Stethoskop und Ultraschallgerät aus der Bibliothek

»Bibliotheken der Dinge« sind auch für Wissenschaftliche Bibliotheken attraktiv – wie das Beispiel der Medizin-Bibliothek Münster zeigt.
Im Angebot der »Bibliothek der Dinge« der Medizin-Bibliothek der Universitäts- und Landesbibliothek Münster sind unter anderem ein Nahtset samt Schädelmodell und iPad sowie das Skelettmodell einer Hand. Foto: Medizin-Bibliothek, Jens Unkenholz

Die Medizin-Bibliothek der Universitäts- und Landesbibliothek Münster wurde in diesem Jahr zum achten Mal in Folge von Studierenden im CHE-Ranking als beste Medizin-Bibliothek Deutschlands ausgezeichnet. Das Erfolgsrezept liegt vor allem darin, den Fokus auf die Bedürfnisse und die Unterstützung der Studierenden während ihres anspruchsvollen Studiums zu legen.Ein Nutzertrend, der großen Anklang gefunden hat, ist das Konzept einer Bibliothek der Dinge (BdD). In diesem Artikel beleuchten wir, wie wir die BdD in der Medizin-Bibliothek Münster implementiert haben, um praxisorientiertes Lernen zu fördern und die Lehre zu bereichern. Zudem geben wir einen Ausblick darauf, wie andere Wissenschaftliche Bibliotheken dieses Konzept ebenfalls gewinnbringend einführen können.

Das Konzept der BdD entstand ursprünglich in Öffentlichen Bibliotheken (ÖBs), in denen neben Büchern auch nicht-textuelle Gegenstände wie Tonies für Kinder, Küchengeräte oder sogar Werkzeuge verliehen werden. ÖBs leben die BdD schon seit Jahren (siehe hierzu auch den Themenschwerpunkt in der BuB-Novemberausgabe 2023) – was den Nutzertrend angeht, können sich Wissenschaftliche Bibliotheken hier eine Scheibe abschneiden!

In der Medizin-Bibliothek Münster haben wir diese Idee übernommen und an die besonderen Bedürfnisse der Medizinstudierenden angepasst. Wir bieten nun eine breite Palette an medizinischen Gegenständen wie Nahtsets, Stethoskope und mobile Ultraschallgeräte zur Ausleihe an. Darüber hinaus veranstalten wir Kurse zu diesen Gegenständen. So ermöglichen wir den Studierenden, ihre praktischen Fertigkeiten zu vertiefen und die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen.

Hintergrund

Der Auslöser war die Corona-Pandemie, welche die medizinische Lehre erheblich verändert hat. Der schnelle Wechsel zu digitalen Formaten bot zwar Flexibilität, doch die praktische Ausbildung litt stark darunter. Die Studierenden konnten nicht wie gewohnt den Umgang mit medizinischen Geräten erlernen oder in Präsenz an praktischen Kursen teilnehmen, was zu erheblichen Defiziten in ihren praktischen Fertigkeiten führte.

Ein weiterer, durch die Pandemie beschleunigter Wandel war die veränderte Nachfrage. Online-Ressourcen gewannen in den letzten Jahren immens an Bedeutung. Gleichzeitig stieg stetig die Nachfrage nach nicht-textuellen Medien. Gegenstände, die den Studienalltag erleichtern – wie Kabel, Tablets oder Adapter – sind immer gefragter.

Die Wissenschaftliche Bibliothek als »Dritter Ort« und »Teaching Library«

Wie setzen wir dieses Konzept also konkret hier in Münster um? Zunächst haben wir die Idee der »Bibliothek der Dinge« in das Konzept des Dritten Ortes integriert. Unsere Bibliothek ist nicht nur ein Lernraum, sondern auch ein sozialer Treffpunkt, an dem Studierende sich austauschen und praktisch arbeiten können – ein Ort, der die Lehre unterstützt, aber auch zum Verweilen einlädt. Beispiele für den »Dritten Ort« sind die Tischtennisplatte und der Kicker im Keller unserer Bibliothek. Doch es geht uns um weit mehr als abwechslungsreiche Pausengestaltung.

Die Medizin-Bibliothek fungiert darüber hinaus als »Teaching Library« in zweierlei Hinsicht. Neben der üblichen Informationskompetenz, um die die Studierenden kaum herumkommen, geht es uns auch um die Vertiefung der bereits erlernten Fertigkeiten im Umgang mit verschiedenen medizinischen Geräten oder Gegenständen. Kurzum: Studierende lernen nicht nur, mit Büchern und Datenbanken zu arbeiten, sondern auch praktische Werkzeuge besser zu handhaben.

Die »Bibliothek der Dinge« verfolgt somit mehrere zentrale Zielsetzungen, die alle darauf abzielen, den Studienalltag der Medizinstudierenden – sei es direkt für das Studium oder für die Rahmenbedingungen – zu erleichtern und gleichzeitig die Qualität der Ausbildung zu verbessern.

Naht Know-How & Mehr: Ein Modellprojekt

Ein erfolgreiches Beispiel der BdD in der Medizin-Bibliothek ist unser Modellprojekt »Naht Know-How & Mehr«. In diesem Rahmen bieten wir Nahtsets zur Ausleihe an, mit denen die Studierenden eigenständig chirurgische Nähtechniken üben können –nicht nur im Kurs, sondern auch zu Hause oder in der Bibliothek. Dazu finden regelmäßig Tutorien statt, die von geschulten studentischen Hilfskräften angeleitet werden. Diese bieten den Studierenden eine stressfreie Lernumgebung in einem eigens dafür umgestalteten Raum, in dem sie ohne Druck ihre Fertigkeiten weiterentwickeln und vertiefen können. Besonders interessant ist dieses Angebot für Studierende im 7. oder 8. Semester, die sich auf ihre Chirurgie-Prüfung vorbereiten. Diese Nahtsets können die Studierenden nach dem Kurs für weitere 14 Tage ausleihen, um zu Hause oder in der Bibliothek weiter zu üben.

Positive Effekte

Einer der größten Vorteile ist die Stärkung der praktischen Fertigkeiten der Studierenden. Indem wir ihnen Zugang zu Übungsgegenständen wie Nahtsets, mobilen Ultraschallgeräten oder anderen medizinischen Geräten bieten, ermöglichen wir es ihnen, regelmäßig und in ihrem eigenen Tempo zu üben – sowohl in der Bibliothek als auch zu Hause. Dies schafft ein sicheres Umfeld, in dem Fehler erlaubt sind und das Lernen ohne Druck stattfinden kann.

Ein weiterer wichtiger Effekt ist die Steigerung des Selbstbewusstseins. Durch kontinuierliches Üben gewinnen die Studierenden Sicherheit im Umgang mit medizinischen Geräten und Vorgängen, was ihnen in der klinischen Praxis zugutekommt. Sie fühlen sich besser vorbereitet und kompetenter, wenn es darauf ankommt, das Gelernte in realen Situationen anzuwenden.

Zusätzlich bietet die BdD zeitliche Flexibilität und Unabhängigkeit. Die Studierenden können die Übungsgegenstände zu beliebigen Zeiten nutzen.

Chancengleichheit ist ein zentrales Anliegen der »Bibliothek der Dinge«. Viele medizinische Geräte sind teuer und nicht für alle Studierenden erschwinglich. Indem wir diese Geräte kostenfrei zur Verfügung stellen, schaffen wir gleiche Bedingungen für alle, unabhängig von ihrer finanziellen Situation.

Auch das Thema Nachhaltigkeit spielt eine große Rolle: Einige Gegenstände werden nur für wenige Wochen benötigt und eine Anschaffung lohnt sich kaum. Hier bietet die »Bibliothek der Dinge« Abhilfe.

Letztendlich stärkt die »Bibliothek der Dinge« die Bibliothek selbst als zentralen Knotenpunkt auf dem Campus. Sie wird nicht nur als Ort der Ausleihe oder des stillen Lernens wahrgenommen, sondern als lebendiger Lernraum, der das studentische Leben auf vielfältige Weise bereichert – ein Raum, in dem Theorie und Praxis zusammenkommen und in dem Studierende miteinander interagieren und lernen können.

Herausforderungen bei der Umsetzung: Finanzierung, Personal und Räumlichkeiten

Die Implementierung einer BdD ist jedoch nicht ohne Herausforderungen. Ein zentrales Problem ist die Finanzierung. Die Anschaffung und Wartung der medizinischen Geräte und Gegenstände ist teuer und geht oft über den normalen Bibliotheksetat hinaus. In Münster haben wir auf Qualitätsverbesserungsmittel (QVM) und Restmittel zurückgegriffen, doch diese Ressourcen sind begrenzt. Es muss jedoch nicht immer kostspielig sein: Statt teurer Nahtpads verwenden wir in den Tutorien beispielsweise Leukoplast und Leukosilk, um eine hautähnliche Festigkeit herzustellen. So können den Studierenden kostengünstige Übungsmaterialien bereitgestellt werden, die dennoch realitätsnah sind. Auch teures Nahtgarn lässt sich durch abgelaufenes Garnmaterial ersetzen, welches uns die Universitätsklinik zur Verfügung stellt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Personalbedarf. Einige medizinische Geräte müssen regelmäßig gewartet und kalibriert werden, was zusätzliche personelle Ressourcen erfordert. Besonders bei teuren Geräten wie den mobilen Ultraschallgeräten müssen wir Verträge mit den Ausleihenden abschließen, um die Rückgabe und Unversehrtheit der Geräte sicherzustellen.

Auch die räumlichen Gegebenheiten stellen eine Herausforderung dar. Unsere Nahtkurse benötigen lediglich gutes Licht, Nahtmaterial und geeignete Tische. Doch bei speziellen Kursen, wie dem gewünschten Aufwachs-Kurs der Zahnmedizin-Fachschaft, stoßen wir an unsere Grenzen, da unsere Räumlichkeiten dafür nicht ausgelegt sind. Eine Anpassung der Räumlichkeiten an solche speziellen Anforderungen ist daher ein ständiger Diskussionspunkt.

Zudem stellt sich die Frage, wie wir das Ausleihkonzept differenzieren. Soll die Ausleihe nur in-house stattfinden, oder sollen die Studierenden die Geräte auch mit nach Hause nehmen können? Aktuell betrifft uns dieses Thema mit unseren teuren Ultraschallgeräten, die wir nun – wie unsere iPads auch – nur über Verträge herausgeben. So können wir sicherstellen, die Geräte im angemessenen Zustand zurückzubekommen.

Die wohl größte Herausforderung ist jedoch, sicherzustellen, dass die praktischen Übungen kohärent mit der Lehre ablaufen. Es darf keine Diskrepanz zwischen dem geben, was in den Kursen gelehrt wird, und dem, was die Studierenden in der Bibliothek üben. Das Übungsangebot muss auf den Lehrplan abgestimmt sein und zur jeweiligen Ausbildungsstufe passen.

Bei uns gilt jetzt die Regel: Nahtkurse buchen und Nahtsets ausleihen geht erst ab dem 7. Semester, nachdem der Nahtkurs absolviert wurde. Durch diesen Kontrollmechanismus kann die Lehre sicher sein, dass die Studierenden den im Curriculum verankerten Nahtkurs durchlaufen haben und sich selbst keine falschen Handgriffe beibringen.

Um diese Dimension zu verstehen, tauschten wir uns mit Studierenden, dem Studiendekan und dem Leiter des Studienhospitals aus und hospitierten bei Nahtkursen. Ein netter Nebeneffekt: Man vernetzt sich so besser mit der Lehre.

Zukunftsperspektiven: Erweiterung des Angebots und Synergieeffekte

Die BdD ist und bleibt ein dynamisches Projekt, das kontinuierlich wächst. Geplant sind beispielsweise Injektionskurse mit Trainingsarmen und Blutdruckmessungskurse. Zudem interessiert sich die Hebammenwissenschaft für Kurse, welche die Nutzung des Mama-Natalie-Geburtssimulators veranschaulichen. Es gibt viele ungenutzte Synergien auf dem Campus, die wir in Zukunft besser ausschöpfen möchten. Eine spannende Idee ist der Einsatz von Ausleihschränken an verschiedenen Standorten, wie etwa im neuen Studienlabor, um den Zugang zu den Geräten noch flexibler zu gestalten.

Ein weiteres erklärtes Ziel ist die stärkere Vernetzung mit anderen Institutionen auf unserem Campus. Wo gibt es sonst noch Bedarf an praktischen Lernmaterialien? Wie können wir Gegenstände gemeinsam mit anderen Einrichtungen auf dem Campus (nach)nutzen und so Mehrwert schaffen?

Viele Lehrende müssen auch auf ihre Lehr-Credit-Points kommen. Eine Idee ist das Bewerten der Nahtergebnisse via Video, welche die Lehrenden erhalten – so kommen sie umgekehrt auf ihre Lehrstunden.

Zusätzlich bildet sich im Moment ein wachsendes Netzwerk von BdD-Projekten in Wissenschaftlichen Bibliotheken, angestoßen von der SLUB Dresden – vielen Dank an dieser Stelle an Henriette Herrmann für die guten Denkanstöße und die Unterstützung! Ein erstes Treffen hat gezeigt, dass sich das Thema auch in anderen Wissenschaftlichen Bibliotheken etabliert. Diese Zusammenarbeit bietet die Chance, Ressourcen gemeinsam zu nutzen und Best Practices auszutauschen.

Fazit: Die »Bibliothek der Dinge« als Modell für die Zukunft

Die »Bibliothek der Dinge« bietet Medizinstudierenden eine einzigartige Möglichkeit, praxisnahe Fertigkeiten zu vertiefen und Chancengleichheit zu fördern. In Münster hat sich gezeigt, dass die BdD erfolgreich in eine Wissenschaftliche Bibliothek integriert werden kann. Sie bereichert nicht nur die praktische Ausbildung der Studierenden, sondern stärkt auch die Rolle der Bibliothek als »Dritter Ort« und zentrale Lern- und Lebensraum auf dem Campus. Die BdD ist damit nicht nur ein innovatives Modell für die Gegenwart, sondern auch eine vielversprechende Perspektive für die Zukunft von Wissenschaftlichen Bibliotheken im Allgemeinen.

Dr. Nils Beese (Foto: UKM Fotozentrale/Wibberg) ist seit 2022 Abteilungsleiter der Medizin-Bibliothek an der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. In dieser Funktion verantwortet er die strategische und operative Weiterentwicklung der Bibliothek, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Förderung innovativer Lern- und Forschungsumgebungen für Studierende und Wissenschaftler/-innen im medizinischen Bereich. Zuvor war Dr. Beese Abteilungsleiter an der Stadtbücherei Münster, wo er unter anderem für Benutzungsdienste, IT und die Entwicklung neuer Services zuständig war. Sein Bibliotheksreferendariat leistete er an der UB Mainz und der Bibliotheksakademie Bayern.

Farina Hatzfeld ist FaMI (Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste / Fachrichtung Bibliothek) und arbeitet seit fünf Jahren an der Medizin-Bibliothek der Universitäts- und Landesbibliothek Münster mit Schwerpunkt-Themen wie Service & Bibliothek der Dinge, Benutzung und interne/externe Kommunikation. Aus ihrer Ausbildung und insgesamt sechs weiteren Jahren in Öffentlichen Bibliotheken kennt sie somit beide Blickwinkel auf die »Bibliothek der Dinge«. Derzeit studiert sie berufsbegleitend an der Hochschule Hannover den Bachelorstudiengang »Informationsmanagement«.

Interessantes Thema?

Teilen Sie diesen Artikel mit Kolleginnen und Kollegen:

Nach oben