbeiten.

Bernd Scherer leitet das Haus der Kulturen der Welt in Berlin seit 2006. Seit 2011 lehrt Scherer als Honorarprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin. Bevor er Direktor des HKW wurde, leitete er von 1999 bis 2004 das Goethe-Institut Mexiko und anschließend im Goethe-Institut München die Zentralabteilung Künste.

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