Bibliotheken, traditionell als Wissensvermittler positioniert, können mit Citizen-Science-Projekten eine Schlüsselrolle bei der Demokratisierung von wissenschaftlichen Prozessen einnehmen. Denn bei Citizen Science, zu Deutsch Bürger-/innenwissenschaften, engagieren sich Laien ehrenamtlich, um gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Fachpersonal an einem Forschungsvorhaben zu arbeiten. Doch wie gut sind Wissenschaftliche Bibliotheken auf die Gewinnung von Freiwilligen vorbereitet? Welche Strategien verfolgen sie, um ihre Projekte zu vermarkten und Freiwillige langfristig zu binden?
Ob mit Transkription historischer Handschriften1, Georeferenzierung alter Karten2, Coding3 oder Hitzeuntersuchungen4 in der Stadt, bei Citizen-Science-Projekten nutzen Bibliotheken die Hilfe von ehrenamtlichen Bürgerinnen und Bürgern, um interessante und diverse Themenkomplexe zu erforschen5. Spätestens nach der im Januar 2024 erschienenen Ausgabe dieser Zeitschrift mit dem Schwerpunktthema Citizen Science, sollte klar geworden sein, wie umfangreich und unterschiedlich Bibliotheken das Thema für sich nutzen und welche Bedeutung es mit sich bringen kann6.
In der diesem Artikel zugrundeliegenden Bachelorarbeit »Marketing für Citizen-Science-Projekte – Eine Analyse aktueller Praktiken wissenschaftlicher Bibliotheken im deutschsprachigen Raum«7 wurde die Bedeutung und Ausgestaltung von Marketing- und Community-Building-Maßnahmen in Citizen-Science-Projekten untersucht. Dabei stehen die Chancen und Best-Practice-Ansätze sowie einhergehende Herausforderungen im Fokus, die sich aus der Implementierung solcher Projekte ergeben. Die Ergebnisse wurden anhand qualitativer Expert/-inneninterviews mit vier Citizen-Science-Verantwortlichen an Zentral-, Landes, Fach- und Universitätsbibliotheken mit circa 0,5 bis 1,5 Millionen Besuchenden pro Jahr gewonnen.
Marketing in Citizen-Science-Projekten – Erfahrung versus Strategie
Ohne ausreichend viele und engagierte Citizen Scientists können bürger/-innenwissenschaftliche Projekte keinen Erfolg haben, denn sie sind der Kernbestandteil des Konzepts8. Die Freiwilligengewinnung ist darum eine zentrale Anforderung an Bibliotheken, die Citizen Science betreiben wollen, weshalb eine Vermarktung der Projekte, um Ehrenamtliche zu akquirieren, notwendig ist. Die Rolle von strategischem Vorgehen bei der Vermarktung von Citizen-Science-Projekten an Wissenschaftlichen Bibliotheken wird in der Praxis dennoch häufig unterschätzt. Häufig werden spannende Projekte konzipiert, das zugehörige Marketing erfolgt jedoch erst als zweiter Schritt und wird eher reaktiv betrieben. Konkrete Vorüberlegungen oder weiter gedacht Marketinganalysen fehlen meist und die getroffenen Maßnahmen basieren oft auf Erfahrungswerten oder werden ad-hoc angepasst, um kurzfristig Erfolge zu erzielen. Diese improvisierte Herangehensweise führt dazu, dass Marketingmaßnahmen oft erst dann angepasst werden, wenn ein Projekt bereits angelaufen ist und sich herausstellt, dass die anfänglichen Ansätze nicht die gewünschten Ergebnisse bei der Rekrutierung von Citizens liefern. Eine strategische Marketingplanung ist meist nicht integriert, was jedoch angesichts der zentralen Bedeutung von Freiwilligen für den Erfolg von Citizen-Science-Projekten dringend notwendig wäre.
Die Projekte werden häufig über bestehende Social-Media-Kanäle kommuniziert, die entweder auf die Nutzenden der Bibliothek oder Fachcommunities ausgerichtet sind. Citizen-Science-Plattformen, die sich an Open-Science-Enthusiasten richten, werden dagegen eher selten genutzt. Wenn an die breite Öffentlichkeit gerichtete Marketingansätze sich nicht als erfolgreich zeigen, wird die Bedeutung der Zielgruppenorientierung klar. Die gezielte Ansprache spezifischer Gemeinschaften führt viel eher dazu, ehrlich motivierte Ehrenamtliche für das eigene Projekt zu gewinnen. Hierbei erweist sich die Kooperation mit bestehenden Strukturen, wie Vereinen, Verbänden oder Institutionen, als besonders effektiv. Dieser Ansatz ermöglicht es, gezielt Personen anzusprechen, die bereits ein zugrunde liegendes Interesse am Thema des Projekts haben und somit potenziell zu hoch engagierten Freiwilligen werden können.
Community-Building – Schlüssel zum nachhaltigen Projekterfolg
Während Marketing-Konzepte in vielen Fällen noch in den Kinderschuhen stecken, ist das Community-Building bei Citizen-Science-Projekten in den untersuchten Wissenschaftlichen Bibliotheken wesentlich weiter entwickelt. Es geht dabei darum, eine Gemeinschaft aufzubauen und zu pflegen – was ein zentrales Element für den langfristigen Erfolg der Projekte darstellt. In allen untersuchten Projekten wurden regelmäßige Veranstaltungen organisiert, die den Austausch unter den Freiwilligen förderten und ihnen die Möglichkeit gaben, ihre Fortschritte zu teilen. Dabei kann festgehalten werden, dass besonders persönliche Treffen einen hohen Stellenwert unter den Citizen Scientists haben.
Die Treffen bieten den Freiwilligen nicht nur die Möglichkeit, sich in die Projektarbeit einzuarbeiten und sich über Erfahrungen auszutauschen, sondern sollen außerdem motivieren und inspirieren. Gesetzt wird dabei von den Bibliotheken vor allem auf Einführungsveranstaltungen, regelmäßige Treffen zum Austausch über den Fortschritt und Abschlussveranstaltungen, in denen den Citizens Wertschätzung und Dankbarkeit entgegengebracht wird9. Formate wie diese erleichtern die Etablierung eines Zusammengehörigkeitsgefühls und einer engagierten Gemeinschaft. Die Ehrenamtlichen können durch die verschiedenen Community-Building-Maßnahmen an die Projekte gebunden werden und sind eher geneigt, sich langfristig und nachhaltig einzubringen.
Der digitale Raum bietet ebenfalls Potenzial für das Community-Building, allerdings sind hier besondere Strategien erforderlich. Gamification-Ansätze, wie die Vergabe von Abzeichen für erreichte Meilensteine oder die Implementierung von Ranglisten, können das Engagement in Online-Projekten fördern, denn die Citizens spornen sich dadurch gegenseitig weiter an. Solche Mechanismen sind besonders bei Projekten beliebt, in denen besonders viele Daten von möglichst vielen Personen gesammelt werden sollen. Gamification kann die Teilnehmenden dazu ermutigen, einen signifikanten und fortdauernden Beitrag zu leisten.
Die Größe der Gruppe in Citizen-Science-Projekten hat außerdem einen wesentlichen Einfluss auf die Effektivität des Community-Buildings. Während in kleineren Gruppen enge Verbindungen leichter hergestellt werden können, ist dies in großen oder rein digitalen Gruppen eine größere Herausforderung. Daher sollten Bibliotheken bei der Konzeption ihrer Citizen-Science-Projekte die Gruppengröße und die Form der Interaktion sorgfältig für ihre Ansprüche abwägen.
Herausforderungen und Ressourcen
Trotz des hohen Engagements der Bibliotheken und der teilnehmenden Bürger/-innen, stehen Citizen-Science-Projekte vor erheblichen Herausforderungen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Ressourcen, denn viele Wissenschaftliche Bibliotheken verfügen nur über begrenzte finanzielle und personelle Mittel, um Citizen-Science-Projekte umfassend zu unterstützen. Nur in äußerst seltenen Fällen gibt es beispielsweise Mitarbeitende, die sich ausschließlich mit der Vermarktung von bürger/-innenwissenschaftlichen Projekten befassen können. Dies stellt eine erhebliche Einschränkung dar, da Marketing nicht nur für die Rekrutierung von Freiwilligen, sondern auch für die Sicherung von Fördermitteln und die Schaffung von Bewusstsein für Citizen Science unerlässlich ist.
Eine weitere Herausforderung zeigt sich auch in der oft fehlenden strategischen Unterstützung durch die übergeordnete Institution. Während einige Bibliotheken über institutionelle Strategien verfügen, die sich auch auf Citizen Science erstrecken, fehlt es anderen an klaren institutionellen Leitlinien und Vorgaben, was die Durchführung und das Marketing von Projekten erschwert. Dies führt dazu, dass Projekte häufig ohne langfristige Planung und Unterstützung durchgeführt werden, was den Erfolg und die Nachhaltigkeit der Projekte beeinträchtigen kann.
Die fehlende Bekanntheit von Citizen Science unter Wissenschaftler/-innen stellt ein weiteres Hindernis dar, denn nicht nur die Bibliotheken selbst können Projekte planen und forschen, sondern sie können genauso unterstützend tätig werden. Forschende in den Trägerinstitutionen der Bibliotheken sind sich häufig nicht der Möglichkeiten von Citizen Science bewusst oder welche unterstützende Rolle die Bibliothek im Kontext einnehmen kann. Es mangelt an Verständnis und Akzeptanz seitens der Forschenden, was die Initiierung neuer Projekte erschwert. Hier sollte Marketing auch innerhalb der Institution eine wichtige Rolle spielen, um das Bewusstsein für die Vorteile von Citizen Science zu schärfen und die Bereitschaft zur Mitwirkung zu erhöhen.
Implikationen für die Praxis
Aus den gewonnenen Erkenntnissen lassen sich mehrere praktische Implikationen ableiten, die zur Optimierung der Marketing- und Community-Building-Maßnahmen in Citizen-Science-Projekten beitragen können. Allgemein könnte eine stärkere Integration zwischen den Marketingabteilungen der Bibliotheken und den Citizen-Science-Teams in Betracht gezogen werden. Die Expertise aus beiden Bereichen kann dazu beitragen, gezieltere und effektivere Marketingstrategien zu entwickeln, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Projekte zugeschnitten sind und zugleich zum übergreifenden Auftritt der Bibliothek passt – sich also in das Gesamtbild einfügt. Auch in Pilotprojekten, in denen zunächst Erfahrungen gesammelt werden müssen, sollte ein gewisses strukturiertes Herangehen an die Vermarktung zur Freiwilligengewinnung das Ziel sein, wobei das Expert/-innenwissen aus dem eigenen Haus eine naheliegende Unterstützung darstellen sollte.
Außerdem ist der Austausch von Erfahrungen und Best Practices von entscheidender Bedeutung. Die Dokumentation und Veröffentlichung von Projektergebnissen, einschließlich der angewandten Marketing- und Community-Building-Strategien, sollte zentraler Bestandteil in der Arbeit mit Citizen Science werden, um anderen Bibliotheken als Leitfaden und Unterstützung zu dienen. Auch Erfahrungsberichte über geglückte und nicht geglückte Ansätze zur Freiwilligengewinnung und -bindung sind extrem wertvoll für alle, die Bürger/-innenwissenschaften in ihr Portfolio aufnehmen möchten. Diese Praxis würde sowohl zur Weiterentwicklung der Citizen-Science- Landschaft in Bibliotheken beitragen als auch die Sichtbarkeit und Anerkennung verschiedenster Projekte verstärken. Durch das Aufbauen von Netzwerken und die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen können Ressourcen gebündelt und Wissen geteilt werden – Herausforderungen, die alle Bibliotheken betreffen, gemeinsam bewältigt werden.
Citizen Science findet im Kontext von Open Science statt und besonders deshalb sollte mit Erfahrungswerten offen umgegangen werden, um Effizienz und Nachhaltigkeit der bürger/-innenwissenschaftlichen Projekte stetig zu verbessern. Bei der Kommunikation der Projekte über Social Media sollte bedacht werden, über welche Kanäle explizit vermarktet wird. Gegebenenfalls ist es zielführender, sich nach bereits bestehenden Foren oder Gruppen zum Thema umzusehen, in denen es wahrscheinlich ist, auf Interessierte zu treffen. Auch die Nutzung von Citizen-Science-Plattform sollte unbedingt in Betracht gezogen werden, da hier davon ausgegangen werden kann, dass bereits ein gewisses Grundinteresse an Citizen Science bei den Websitebesucher/-innen besteht.
Als erfolgreichste Maßnahme zur Vermarktung der Citizen-Science-Projekte wurde anhand von Literaturanalyse und durchgeführter Expert-/inneninterviews die Ansprache bereits bestehender Gruppierungen oder Organisationen identifiziert. Bei der eigenen Umsetzung darf dieses Vorgehen deshalb nicht außer Acht gelassen werden und sollte als zentraler Ansatzpunkt der Marketingstrategie gelten. Beinahe zu allen Themenbereichen, die im Rahmen von Citizen Science denkbar sind, gibt es Interessensgruppen, in denen persönliches Interesse und Begeisterung nur darauf warten, aktiv eingebracht zu werden. Hierfür sind genaue Recherchen, das Einbringen in Netzwerke sowie das Knüpfen von persönlichen Kontakten besonders zielführend. Es ist in allen Fällen unbedingt ratsam, sich als Citizen-Science-Beauftragte-/r aktiv an Vereine, Verbände und sonstige Gruppierungen zu wenden.
1 Flade, Juliane: Neue Perspektiven für die eigene bibliothekarische Arbeit mit Citizen Science. Hinweise für die praktische Umsetzung anhand von drei Projektbeispielen. In: Berufsverband Information Bibliothek [Hrsg.]: Schwerpunkt Citizen Science. Reutlingen: Berufsverband Information Bibliothek (BIB), BuB - 76(2024)1, S. 28–29
2 Wiederkehr, Stefan: Citizen Science an der Zentralbibliothek Zürich. Ein Praxisbericht. In: Bibliothek Forschung und Praxis [Hrsg.], 46(2022)1, S. 99–107. Online unter https://doi.org/10.1515/bfp-2021-0080
3 Blümel, Ina; Drees, Bastian; Hauschke, Christian; Heller, Lambert; Tullney, Marco: Open Science und die Bibliothek – Aktionsfelder und Berufsbild. In: Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare [Hrsg.], 72(2019)1, S. 243–262. Online unter https://doi.org/10.31263/voebm.v72i2.2808
4 Bernhardt, Helena; Harnacker, Sebastian: Urban Heat Stories. Was ist Urban Heat Stories? 2023. Online unter https://futurelab.tuwien.ac.at/research-center/soziale-infrastruktur/urban-heat-stories [letzter Abruf am 03.12.2024]
5 Kaarsted, Thomas; Blake, Oliver; Nielsen, Kristian Hvidtfelt; Alving, Berit; Rasmussen, Lotte Thing; Overgaard, Anne Kathrine; Hansen, Sebrina Maj-Britt: How European Research Libraries Can Support Citizen-Enhanced Open Science. In: Open Information Science [Hrsg.], 7(2023)1. Online unter https://doi.org/10.1515/opis-2022-0146
6 BuB - Forum Bibliothek und Information, 76(2024)1
7 Die zugrundeliegende Bachelorarbeit wurde an der Hochschule der Medien in Stuttgart unter Betreuung von Prof. Markus Hennies und Prof. Cornelia Vonhof verfasst. Ein besonderer Dank gilt neben Ihnen auch den befragten Expert/-innen Prof. Dr. Ina Blümel (TIB Hannover), Jens Bemme (SLUB Dresden), Sebastian Harnacker (TUB Wien) und Dr. Stefan Wiederkehr (ZB Zürich), die so großzügig Ihre Erfahrungen teilten.
8 Munke, Martin; Bemme, Jens: Bürgerwissenschaften in wissenschaftlichen Bibliotheken. In: o-bib. Das offene Bibliotheksjournal, VDB [Hrsg.], 6(2019)4, S. 178-203. Online unter https://doi.org/10.5282/O-BIB/2019H4S178-203
9 Bunge, Eva: »Wir bitten um die rasche Zusendung dieser Listen…«. Ein praxisorientierter Einblick in Citizen Science im Allgemeinen und bibliothekarische Anwendungen im Speziellen. In: Berufsverband Information Bibliothek [Hrsg.]: Schwerpunkt Citizen Science. Reutlingen: Berufsverband Information Bibliothek (BIB), BuB - 76(2024)1, S. 24–27
Lea Schäfer absolvierte ihre Ausbildung zur Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste in der Stadtbücherei im Kornhaus in Wangen im Allgäu sowie in der Berufsschule in Calw. Im Anschluss folgte ein Bachelorstudium Informationswissenschaften mit Schwerpunkt Bibliotheks-, Kultur- und Bildungsmanagement im Short Track Format an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Seit Juni 2024 ist sie Information- und Contentmanagerin in der Technischen Dokumentation von Doppelmayr Seilbahnen GmbH in Wolfurt, Österreich.