Der Mathematikprofessor Paul Appell, in den Kriegsjahren Gründer eines Hilfswerks für französische Witwen und Waisen, war vom Gedanken der Völkerverständigung durchdrungen, und als er im Frühjahr 1920 zum Rektor der Pariser Universität gewählt wurde, sprach er den Industriellen Émile Deutsch de la Meurthe an, der im internationalen Ölgeschäft ein Vermögen verdient hatte. Dieser ließ sich von dem Idealismus Appells überzeugen und sagte eine größere Fördersumme für den Bau eines Wohnheims für ausländische Studierende zu. Da sich im eng bebauten Pariser Universitätsviertel, dem sogenannten Quartier Latin, keine großflächigen Grundstücke finden ließen, auf denen sich ihr Konzept eines in parkartige Umgebung eingebetteten Studentenwohnheims realisieren ließe, zogen sie den Abgeordneten André Honnorat zu Rate, der wenige Wochen zuvor zum Minister für Volksbildung ernannt worden war. Honnorat wurde zum begeisterten Förderer des Projekts – heute gilt er als »spiritus rector« der Cité –, und als dann in der Nationalversammlung Pläne zum Abriss der im 19. Jahrhundert errichteten Pariser Befestigungsanlagen diskutiert wurden, erkannte er Chancen für eine Realisierung. Nach zähen Verhandlungen mit der Stadt Paris und mehreren Ministerien konnte Honnorat schließlich erreichen, dass ein rund vierzig Hektar großes Terrain am südlichen Stadtrand für das Projekt einer »Cité Universitaire« vorgesehen wurde. Im Sommer 1921, nur wenige Tage vor dem Rücktritt der Regierung, stimmte das Parlament dem Gesetz zu.
Auf dem Gelände vor den Bastionen 81 bis 83 der ab 1841 errichteten Stadtmauer, die in den Jahren 1923/24 abgetragen wurde, konnte der Mäzen den Grundstein für die ersten Wohneinheiten legen. Vorgesehen war ein Ensemble aus sieben Häusern im englischen Landhausstil, die insgesamt Unterkünfte für etwa 350 Studierende bieten. Schon im Sommer 1925 wurde die von der »Fondation Émile et Louise Deutsch de la Meurthe« gestiftete Anlage vom französischen Staatspräsidenten eingeweiht. Bereits vor deren Fertigstellung stieß das Konzept eines auf Internationalität angelegten Studentenviertels auf Interesse und Zustimmung im Ausland, und Stiftungen und Philanthropen aus anderen Ländern traten an die Pariser Universität heran mit der Offerte, dort gleichfalls studentische Residenzen errichten zu wollen. In den folgenden sieben Jahren wurden 16 weitere Wohnbauten errichtet, finanziert von Geldgebern aus Argentinien, Dänemark, Indochina, Japan, Kanada, Schweden, Spanien und den USA. Jedes Gebäude weist Eigenarten des jeweiligen nationalen Baustils mit typischen Schmuckelementen auf und trägt zur architektonischen Buntheit des Campus bei.
»Die Bibliotheken sind in das vielfältige Veranstaltungsprogramm der 43 Häuser in der Cité eingebunden.«
Aber mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise geriet das Projekt ins Stocken. Immerhin waren bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs 19 variationsreiche Bauten fertiggestellt und damit Wohneinheiten für rund 2.400 Studierende geschaffen worden. Als im Juni 1940 deutsche Truppen Frankreich besetzten, mussten alle Studierenden die Anlage verlassen und die Gebäude wurden als Kasernen und Krankenhäuser genutzt. Nach 1945 okkupierte dann die amerikanische Armee das Ensemble, bis ab 1947 wieder studentische Bewohner das Areal belebten. Zu Beginn der 1950er-Jahre nahm die Bautätigkeit wieder zu und mehr als ein Dutzend neue Wohnheime entstanden. Heute existieren auf dem langgestreckten und locker bebauten Parkgelände 43 studentische Residenzen mit einer Kapazität für rund 6.800 Studierende. Fünf dieser Residenzen gelten als außergewöhnliche Bauten, die im Verlauf der Jahre in die französische Denkmalliste aufgenommen wurden. Die gepflegte Anlage im 14. Pariser Arrondissement, die seit den frühen 1960er-Jahren durch die Stadtautobahn »Boulevard Périphérique« begrenzt wird, ist mit der Vorortsbahn RER vom Stadtzentrum aus in wenigen Minuten zu erreichen.
Von Studierenden aus dem Ausland, die sich auf dem angespannten Wohnungsmarkt der Seine-Metropole schwertun und sich die hohen Mieten im Zentrum oftmals nicht leisten können, wird eine Unterkunft in der Cité gern angenommen. Die Pariser Universität oder die mit der Verwaltung eines Wohnheims beauftragten Organisationen stellen sicher, dass die Zuweisung der Bewerber nicht allein nach Nationen erfolgt, sondern dass jedes Haus eine multinationale Studentenschaft beherbergt. Jede Residenz bietet eine Vielfalt von sportlichen, künstlerischen und akademischen Veranstaltungen und sucht so den Intentionen der Gründerväter zu entsprechen, kulturelle Diversität zu vermitteln und die Kontaktaufnahme mit den aus rund 140 Ländern kommenden Mitbewohnern zu erleichtern. Während der Monate, als wegen der Corona-Pandemie Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen herrschten, war die Zahl der belegten Zimmer aber deutlich reduziert. Um dennoch Kontakte zu ermöglichen, tauschten die Häuser untereinander Studierende über die sogenannte »brassage« aus, denn in der Cité gilt die Regel, dass in jedem Haus mindestens 30 Prozent der Bewohner aus anderen Nationalitäten stammen sollten.