Als Premierministerin Theresa May Ende März 2017 der EU-Zentrale in Brüssel das Austrittsschreiben ihrer Regierung übermittelte und damit offiziell den »Brexit« genannten Prozess in Gang setzte, deutete alles darauf hin, dass beide Seiten sich auf zielgerichtete und zugleich zeitlich eng terminierte Verhandlungen einstellen. Doch Mitte April kündigte die Regierungschefin, völlig überraschend für das britische Parlament wie für die Wähler, vorgezogene Neuwahlen für den 8. Juni an – zuvor hatte sie diese Option strikt abgelehnt – und stürzte damit die Parteien in hektisches Wahlfieber. Mit diesem taktischen Manöver – die oppositionelle Labour-Partei steckt derzeit in einer Führungskrise – stellte May die Modalitäten wie das anzustrebende Ergebnis des Austrittsprozesses in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatten. Das hat zur Folge, dass im Wahlkampf einzig die großen politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Fragen eine Rolle spielen, aber Detailfragen des Staatshaushalts, die zugleich kulturelle und bildungspolitische Entscheidungen berühren, völlig an den Rand gedrängt werden.
Schon in den Wochen vor dem Brexit-Antrag hatte Martyn Wade, Vorsitzender des britischen Bibliothekarverbands CILIP (Chartered Institute of Library and Information Professionals), seine Organisation öffentlich wirksam zu profilieren versucht. Am 14. Februar richtete er einen Offenen Brief an Robert Wilson, den für Bibliotheken zuständigen Minister, mit der Aufforderung, sich für eine bessere Finanzierung der Public Libraries einzusetzen. Es reiche wirklich nicht, kritisierte er, nur ein Strategiepapier zu erstellen mit zahlreichen, wenngleich folgenlosen Forderungen, wo doch überall im Lande die Bibliotheksbudgets reduziert und Schließungen von Einrichtungen vorgenommen würden. Das Bibliotheksgesetz (Public Library and Museums Act) aus dem Jahre 1964 lege verbindlich fest, dass den Bürgern ein umfassender und effizienter Library Service zusteht. Doch der heutigen Generation werde der schlechteste Bibliotheksdienst seit Kriegsende geboten, und daher sei es nötig, noch in dieser Legislaturperiode ein Investitionsprogramm für das öffentliche Bibliothekswesen zu beschließen.
Bibliotheksförderung gekürzt
Nur eine Woche später richtete Nick Poole, Generaldirektor des CILIP, einen Offenen Brief an den Schatzkanzler Philip Hammond. In seinem Schreiben vom 22. Februar räumt Poole ein, dass er durchaus die Schwierigkeiten des Finanzministers sehe, angesichts des mit vielen Risiken behafteten Brexit-Prozesses einen ausgewogenen Staatshaushalt vorzulegen, der sowohl die steigenden Sozialkosten berücksichtigt als auch die hohen Belastungen der Wirtschaft, und das ohne die Steuerquote zu erhöhen. Doch der Chancellor sollte sich nicht der Einsicht verschließen, dass Bibliothekaren eine einzigartige Vermittlerrolle in der sich entwickelnden Medien- und Informationsgesellschaft zukomme und es ein Mangel an Weitsicht wäre, diesen Sektor zu vernachlässigen. Aber genau dies sei in den letzten sechs Jahren passiert, denn die staatliche Bibliotheksförderung habe man deutlich gekürzt. Jetzt aber müsste man Investitionen in das noch immer großartige Bibliotheksnetz vornehmen, damit sich das von der Premierministerin avisierte »global Britain« realisieren ließe.
»Wo das Serviceangebot abnimmt, bleiben auch die Benutzer aus.«
Die angesprochenen Kürzungen im Bibliothekssektor sind leider allzu offensichtlich und detailliert zu belegen. Gemäß der vom Centre for Information Management der Universität Loughborough publizierten Statistik (sie liegt allerdings nur bis zum Haushaltsjahr 2013/14 vor) hat sich die Zahl der britischen Öffentlichen Bibliotheken (ÖBB) in einem Jahrzehnt um 477 verringert (siehe Tabelle 1), was einem Rückgang um mehr als 10 Prozent entspricht.
Damit einher ging eine Reduzierung des von den ÖBB bereitgestellten Medienangebots um 24 Millionen Medieneinheiten, was sogar eine Verminderung um 20 Prozent bedeutet, womit zugleich ersichtlich wird, dass selbst die noch bestehenden Bibliotheken erhebliche Bestandsverluste verzeichneten. Wenn man die operativen Zahlen genauer betrachtet, zeigt sich die Misere gerade bei den Erwerbungsausgaben, die sich im Jahrzehnt 2004 bis 2014 um 33,4 Millionen Pfund (= 24 Prozent) verringerten (siehe Tabelle 2).
Abbau von Arbeitsplätzen
Mit den Bibliotheksschließungen einher ging natürlich ein Abbau von Arbeitsplätzen. Hier fällt besonders ins Auge, dass gerade die bibliothekarischen Fachkräfte ihren Job in erheblichem Umfang verloren (siehe Tabelle 3). In einem Jahrzehnt wurden fast 3 000 Stellen für Bibliothekare abgebaut, was einem wahren Aderlass von 48 Prozent gleichkommt. Stattdessen wurden angelernte Kräfte eingestellt, sodass die Gesamtbilanz für den Personalsektor nicht ganz so drastisch ausfällt (ein Minus von 26 Prozent). Bezogen auf die Gesamtzahl der ÖBB im Lande (4 145) lässt sich also feststellen, dass inzwischen in mehr als jeder vierten Public Library kein ausgebildeter Bibliothekar mehr anzutreffen ist, eine qualitätvolle fachliche Beratung also kaum noch stattfinden kann. CILIP hatte sich bereits 2015 gegen eine »Amateurisierung« des Bibliothekswesens ausgesprochen, stieß aber bei amtlichen Stellen auf wenig Resonanz.
Wenn nicht nur Bibliotheken geschlossen werden, sondern auch Bestände von den Regalen verschwinden und Personal abgebaut wird, dann leidet auch die Attraktivität des gesamten Bibliotheksnetzes, was sich in rückläufigen Benutzungszahlen niederschlägt. Innerhalb nur eines Jahrzehnts ging die Zahl der eingeschriebenen Entleiher um 5 Millionen zurück (siehe Tabelle 4), was einen Schwund von 33 Prozent bedeutet. Das hat natürlich Folgen für die Zahl der Ausleihen, die bei Büchern um 33 Prozent und bei den AV-Medien um 52 Prozent zurückgingen.
Wo das Serviceangebot abnimmt, bleiben auch die Benutzer aus. Bislang wies die Profession mit Stolz auf die hohe Nutzungsintensität der Public Libraries im Königreich hin, aber inzwischen macht man sich über den Mangel an Zuspruch ernsthaft Gedanken. Im Verlauf eines Jahrzehnt wurden 54 Millionen Besucher weniger pro Jahr gezählt (siehe Tabelle 5), und bei einer Bevölkerung von derzeit 64 Millionen Einwohnern sucht heute nicht einmal jeder sechste eine britische ÖBB auf, wahrscheinlich mit abnehmender Tendenz, wie auch neuere Zahlen belegen, die das Branchenblatt »Bookseller« mehrfach (7. Dezember 2016 und 24. Februar 2017) unter Berufung auf Statistiken des CIPFA (Chartered Institute of Public Finance and Accountancy) berichtete. Allein 2016 sollen 67 weitere ÖBB geschlossen worden sein.
Dieser Faktor wird auch in den Verhandlungen mit den Kommunen und der Regierung zu Buche schlagen, wenn die jährlichen Budgetkonsultationen anstehen. Die Bibliotheken können daher nicht länger nur auf Ausleihzahlen verweisen, sondern müssten andere Angebote erarbeiten, die für die Öffentlichkeit wie für die Geldgeber überzeugend wirken.
Sicherlich wird in den Wochen des Wahlkampfs die Bibliotheksprofession kaum Gehör bei den Politikern finden, und die Brexit-Verhandlungen haben sogar mit einem finanzpolitischen Paukenschlag begonnen. Der Presse wurden Berichte zugeleitet, nach denen die Brüsseler Kommission den Briten eine Abschlussrechnung, angeblich entstanden aus Verpflichtungen des Königreichs während der EU-Mitgliedschaft, in Höhe von 60 bis 100 Milliarden Euro präsentieren werde.
Diese Zahlen gelten zwar als inoffiziell, aber sie machen deutlich, in welchem Umfang die Austrittsverhandlungen wohl auch von Finanzfragen geprägt sein werden. Angesichts solcher Dimensionen und der Tatsache, dass auch andere Bereiche wie das staatliche Schulsystem und der nationale Gesundheitsdienst über eine unzureichende Finanzausstattung klagen, wird der Schatzkanzler wohl kaum höhere Unterhaltszahlungen für die Public Libraries bereitstellen wollen oder können.
»In Anbetrachtdes aufgezeigten Negativtrends benötigen die Public Libraries jede Art von Unterstützung«
Die Bibliotheken Großbritanniens galten jahrzehntelang in Ausstattung wie im Serviceangebot als vorbildlich, und sie sollten einer Regierungschefin, die sich in ihrer politischen Agenda gezielt an den Sorgen und Wünschen der unteren Mittelschicht (in Mays eigenen Worten »people who just manage«) orientieren will, mehr als nur einen flüchtigen Gedanken wert sein. In Anbetracht des aufgezeigten Negativtrends benötigen die Public Libraries jede Art von Unterstützung, aber für den unvoreingenommenen Beobachter stellt sich die Frage, ob derartige Erwägungen die politischen Entscheidungsträger tatsächlich erreichen.
Gernot Gabel / 25.10.2017
Der Beitrag ist zuerst erschienen in BuB 07/2017, Seite 366-368.