In den vergangenen Jahren sind in einigen deutschen Bibliotheken Saatgutbibliotheken mit unterschiedlichen Kooperationspartnern und Konzepten entstanden. Es gibt beispielsweise Tauschbörsen, bei denen die Interessierten selbstständig Saatgut und teilweise auch Pflanzen tauschen können. Hierfür stellt die Bibliothek Räumlichkeiten zur Verfügung und dient als »Austauschplattform«. Einen anderen Ansatz verfolgt die Karlsruher Saatgutbibliothek. Hier liegt der Fokus auf regionalen, teilweise sehr alten Sorten und Kulturpflanzen. Möglich wurde dieses spezielle Angebot durch die Kooperation der Grün-Alternativen Hochschulgruppe (GAHG) des KIT Karlsruhe mit der Stadtbibliothek Karlsruhe.
Im Sommer 2021 kamen fünf Mitglieder der GAHG auf die Stadtbibliothek Karlsruhe zu und stellten ihr Konzept einer Saatgutbibliothek vor, inspiriert durch einen Fernsehbeitrag über norddeutsche Saatgutbibliotheken. Der Schwerpunkt sollte bei samenfestem Saatgut historischer und spezieller regionaler Sorten verschiedener Nutz- und Gemüsepflanzen liegen.
Sehr schnell sagte die Bibliotheksleitung zu und so fand im Herbst 2021 ein erstes Treffen statt. Gemeinsam wurde überlegt, welche Aufgabenteilung sinnvoll ist und wie die Unterstützung der Stadtbibliothek konkret aussehen kann. Durch die Kenntnisse und das Interesse der Studierenden am geplanten Projekt wurde die inhaltliche Verantwortung in die Hände der Hochschulgruppe gelegt: Auswahl und Beschaffung des Saatguts und Informationen zu Pflanzen und Saatgutgewinnung. Die Stadtbibliothek sah ihren Beitrag in der räumlichen Präsentation, der administrativen Organisation, bei Werbemaßnahmen wie Logo, Flyern, Plakaten und Pressearbeit.
Es folgten Monate intensiver Arbeit und Informationsaustausch auf beiden Seiten. Die Studierenden der GAHG-Projektgruppe investierten sehr viel Zeit und Mühe, um passende Sorten herauszusuchen, informative Pflanzensteckbriefe und Beschreibungen zu erstellen, sortenreines und samenfestes Saatgut zu bestellen, passende Papiertütchen auszusuchen, die Füllmenge zu definieren und die Samentütchen zu befüllen.
Gemeinsam mit der Stadtbibliothek wurden die Ausleihbedingungen sowie Art und der Ort der Präsentation geplant. Ziel war es, die Saatgutbibliothek allen interessierten Karlsruher Bürgerinnen und Bürgern kostenfrei und niedrigschwellig zur Verfügung zu stellen. Das Saatgut sollte in der Menge begrenzt, aber ohne Erfassung ausgegeben werden. Somit konnte die Ausleihe und die Rückgabe nicht über das Bibliotheksausleihsystem erfolgen.
Während der Recherchen zu den seltenen und alten regionalen Sorten stellte die GAHG fest, dass es äußerst schwer war, manche dieser Sorten überhaupt zu bekommen. Daher war es wichtig, bei diesen Raritäten doch in irgendeiner Form die Daten der Ausleihenden zu erfassen.
Die GAHG entwickelte für die Saatgutausleihe ein Ampelsystem mit grünen, gelben und roten Punkten. Grün oder gelb markierte Saatguttütchen bedeuten einfach bis mittelschwer anzubauende Sorten und standen zur freien Auswahl/Ausleihe auf Vertrauensbasis im Saatgutregal. Die besonders seltenen Sorten wurden mit roten Punkten gekennzeichnet und an der Information im ersten Obergeschoss gegen Hinterlegung der persönlichen Daten ausgegeben. Die Bibliothek entwarf DSGVO-konform die Ausleih- und Informationsformulare in Papierform. Durch die Ausgabe an der Informationstheke konnten zusätzliche Tipps zum Anbau und zur Vermeidung von Verkreuzungen gegeben werden. Insgesamt durften pro Haushalt maximal drei unterschiedliche Saatguttütchen mitgenommen werden.
Bei einem Vorort-Termin in der Stadtbibliothek stellte sich die Abteilung mit Gartenbüchern im ersten Obergeschoss als guter Standort für die Saatgutbibliothek heraus. Die Informationstheke zur Ausgabe der »roten Sorten« befindet sich auf dem gleichen Stockwerk, allerdings nicht in Sichtweite. Durch Größe und Material der Saatguttütchen waren maßgeschneiderte grüne Boxen durch die hauseigene Buchbinderei die optimale Lösung.
»Erntedank«-Austauschtreffen
Das Interesse an der neuen Saatgutbibliothek blieb bei Hobby-Gärtnerinnen und -Gärtnern und auch bei Presse und Fernsehen sehr groß. Anfragen nach Saatgut seltener Sorten kamen per Post, Telefon und Mail von Mainz bis Stuttgart. Ende April wurde in der SWR-Sendung »Kaffee oder Tee« ausführlich über das Konzept der Karlsruher Saatgutbibliothek und traditionelle Samengärtnerei berichtet.
Ab den Sommermonaten kam erstes Saatgut zurück. Bei den grünen und gelben Sorten lag der Rücklauf bei etwas mehr als 5 Prozent der Tütchen. Allerdings enthielten die Tütchen oft sehr viel mehr Inhalt als bei der Ausgabe. Bei den registrierten roten Sorten liegt der Rücklauf bei circa 30 Prozent, auch hier mit oft deutlich mehr Inhalt. Zu weiteren 6 Prozent der roten Sorten gab es Rückmeldungen zum Ernteausfall. Es wurden sogar reife »gelbe Birnchen« und »Rote Augsburger«-Paprika zum Verkosten in der Stadtbibliothek abgegeben. In der Rückgabebox für die grünen und gelben Sorten wurden zahlreiche Feedback-Formulare eingeworfen. Die Informationen zu den einzelnen Sorten werden nun ausgewertet und fließen in die Planungen für das Jahr 2023 ein.
Am 15. November 2022 fand ein »Erntedank«-Austauschtreffen im Lesecafé der Stadtbibliothek statt. 25 Interessierte berichteten über ihre Erfahrungen mit dem Saatgut, über Balkonanbau, Gartenböden und Sommerhitze. Eine Hobbygärtnerin brachte eigenes Saatgut mit und nutzte den Abend zum Aufbau einer kleinen privaten Tauschbörse. Ebenso kamen Interessierte, die noch kein Saatgut ausgeliehen hatten, aber im nächsten Frühjahr bei dem Projekt gerne mitmachen würden.
Zehn Monate Saatgutbibliothek haben gezeigt, dass im Karlsruher Raum sehr viele Menschen ein Interesse an Biodiversität haben und sich für die Erhaltung der Sortenvielfalt und für seltene oder gefährdete einheimische Nutzpflanzen einsetzen. Ein schöner Anreiz bei der Rettung von Gemüse, Kräutern und Obst ist der Lohn in Form einer reichen, leckeren Ernte. Die GAHG-Studierenden und die Stadtbibliothek Karlsruhe freuen sich auf ein weiteres Projektjahr 2023.
Weitere interessante Berichte über das Engagement von Bibliotheken im Bereich Ökologie und Nachhaltigkeit finden Sie im BuB-Doppelheft Februar-März 2023, das am 16. Februar erscheint und für Abonnenten sowie BIB-Mitglieder schon einige Tage vorab in der BuB-App zu lesen ist.