Die transkulturelle Superpower des Pop-up-Projekts »Ach du Scheiße!« verwandelt Stadtbibliotheken in ökologische Lernörtchen

Das Pop-up-Projekt "Ach du Scheiße!" thematisiert Toilettenkultur und Abwassermanagement und sensibilisiert für globale Herausforderungen wie Wasserknappheit.
Die schlichte Toilette der Großeltern wurde durchs Wasserspülklosett abgelöst – aber ist das angesichts Klimawandel und Wasserknappheit noch zeitgemäß? Foto: Michael Wallmüller, Hannover
Die schlichte Toilette der Großeltern wurde durchs Wasserspülklosett abgelöst – aber ist das angesichts Klimawandel und Wasserknappheit noch zeitgemäß? Foto: Michael Wallmüller, Hannover

 

Jeder Mensch geht jeden Tag auf Toilette. Doch nur wenigen ist klar, dass es angesichts globaler Ressourcenknappheit zukunftsrelevant ist, was mit unseren Hinterlassenschaften passiert. Wasserspülung war gestern! Das Pop-up-Projekt »Ach du Scheiße!« (https://linktr.ee/achduscheisse) begeht zwischen den Bücherregalen Öffentlicher Bibliotheken derzeit unterhaltsam Tabubruch, klärt generationen- und kulturübergreifend erfolgreich über Toilettenkultur und umweltfreundliches Abwassermanagement auf. Ob XXL – drei Tage Open-Air auf dem Erfurter Domplatz vor der Regionalbibliothek – oder klein und fein in einer ländlichen Stadtbücherei-Filiale: Die Bremer Wissenschaftsjournalistin Annette Wagner hat mit Fachkompetenz für unterhaltsame Bildungsformate ein skalierbares »Lernörtchen« zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen entwickelt, das zuletzt auf der BiblioCon begeisterte. In diesem Artikel berichtet Annette Wagner über den Entstehungsprozess des Projekts und die drei zentralen Ingredienzen: globales Schwarmwissen, außergewöhnliches Erscheinungsbild und zielgruppenspezifische Impulsformate.

Wie alles begann? Mit kollektiver Klage über deutsche Klos

»Ach du Scheiße!« startete 2018 als unkonventioneller Gesprächskreis für frisch eingewanderte Bremer/-innen. Ob in der Stadtbibliothek, wohin ich Geflüchtete aus den Notunterkünften regelmäßig brachte, um ihnen Zugang zu Internet, Büchern und Bildung zu ermöglichen – oder beim gemeinsamen Ausfüllen von Förderanträgen in meiner Wohnung: Das deutsche WC schien gar nicht okay für Menschen aus Syrien, Afghanistan, Ghana oder dem Iran. Alle fühlten sich unwohl auf dem Klo. »Wo ist der Schlauch?«, »Hast du keine Schuhe?« Ich war ratlos – und die Bremer Sozialsenatorin offen für meine unkonventionelle Idee eines »Integrationskurses« der anderen Art: Statt Wissensvermittlung top-down über Leben in Deutschland eine moderierte Gesprächsgruppe mit den Neubremer/-innen, angeknüpft an das von ihnen aufgeworfene Alltagsthema.



Der Workshop-Titel war bewusst provokant – und doppeldeutig: »Ach du Scheiße!« benennt einerseits das Themenfeld, andererseits den lösungsorientierten Ansatz unserer zweiwöchentlichen Treffen: Hier läuft was schief! Wie können wir die Situation verbessern? »Also raus mit der Sprache! Was irritiert euch am deutschen Wasserspülklosett?« Schnell wurde klar, dass der iranische Künstler in meinem und im Bibliotheks-WC einen Wasserspülschlauch zur kontaktlosen Körperreinigung nach dem »Geschäft« vermisste. Leider gebe es den auch nirgendwo zu kaufen. Zum zweiten Treffen brachte ein syrischer Ingenieur ein Paar rote Gummibadelatschen mit: die vermissten »Kloschuhe«. Die sich anschließende Debatte zwischen den Muslimas und Muslimen aus Syrien, Somalia, Afghanistan und Ghana, ob das Schlappengebot für Toiletten in ihren Haushalten religiös oder hygienisch motiviert ist, verlief kontrovers – und blieb ergebnisoffen. 

 

»Das deutsche WC schien gar nicht okay für Menschen aus Syrien, Afghanistan, Ghana oder dem Iran. Alle fühlten sich unwohl auf dem Klo.«

 

Während kulturspezifische Accessoires für Toiletten in aller Welt sich in unserem Gruppenraum häuften, besprachen wir schon das nächste spannende Thema: Schamgefühle und Tabus. »Kann ich in deinem Land unverblümt nach der Toilette fragen? Oder darf ich mein Bedürfnis nur indirekt andeuten, wie in den prüden USA oder unter akademischen Franzosen?« Dann kam die für alle spürbar existenziellste Frage auf den Tisch: »Wie geht ihr mit Abwasser in eurer Herkunftsregion um?« Viele kamen aus extrem trockenen Klimazonen in ländlichen Regionen in Syrien, Afghanistan, Ghana, Somalia. Verschärfte Wasserknappheit durch Rivalitäten unter Nachbarländern um den Zugang zu Quellen und zunehmende Trockenperioden infolge des Klimawandels wurden als globale Herausforderungen benannt. 

Die Irritation der Eingewanderten über die Wasserverschwendung in deutschen Spültoiletten kam bei unserer ersten Expedition zur Sprache: Unsere transkulturelle Recherchegruppe machte einen Ausflug in die sanitäre Unterwelt der Hansestadt: ins Bremer »Abwassermuseum«. Staunend wanderten sie im Untergeschoss des Alten Pumpwerks durch einen aus rotem Backstein gemauerten Abwasserkanal. So perfekt gemauert und aufrecht stehen konnte man auch darin! 2.300 Kilometer solcher Kanäle verlaufen unter der gesamten Stadt bis raus zu den Kläranlagen? Und 10 bis 15 Liter Trink(!)wasser pro Toilettengang – rund 35 Liter pro Mensch pro Tag – verbrauchen die Bremer um Schiet und Urin aus ihren Kloschüsseln in die Kanalisation zu spülen. Das konnten insbesondere Eingewanderte aus extrem wasserarmen Ländern kaum glauben.

Wie entstand das Spül’s-weg-System? Um vor rund 150 Jahren todbringende Infektionskrankheiten wie Pest und Cholera zu besiegen – und den Handel mit New York und anderen Überseehäfen wieder aufnehmen zu dürfen – richtete die Hansestadt öffentliche Abtritte auf den Weserbrücken ein. Spülwasser führte die Weser ja im Überfluss. An einem Tag in der Woche blieben die Volkstoiletten indes verschlossen – auf Anordnung der stromabwärts gelegenen Beck’s Brauerei. In deren Auftrag ging dann ein Marktschreier mit lauter Handglocke durch die Straßen und rief: »Dass keiner in die Weser kacket! Morgen wird gebraut!« An diesem Tag lernte die Gruppe das deutsche Wortungetüm »Natürlicher Nährstoffkreislauf« kennen. Angesichts des drastischen Beispiels vergaß es keiner. 

Vom Alltagsgesprächsthema zum globalen Schwarmwissen (Global Citizen Toilet Science)

Alle trugen etwas bei, alle lernten etwas. Der tatsächlich auf Augenhöhe erfolgende Wissensaustausch zwischen eingewanderten und eingeborenen Bremer/-innen war abwechslungsreich und spannend. Die weltweiten Informationsquellen und der kontinuierliche Wechsel der Blickwinkel der Gruppe von Forscher/-innen machte den halbjährigen Workshop damals für alle Beteiligten aus 14 Ländern lebendig und spannend. Und macht das Pop-up-Projekt heute so attraktiv für Bibliotheksbesucher/-innen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Klimazonen. Einerseits finden Menschen aus dem Globalen Süden sich in den Impulsfotografien und -objekten wieder, mit denen ich jetzt Stadtbibliothekswände und -fenster dekoriere und die ich für temporäre Bildungsarbeit zwischen den Bücherregalen einsetze: Sie erkennen vertraute Gegenstände oder Bauwerke wieder wie beispielsweise die Nurias, die gigantischen Wasserschöpfräder am Fluss Orontes in Syrien. Andererseits erhalten sie, direkt damit verknüpft, alltagsrelevantes Wissen über ihre aktuelle Heimat Deutschland. 

Ein 55-jähriger syrischer Architekt aus unserer Gruppe stellte uns diese exzellenten hydraulischen Wasserhubsysteme sichtlich stolz per Konstruktionszeichnung und Youtube-Video vor. Über Höhenunterschiede von bis zu 25 Metern transportierten diese Meisterwerke der Handwerkskunst Wasser hinauf in die Moscheen zur Körperreinigung vor dem Gebet und zum Bewässern auf die Obstplantagen. Bis der Flusswasserspiegel durch Übernutzung durch die rivalisierenden Anrainerstaaten und den Klimawandel zu weit absank. Und stromgetriebene Pumpen die Arbeit der mit natürlicher Wasserkraft angetriebenen Schöpfräder übernahmen. In meiner Sammlung internationaler Schlüsselfotografien zu den 17 Nachhaltigen Entwicklungszielen stehen die syrischen Wasserschöpfräder einerseits für eine wegweisende archaische Technik stromloser Wassergewinnung, andererseits für eine aktuelle Mangelsituation, die 2030 weltweit behoben sein soll. »Ach du Scheiße!«, könnte man da ausrufen. Das sind ja nur noch sechs Jahre. Aktuell haben laut Bericht der Vereinten Nationen weltweit immer noch  2,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu einwandfreiem und bezahlbarem Trinkwasser. 3,5 Milliarden Menschen leben ohne angemessene Sanitärversorgung.



Der Run auf unseren Infostand in der Fußgängerzone am Weltwassertag am 23. März 2019 und die gut besuchte Abschlussausstellung des Workshops machten klar: Die kuriosen Klo-Accessoires wirkten auf Bremer Passantinnen und Passanten magnetisch und der transkulturelle Dialog über die dahinter steckenden Sanitärgeschichten hatte Bildungspotenzial. Das »Ach du Scheiße!«-Team hatte einen außergewöhnlichen globalen Wissensschatz zum zukunftsrelevanten Thema Sanitäranlagen angehäuft – den zu teilen und weiter zu mehren sich lohnte. Zeitgleich wurde durch zunehmende Hitzeperioden und sommerlichen Wassermangel auch in deutschen Landstrichen Aufklärungs- und Handlungsbedarf zu SDG 6 und SDG 11 offenbar. Wer weiterhin Urin und Fäkalien mit Trinkwasser die Kloschüssel runterspülte, vergeudete nicht nur kostbares Nass, sondern auch wertvolle Ressourcen wie Phosphor und humanen Humus. 

Was ist schlimmer: Ein Leben ohne Klo(papier) oder ohne Kulturveranstaltungen?

Höchste Zeit, von wohnortnahen Abwasserrecyclingprojekten im Globalen Süden zu lernen, wie man Wasser zurückgewinnen, humanen Humus und Bioenergie erzeugen kann. In der jordanischen Wüste recherchierte ich zu illegalem Abwasserdumping und besuchte ein innovatives ökologisches Recyclingprojekt mit dort lebenden Beduinengruppen. Ich ergänzte meine eigenen Fotos durch ausgewählte Aufnahmen internationaler Fotojournalisten und Hilfsorganisationen. Dann kam Corona – und der durch den bevorstehenden Lockdown ausgelöste Kampf im Supermarkt ums vermeintlich letzte Toilettenpapier machte bewusst: Die gewohnte Ausstattung des intimen Örtchens ist elementar für deutsche Bürger/-innen. In mit Podusche ausgestatteten muslimischen Haushalten ging man die Sache gelassener an.

Dialogische Vermittlungsformate – »Journalistin im Haus: Fragt mich aus!«

Die nicht versiegende Neugier der Gruppe auf Denkansätze und Lösungswege aus anderen Kulturen und Klimazonen, deren weltoffene Haltung und »Wie funktioniert das?«-Energie vermitteln jetzt erfolgreich die »sprechenden« Objekte und vielschichtigen Fotografien des niederschwelligen Bildungsprojektes »Ach du Scheiße!«. Zugehörige Hintergrundinfos vermittle ich in terminierten interaktiven Formaten »Walks & Talks« oder »Fotoimpulsen« mit sich anschließendem Gruppengespräch. Oder ich baue als »Journalist in Residence« stundenweise meinen Schreibtisch in der Bibliothek auf. Dabei vermittle ich aus meinem journalistischen Erfahrungsschatz heraus Medienkompetenz, leite zur Weiterrecherche in Buch- und Filmbeständen der Bibliothek oder über deren Onlinezugang an.  

In den dialogischen Impulsformaten von »Ach du Scheiße!« breche ich via Toilettenthema auch eurozentristische Weltbilder auf, versuche, verbreitete Vorurteile durch neue Aha-Erlebnisse zu überschreiben: Ein besonders ausdrucksvolles Impulsfoto aus meinem Fundus zeigt eine ernst wirkende, festlich gekleidete Frauengruppe mit Plakaten in den Händen. »Gegen welchen Missstand protestieren sie?«, fragt eine Besucherin beim Rundgang frauensolidarisch – und ist damit bereits auf der falschen Fährte. Diese Nepalesinnen feierten, schon 2017, dass ihr vermeintliches Entwicklungsland »open defacation free« ist. Binnen zwei Jahren nach Verabschiedung des »Weltzukunftsvertrages« durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, bekannt als Agenda 2030, hatte ihr Präsident SDG 6, – also: das Menschenrecht auf »Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen« – umgesetzt: Keine Nepalesin muss seitdem mehr ihre Notdurft bei Dunkelheit irgendwo draußen verrichten und dabei sexuelle Übergriffe befürchten. Klos zu bauen ist somit auch für »SDG 5 Geschlechtergleichheit« ein großer Schritt voran.

HOLY SHIT. Der Wert unserer Hinterlassenschaften

Wissenschaftsjournalistin Annette Jensen, die einst als taz-Redakteurin das Ressort Umwelt und Wirtschaft mitbegründet hat und heute als freie Autorin und Sprecherin des Berliner Ernährungsrates ökologische, ökonomische und soziale Transformation vorantreibt, skizziert in prägnanten Kapiteln Entstehung und Folgen unseres ressourcenverschwendenden Sanitärsystems – und Alternativen. Mit täglich 35 Litern Trinkwasser entsorgen wir unsere Fäkalien, vermischen sie auf dem Weg zu abgelegenen Kläranlagen mit unterschiedlichen Schadstoffen, um dann die verbliebenen Inhaltsstoffe mit viel Energieaufwand wieder herauszuholen und zu verbrennen. So gehen Stickstoff und Phosphor verloren, die die Landwirtschaft als Dünger braucht – der stattdessen mit extrem hohem Aufwand  in Chemiefabriken hergestellt wird. Wasserspültoiletten halfen vor 150 Jahren, todbringende Krankheiten wie Pest und Cholera zu besiegen. Doch die natürlichen Stoffkreisläufe sind seitdem völlig aus dem Ruder gelaufen.

»Holy Shit!« ist weit mehr als »das Buch zum« – sehenswerten! – gleichnamigen Dokumentarfilm von Ruben Abruña. Es ist spannend und ermutigend, weil es durchgängig den Blick auf die fatalen Entwicklungen mit konkreten Lösungsansätzen verknüpft: Hier die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Folgen einer Landwirtschaft, die Böden und Grundwasser ruiniert – dort innovative Siedlungen, Pilotanlagen und faszinierende Porträts weltweiter Recyclingpionier/-innen in unterschiedlichen Kontinenten und Klimazonen. Der Zukunftskurs ist klar: wohnortnahe Sammlung, Hygienisierung und Aufbereitung von Urin und Kot – und die Nutzung darin enthaltener Nährstoffe als Dünger und Bodenverbesserer. Die Autorin berichtet auch über den hierzulande größten Hemmschuh der Sanitärrevolution, die deutsche Düngemittelgesetzgebung, und gibt alltagsnahe Anleitungen für Veränderungen im häuslichen Umfeld. | Orange Press, 2024, 240 Seiten, 20 €

Kochen für den Arsch. 40 darmgesunde Rezepte für mehr Ästhetik in der Schüssel

Kochbuch mit Aha-Effekt: Tanja Wente und Manou Otolski aus dem Hamburger Goldeimer-Aktivistenteam haben zwischen ansprechend fotografierten und unaufwändig nachzukochenden Rezepten für vegetarische und vegane Ernährung auch Wissenswertes zu Darm, Verdauung und Sanitärbasis eingestreut. Die Katapult-Grafiken sind dafür bekannt und beliebt, dass sie auf anschauliche und witzige Weise Fakten, Sachverhalte, Missstände illustrieren und zugleich kommentieren.

Was sagt es über die Deutschen aus, das sie im weltweiten Klopapierverbrauch mit rund 134 Rollen pro Person im Jahr unrühmlicher Zweiter knapp hinter den US-Amerikanern (140 Rollen) sind – während die Brasilianer nur ein Drittel dieser Menge verbrauchen? Oder dass alle Kanalisationsrohre Deutschlands erschreckenderweise bis zum Mond und fast zurück reichen würden? Knapp 3.200 Kilometer lang sind allein schon die Spülkanäle des kleinsten deutschen Bundeslandes Bremen, das nur knapp 60 Kilometer lang und maximal 15 Kilometer breit ist. Was für ein Wahnsinn!

Der marketingstrategisch drastische Titel ist nicht jedermenschs Sache, aber es lohnt sich, etwaige Schamgefühle zu überwinden und Menüplan und Wissen zu erweitern. Justus von Kargers schwungvolle Titelzeichnung verlockte nach meiner Beobachtung bisher kulturübergreifend dazu, es vom „Ach du Scheiße!“-Büchertisch zu nehmen und genussvoll durchzublättern. | Katapult Verlag, 2023, 125 Seiten, 10 Karten und zahlreiche Foodfotos, 20 €

Kompost-Toiletten für Garten und Freizeit, Sanitärtechnik ohne Wasser und Chemie

»Abgesehen von dem Luxus, dass wir ein Drittel unseres kostbaren Trinkwassers als Beförderungsmittel für unsere Ausscheidungen missbrauchen, sollte uns angesichts der steigenden Umweltprobleme klar sein, das Abfallbeseitigung immer schlechter als Abfallverwertung ist.« Der Kieler Diplom-Ingenieur Wolfgang Berger bringt 40 Jahre Know-how als Entwickler und Hersteller von Komposttoiletten in dieses anschauliche Handbuch zu ökologischer Sanitärtechnik ein. Die überarbeitete Neuauflage ist ein Must-have für Kleingärtner/-innen und für Wohnmobil- und Tinyhousefans, die komfortable und hygienische Trenn- und Trockentoiletten kaufen oder selbst bauen und diese vorschriftsgemäß betreiben wollen. Das praxisnahe Buch enthält gut strukturierte Produktsteckbriefe aktuell käuflicher Anlagen(bauteile) und deren Preise – und perfekte Selbstbauanleitungen. Aber auch besondere sanitäre Herausforderungen und umweltverträgliche Lösungen etwa für Hausboote, abgelegene weiträumige Naturparks oder temporäre kulturelle Massenveranstaltungen in Städten werden skizziert.

»Menschliche Ausscheidungen können so kompostiert werden, dass man sie hygienisch unbedenklich als Dünger im Garten nutzen kann«, resümiert der Fachmann und Aufklärer in Sachen Sanitär- und Nährstoffwende. Das wusste die Worpsweder Siedlungs- und Gartenbauerbewegung bereits vor 100 Jahren. Die nutzte ein »automatisch Torf streuendes mechanisches Trockenklosett« namens Metroclo«. Ein damaliger Experte des Siedlungswesens rechnete 1926 aus, dass diese Methode für die Städte kostengünstiger sei als die Abwasserbeseitigung mittels Schwemmkanalisation. Doch deutsche Technikbegeisterung und wohl auch bürgerliche Scham sorgten für die Etablierung der »Spül’s weg!«-Strategie – die sich heute angesichts von Klimawandel und zunehmender Wasserknappheit zunehmend als der falsche Weg erweist. | Wolfgang Berger, Ökobuch Verlag, überarbeitete Neuauflage 2023, 108 Seiten, zahlreiche Fotos und Zeichnungen, 17,95 €

Die Kackwurstfabrik

»Vom Bissen im Mund zur Wurst im Klo«: Die witzige, detailfreudig gezeichnete Entdeckungsreise durchs menschliche Gedärm von Nahrungsaufnahme bis zur Ausscheidung des für seine unkonventionellen Publikationen bekannten Leipziger Verlages ist aktuell ein Ausleihfavorit in Öffentlichen Bibliotheken. Das großformatige Buch »Klug scheißen für alle ab 7« ist als etappenweise »Werkbesichtigung des Verdauungsapparates« durch die Kinder Pim und Polly  angelegt und flicht spielerisch Wissen über gesunde Nahrungsmittel, magenfreundliche Essgewohnheiten und auch Selbsthilfeanleitungen mit ein: zum Beispiel Massage gegen Blähbauch. Jede noch so delikate Kinderfrage wird beantwortet. Aus schambehafteten Generationen stammende vorlesende Erwachsene lernen freudig dazu – und dürfen endlich lustvoll all die Worte laut aussprechen, die in der eigenen Kinderstube damals verboten waren: Warum ist Kacke eigentlich immer braun? Wie entsteht ein Pups? Allein mit dem gemeinsamen Betrachten der Mini-Illustrationen vielfältiger Kackwurstformen und Verdauungsgeräusche aus Mensch- und Tierwelt in den Umschlaginnenseiten lässt sich ein so lustiger wie lehrreicher Nachmittag in Kinderbibliotheken verbringen. Meine drei Lieblingsbegriffe und -motive sind: böige Winde, Rote-Beete-Allerlei und Drossel-Geschoss. | Autorinnen: Marja Baseler, Annemarie van den Brink, Illustrator: Tjarko vander Pol, Klett Kinderbuchverlag 2022, 48 farbige Seiten, 18,00 €

Oh, wer sitzt da auf dem Klo?

Ein anthroposophischer Verlag in Stuttgart hat 2018 das Bilderbuch des niederländischen Autors und Zeichners Harmen van Straaten auf den deutschen Markt gebracht. Kernfrage der liebevoll gezeichneten gereimten Ketten-Klogeschichte: Was tun, wenn du dringend mal musst, das Örtchen besetzt ist und die Schlange der wartenden Tiere lang und länger wird? Indirekt wird hier thematisiert, wie es sich für Kinder in Gegenden ohne Sanitärversorgung anfühlen mag, wenn ihr Menschenrecht auf eine Toilette – also das Nachhaltige Entwicklungsziel Nr. 6 – nicht eingelöst wird. Giraffe, Affe, Pinguin, Tiger, Elefant, Schwein und Bär geraten zunehmend unter Druck, sinnen gemeinsam auf Notlösungen: »Ein Eimer fürs Pipi? NEIN! Das ist nicht fein! Wir wollen in die echte Toilette hinein!« skandiert die Tierkolonne vor dem Örtchen. Wer besetzt das einzige WC nur so lange und wie können wir den rauslocken? Das überraschende Finale des Buches wird hier natürlich nicht verraten. | Verlag Freies Geistesleben, Erstausgabe 2018, 32 farbige Seiten, 16 €

Eine kleine Geschichte vom großen Geschäft

Dreizehn wunderbar ausgestaltete Zeichnungen ausgewählter deutscher Illustratorinnen und Illustratoren verlocken zum phantasieanregenden Gedankenspaziergang durch Bedürfnisanstalten von der Stein- bis in die Jetztzeit. Jedes einzelne Motiv ist eine Steilvorlage für kollektives Kichern und Kapieren im Gespräch zwischen Kindern und Erwachsenen beim gemeinsamen Durchblättern und beim Vorlesen der kurzen Zwischentexte. Man lernt Venus Cloacina kennen, die Schutzgöttin der Abwasserleitungen im antiken Rom und das natürliche Klopapier der Wikinger, wird über die in Pipi und Kacke verborgene Superpower (siehe Ausschnitt aus der furios-farbigen Illustration von Andreas Preis) aufgeklärt – die hierzulande leider in unterirdischen Abwasserkanälen weggespült wird. Erklärt wird auch, woher komische Begriffe wie »ein Geschäft machen« oder »thronen« kommen, die Erwachsene manchmal schamhaft benutzen, wenn sie eigentlich einfach sagen könnten: Ich muss aufs Klo!
Das Buch wurde durch eine Crownfundingaktion der Hamburger Goldeimer-Aktivistinnen und Aktivisten ermöglicht, den Sanitärrevolutionscompañeros und -compañeras der bundesweit bekannten »Viva con Aqua«-Wasseraktivisten. Es ist ein kleiner Baustein der originellen medienübergreifenden Aufklärungskampagne mit der www.goldeimer.de zu SDG 6, dem Menschenrecht auf ein Klo und sauber Wasser. Seit ihrer Gründung 2014 setzen sie sich provokativ und unermüdlich »für die Enttabuisierung des Kackens« und für gesicherten Zugang zu Sanitäranlagen für alle Menschen weltweit ein. Neben ökologisch-aufklärenden Koch- und Kinderbüchern vertreibt Goldeimer vor allem Recyclingklopapier mit aufklärerischer Beschriftung und zusammensteckbare mobile Komposttoiletten – die vom Pionier und Altmeister nachhaltiger Möbelherstellung www.werkhaus.de Design und konstruiert werden. Vor allem in den jungen Generationen haben Goldeimer viel zum deutschlandweiten Bewusstsein der Sanitarsünden und zu konkreten individuellen Verhaltensänderungen beigetragen.

Von Goldeimers Ehrenamtlichenteams betreute Kompostklo-Batterien haben auf großen Musikfestivals in den letzten zehn Jahren Schritt für Schritt die chemiegefüllten Dixie-Klos durch die umweltfreundlichere Massensammlung von Fäkalien ersetzt. Die sammelt dann ihr Partnerunternehmen »Finizio« ein und wandelt sie in der Pilotanlage in Eberswalde auf natürlichem Weg in schadstofffreien humanen Humus um – und in Bioenergie! Auch von ihr erzählt kindgerecht, lustvoll, nie belehrend »Die kleine Geschichte vom großen Geschäft«. Die Sanitärwende beginnt im Kinderzimmer! Kollateralnutzen für Eltern beim Vorlesen: Das von Kindern in gewissem Alter allzu gerne geführte Gespräch über den Inhalt ihres Töpfchens führt aus dem häuslichen Klo hinaus zu anderen spannenden Themen. | Goldeimer GmbH, Erstausgabe 2019, 60 farbige Seiten, 10 €

Erklärtes Bildungsziel meines globalen Lernörtchens »Ach du Scheiße!« ist, auf humor- und gehaltvolle Weise beiläufig Zugang zu den 17 Nachhaltigen Entwicklungszielen zu schaffen: ein wichtiges, aber eben auch komplexes Maßnahmenpaket, das in seiner Gänze auf den ersten Blick überfordert – und das erstaunlich viele Menschen außerhalb umweltbewusster und politisch engagierter Kreise gar nicht kennen. Jeder Mensch muss jeden Tag aufs Klo. Reden wir darüber, am »Dritten Ort« zwischen Bücherregalen und Infotresen! Ausgehend vom allen Bibliotheksbesucher/-innen vertrauten Wunsch, Zugang zu einer Toilette zu haben, ergeben sich daraus – logisch und somit einprägsam – weitere SDGs. Diesen Zusammenhang illustriert durch ein weiteres Foto. Es zeigt eine farbenfrohe Wandzeichnung aus Indien zum natürlichen Nährstoffkreislauf: Essen – Ausscheiden – Einsammeln – Wiederaufbereiten – Düngen von Gemüse und Obst – Ernten und Essen … Dank solcher Volksaufklärung an Landstraßen (SDG 4 »Hochwertige Bildung«) weiß dort fast jedes Kind, wie aus Fäkalien und Urin Phosphor, humaner Humus und Bio-Energie gewonnen werden. Wer das basale Menschenrecht auf trinkbares Wasser und eine Toilette verwirklicht, bringt also auch SDG 7 »Bezahlbare und saubere Energie« und SDG 11 »Nachhaltige Städte und Gemeinden« voran. Schon gewusst? Fortschrittsmacher im Globalen Süden ist diesbezüglich neben Indien auch Pakistan.

Mit einer kleinen Kiste voller Toilettenutensilien aus aller Welt aus einem transkulturellen Dialogworkshop hat »Ach du Scheiße!« begonnen. Inzwischen füllen die Foto- und Objektsammlung aus dem Citizen Science Projekt und die ständig wachsende mitreisende »Sachbücherei für Klein und Groß!« (siehe Kasten »Sachbücher zu Sanitärem«) zwei große Rollkoffer. Um zum Wissenwollen anzustiften, habe ich mit dem skalierbaren Bildungsprojekt 2021 – XXL-Version drei Tage lang Open-Air – den Domplatz vor der Stadt- und Regionalbibliothek in Erfurt gekapert. Mal gastierte ich, klein und fein, in Öffentlichen Bibliotheken im ländlichen Schleswig-Holstein. Im November 2023 bespielte ich zum Welttoilettentag zwei Wochen lang mit der Foto- und Objektausstellung – und an zwei Aktionstagen mit terminierten Kurzformaten für Erwachsene und Kinder – beide Stockwerke der Nordstadtbibliothek in Hannover. Als Impulsgeber für wegweisende Veranstaltungsformate in Bibliotheken, die sich als »Dritte Orte« für sozialen und ökologischen Wandel begreifen, reiste »Holy Shit!« im vergangenen Jahr auch zur internationalen Arbeitskonferenz »Next Library« ins dänische Aarhus. Links dazu, zu den Umsetzungsvarianten in Absprache mit den jeweiligen Bibliotheken und Medienresonanz unter www.linktree.com/achduscheisse

Lernen sollte mit Lachen verknüpft sein! Das humorvolle Timbre von »Ach du Scheiße!« kommt offensichtlich generationenübergreifend gut an. Vorübergehend wird es dabei auch mal etwas lauter in der Bibliothek: wenn neben dem Infotresen der Sitzkomfort einer mobilen Komposttoilette für Kleingarten oder Wohnmobil getestet wird; wenn vor dem coolen Selfie-Hintergrund einer goldenen Klobrille Teenager mit SDG 6-Plakaten posieren und die Forderung »Klos für alle – Alle für Klos!« posten; oder wenn eine Gruppe Schüler/-innen in der Fensternische in fünf Wassereimern mit fünf unterschiedlichen Klopapiersorten einen Auflösetest durchführt. »Das Feuchtpapier löst sich ja gar nicht auf – obwohl es ›Happy End‹ heißt und auf der Packung ›wasserlöslich‹ steht!« Bingo!



Das »Lernörtchen« bleibt spannend, für die Macherin und fürs Publikum, weil es sich ständig weiterentwickelt: Es macht Spaß, es in Absprache mit den Bibliotheksmacher/-innen vor Ort für deren Aufklärungszwecke und Zielgruppen feinzujustieren. Es bereichert den Bücherbestand der Bibliothek und des Projektes, wenn nach meinem Fotovortrag über meine Recherche in der Jordanischen Wüste zum Kampf der Beduinengruppen um Zugang zum Wasser eine Besucherin ein Buchgeschenk aus der Tasche zieht. »Ich habe da was geschrieben, wie bürgerliche Moralvorstellungen die Architektur öffentlicher Toiletten in Deutschland geprägt haben.« Oder wenn plötzlich ein Comedian auftaucht, der als Hausmeister Paul Pümpel auf Kleinkunstbühnen gegen Kloverstopfung wettert – und mit dieser Kunstfigur auch eine Malbuchreihe für die Hannoveraner Stadtwerke entstanden ist. Ab in die Kinderbuchecke mit der fröhlichen umweltpädagogischen Jagd auf die Feuchttüchermumie und den bösen, grundwasserverschmutzenden Ölkanister Kuno! 

Austausch auf Augenhöhe als Grundhaltung ist geblieben: Als investigative Journalistin bringe ich fundiertes Sachwissen und Recherchekompetenz mit, wenn ich unter dem Schild »Journalistin im Haus – fragt mich aus!« zwischen Bücherregal und Internetterminal vorübergehend meinen Schreibtisch aufbaue. Ich bin gerne ein lebendes »Wie funktioniert das?«-Lexikon! Meine aufrichtige Neugier auf die Fragen, die große und kleine Gegenüber mitbringen, machen diesen Wissensaustausch nachhaltig – beiderseits. 

»Ach du Scheiße!« wirkt last but not least generationenverknüpfend: Weil in der Kindervorleseecke »zufällig« auch ein paar Bücher für Erwachsene mit provokanten Titeln wie »Holy Shit!« und »Kochen für den Arsch« herumliegen, bleibt der junge Vater mit Pferdeschwanz, statt seine drei Kinder nur geschwind abzuliefern und zum Einkaufen zu verschwinden. Während ich mit den Kindern über »the Power of Pee and Poo« philosophiere, vertieft er sich in die Bauanleitungen für Komposttoiletten. Die türkischstämmige Mutter mit Kopftuch zückt ihr Handy, um ein paar Rezepte aus dem Goldeimer-Buch zu kopieren. Sie deutet auf die Infografik zwischen den fotografierten Speisen und lacht mir zu: Die Deutschen seien ja, mit 134 Rollen pro Kopf im Jahr, fast »Klopapierweltmeister«! Es war ein guter Tag im Lernörtchen, wenn Eltern und Kinder oder Großeltern und Enkel aus der Stadtbibliothek ein gemeinsames Thema mit nach Hause bringen, das sie noch nachhaltig beschäftigen wird ...

Weitere Informationen unter: https://linktr.ee/achduscheisse

»Ich finde den WC-Ansatz großartig lebensnah und sehe hier großes Potenzial für die Vermittlung der 17 Ziele an Kinder und Jugendliche – und damit indirekt auch an die Eltern. Das Projekt zeigt, dass Demokratiebildung auf dem stillen Örtchen beginnen kann.« 
Peter Heissenberger, Leiter der Fachstelle für das öffentliche Bibliothekswesen des Regierungspräsidiums Karlsruhe

»Ein nur auf den ersten Blick vulgäres, genial gewähltes Thema: Weil es jeden Menschen betrifft, kann ich damit alle Zielgruppen von Kita bis Forschung erreichen – solche, die schon zu unseren Besuchenden gehören und neue. Das Vermittlungskonzept von ›Ach du Scheiße!‹ arbeitet auf kluge Weise ›um die Ecke‹: Annette Wagner adressiert das Thema Nachhaltigkeit, aber man fühlt sich nicht ›schon wieder gedrängt, die ganze Welt zu retten‹.«
Franziska Maibach, Medienpädagogin, Stadtbücherei Wolfenbüttel

Annette Wagner ist Journalistin und Projektentwicklerin mit Fokus auf interaktiven Bildungs- und Begegnungsformaten im öffentlichen Raum. Sie konzipierte und organisierte das preisgekrönte Event »Das reisende Vorlesesofa« (2016-2019), bei dem Eingewanderte in Bremen ihre Lieblingsgeschichten in der Herkunftssprache und auf Deutsch vorlasen. 2022 initiierte sie die OpenAir-Wanderkinoreihe »Wo brennt's?« für ältere Menschen. Seit 2021 verwandelt ihr Projekt »Ach du Scheiße!« Bibliotheken in Lernorte für die 17 Nachhaltigen Entwicklungsziele. Wagner leitet Medienkompetenz-Workshops für Schüler/-innen, in denen sie ihr Fachwissen als Filmemacherin und Printreporterin weitergibt. Im RiffReporter-Format »Journalistin im Haus: Fragt mich aus!« steht sie Bibliotheksbesuchern Rede und Antwort zu ihrem Beruf und deren Fragen.

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