Der »Gartners 2012 Hype Lifecircle«1 listet Augmented Reality zwar als eine der Technologien auf, bei der sich die großen Erwartungen der letzen Jahre in eine realistische Ernüchterung verwandelt haben, trotzdem ist laut der Experten von Gartner in den nächsten Jahren weiterhin mit dieser Technologie zu rechnen. Zeit, sich Augmented Reality von Seiten der Bibliothek aus zu nähern, zumal diese Technologie offenbar das Potenzial hat, die Arbeit von Bibliotheken und die Wahrnehmung des Raumes Bibliothek relevant zu transformieren.
Bei Augmented Reality (AR, deutsch: »Erweiterte Realität«) geht es um die Einblendung zusätzlicher Informationen auf dem Display eines Smartphones oder Tablets, die über das Abbild der Realität gelegt werden und somit dieses Bild anreichern. Die Zusatzinformationen werden in Echtzeit, in 3D und interaktiv auf dem Display zur Verfügung gestellt. Im Gegensatz zur Virtual Reality findet die Darstellung in der realen Umgebung statt.2 Einige Projekte, deren Prototypen vorgeführt wurden und dennoch stark an Science Fiction erinnern, versuchen, Brillen als solche Displays zu verwenden; an der Universität Washington wird der Einsatz spezieller Kontaktlinsen erprobt.3,4
Bisheriger Einsatz
Im Tourismusmarketing wird AR bereits seit Langem mit großem Erfolg eingesetzt. So erscheinen bei der Ansicht einer Sehenswürdigkeit auf dem Smartphone-Display Informationen wie der Name, die Größe und die Bauzeit, wiederum andere Apps zeigen die Entfernung der Points of Interests (PoI) oder in der Nähe verfügbare Hotels und Restaurants an. In der Medizin und in der Luftfahrt wird AR ebenso wie in der Automobilindustrie eingesetzt – hier etwa als virtuelle Bedienungsanleitung bei der Reparatur von Fahrzeugen.5
Funktionsweise
Um die gewünschten Informationen darstellen zu können, sind eine Kamera, welche die Informationen aufnimmt, und ein Display für die Anzeige notwendig. Damit die Informationen zu den PoIs bereitgestellt werden, muss außerdem die genaue Position des Empfängers ermittelt werden – dies geschieht zumeist über das GPS-Signal. Möglich ist allerdings auch eine visuelle Verortung, die darauf basiert, dass ein System bekannte Punkte »erkennt« und somit das Anzeigegerät im Raum verortet. Insbesondere Institutionen, die den eigenen Raum kontrollieren können, sind für solche Erkennungssysteme geeignet.
Dies wäre bei Bibliotheken der Fall. Hier wäre es auch möglich, dass Mediencover als visuelle Tracker fungieren (markerloses Tracking), und auch Barcodes oder QR-Codes können in diesem Bereich ihre Anwendung finden (markerbasiertes Tracking). Angezeigt werden die kontextspezifischen Informationen über gesonderte AR-Browser, die im Smartphone- und Tablet-Bereich von Firmen wie metaio oder Layar angeboten werden. Innerhalb der Browser können die Nutzenden je nach Interesse unter einer Vielzahl von Verlinkungssystemen, sogenannte »Channel« (bei metaio) oder »Layer« (bei Layar), wählen.
Es ist jedoch auch möglich, eine AR-App selbst zu programmieren und diese dann über den Playstore von Google (android-basiert) oder den App Store von Apple (für iOS) anzubieten. Der Vorteil ist hier die Unabhängigkeit von einer Software-Firma, ebenso wird die Kontrolle über die Daten, die angezeigt oder nicht angezeigt werden, größer. Ein Nachteil sind die Programmierkosten: Entschließt sich eine Bibliothek für die Programmierung einer eigenen App, sollte von vorneherein klar sein, was die App können muss und welches Ziel mit der App verfolgt wird, da sonst die Programmierung sehr schnell kostenintensiv wird.
Matin Adam, der Geschäftsführer der Berliner Firma »mCrumbs«, mit deren Hilfe ein AR-Projekt der Lichtenberger Stadtbibliothek in Berlin derzeit realisiert wird, beschreibt die Funktionsweise der geplanten AR-Anwendung so: »Um AR zu betreiben, ist ein Server notwendig, der die Informationen aggregiert und koordiniert. Der Server empfängt die Anfragen der AR-Anwendung. In dieser Anfrage sind verschiedene Parameter (zum Beispiel Ortsinformationen oder Bilderkennungsdaten) enthalten, die dem Server dabei helfen, nach der richtigen Antwort zu suchen. Mithilfe der Parameter kann der Server aus der eigenen Datenbank aber auch aus fremden Datenbanken Informationen aggregieren und sie so in eine Form bringen, dass sie von AR-Anwendung gelesen werden können.«
Die Antwort wird an die AR-Anwendung geschickt, das Ergebnis wird zum Beispiel auf dem Smartphone in Form von Links, Video-, Audiodateien oder auch Buttons, die eine Reaktion der Nutzenden hervorrufen sollen, dargestellt. Über die reale Szene werden also zusätzliche virtuelle Informationen gelegt (»Rendering«).
Bisheriger Einsatz in Bibliotheken
Das wohl derzeit bekannteste Beispiel für die Nutzung in Bibliotheken ist ShelvAR (»Augmented Reality App for Shelf Reading«) der Wertz Art and Architecture Library der Universität Miami.6 ShelvAR ist eine App, die dem Bibliothekspersonal die Regalordnung erleichtern soll. Die Bayerische Staatsbibliothek hat zum Märchenkönig Ludwig II. eine Location-based-App entwickelt und ermöglicht Nutzenden dieser App, sich auf die Spuren Ludwigs II. zu begeben.7
Die Öffentliche Bibliothek in San José, Kalifornien, und die State Library of South Australia haben Touren entwickelt, mit deren Hilfe sich verschiedene Bereiche der Stadt erschließen lassen.8 Bei den Bibliotheksnutzerinnen und -nutzern setzt auch das AR-Projekt der Öffentlichen Bibliothek Barcelonas an. Neue, jüngere Kundinnen und Kunden sollen mit Unterstützung von AR als Nutzende gewonnen werden.
Ein ähnliches Ziel verfolgt auch die Lichtenberger Stadtbibliothek in Berlin. Seit Anfang des Jahres 2012 trifft sich dort die Projektgruppe »mylibrARy«. Anja Hannemann-Worsch, die Leiterin formuliert das Ziel des Projektes für die Bibliothek wie folgt: »Die Lichtenberger Bibliotheken verstehen sich als moderne, kundenorientiert arbeitende, öffentliche Bildungs- und Kultureinrichtungen. Auftrag ist es, den freien Zugang zu analogen und digitalen Informationen zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang kann die Bibliotheks-App Teil der bibliothekarischen Angebote sein und diese erweitern, indem sie den Nutzerinnen und Nutzern der Lichtenberger Bibliotheken neue Möglichkeiten der Informationsbeschaffung eröffnet.«
Was macht Sinn?
AR macht, wie jede Technologie, dann Sinn, wenn entweder den Bibliotheken oder den Nutzerinnen und Nutzern ein Mehrwert generiert wird. Ansonsten bleibt dies alles eine nette Spielerei. Dabei nehmen Kosten und Aufwand für den Einsatz von AR immer weiter ab.
Notwendig für den sinnvollen Einsatz von AR sind Anzeigegeräte, sinnvoll semantisch strukturierte Datenmengen, leistungsfähige Server, die Daten schnell und kontextbasiert verarbeiten und ausgeben können, sowie Anwendungsszenarien. Oder anders gesagt: Die technische Seite ist gegeben, die Datenmenge wächst – einzig sinnvolle Anwendungsszenarien, die über Marketing oder einfache historische Anzeigen hinausgehen, fehlen.
Verbunden werden kann AR zum Beispiel mit Technologien wie RFID-Systemen, welche den Standort von Medien bestimmen können. AR kann ebenso zur Verbindung von weiterführenden Daten zu Themengebieten, die in einem Bibliotheksbestand vorhanden sind, genutzt werden. Nicht zuletzt lassen sich, wie in den oben genannten Beispielen deutlich wurde, Ausstellungen, historische und lokale Informationen und selbst Bedienungsanleitungen durch AR kontextgenauer darstellen.
Notwendig für AR sind schnelle Datenverbindungen, die Aufbereitung von Daten – die von Dritten übernommen werden kann, wenn beispielsweise Wikipedia-Daten zu touristischen Attraktionen eingeblendet werden – sowie institutionell das Zulassen von Anzeigegeräten in den Bibliotheken, insbesondere Smartphones. Dies sind technische, bautechnische und organisatorische Probleme, die gelöst werden müssen. Ist es einer Bibliothek zum Beispiel bis heute nicht möglich, ein ausreichend schnelles W-LAN anzubieten, braucht sie sich um die Einführung von AR auch keine Gedanken zu machen.
Science Fiction oder nahe Zukunft?
AR klingt in großen Teilen weiterhin wie Science Fiction. Davon sollte man sich allerdings nicht irritieren lassen: Die Technik ist sehr weit fortgeschritten. Sicherlich muss darauf hingewiesen werden, dass das Vorhandensein einer Technik noch nicht heißt, dass diese auch weite Verbreitung findet. Die Technikgeschichte ist voll von gegenteiligen Beispielen. Allerdings könnte der Durchbruch von AR im Bibliotheksumfeld relativ schnell geschehen.
Hierauf sollten sich Bibliotheken zumindest gedanklich vorbereiten, da AR ihre Arbeit und die Bedeutung des Raumes Bibliothek – der in den letzten Jahren ja ohnehin einen Bedeutungswandel erfahren hat – massiv verändern kann. Die Bibliothek als Ort wird zunehmend wichtig für Lernaktivitäten und als sozialer Treffpunkt, während sich die Bedeutung des Bestandes verschoben hat. An vielen wissenschaftlichen Bibliotheken wird bekanntlich ein Großteil des Bestandes elektronisch genutzt, ohne dass die Nutzenden die Bibliothek besuchen müssten, gleichzeitig besuchen immer mehr Studierende Hochschulbibliotheken. Dem kann mit AR eine weitere Ebene hinzugefügt werden. Der Bestand und Informationen zum Bestand können kontextsensitiv verbunden werden, beispielsweise elektronische Medien, die sich auf ein gedrucktes Medium beziehen, als AR eingeblendet werden. Das verändert die Aufgabe von Bibliotheken weiter.
Die Einbindung der Nutzenden selbst in AR ist ebenfalls möglich. Jim Hahn9 beschreibt in seinem Artikel, wie AR im Verbuchungsbereich der Bibliotheken eingesetzt werden könnte. Die Nutzung der bislang üblichen Bibliotheksausweise würde hier entfallen, wenn der Nutzende per Gesichtserkennung erfasst und für die Ausleihe relevante Daten daraufhin für das Bibliothekspersonal angezeigt werden. Eine aktivere Komponente durch die Nutzenden selbst kommt ins Spiel, wenn die Möglichkeiten, die AR hinsichtlich Social Media und Social Reading bietet, miteinbezogen werden. Dann können sich Nutzerinnen und Nutzer über Medien austauschen, mitteilen an welchen Veranstaltungen sie teilgenommen haben und dies über Social Media-Plattformen posten und so der Bibliothek zusätzliche Aufmerksamkeit zukommen lassen.
Auch der Raum Bibliothek kann durch AR ein anderer werden. Benötigen wir beispielsweise noch eine Aufstellungsordnung, wenn alle Nutzenden Medien per Katalog finden und per AR zum jeweiligen Medium geführt werden können? Mit welchen Informationen können Bibliotheksräume angereichert werden? Wer wird diese Informationen bereitstellen? AR hat die Chance, eine der erfolgreichen Technologien der nächsten Jahre im Bibliothekswesen zu werden – wenn sinnvolle Anwendungsszenarien geschaffen werden.