Gemeinsam in die Zukunft denken

Der Blick in die Zukunft lohnt sich für Bibliotheken in vielerlei Hinsicht – gelingen kann das mit der Methode »Futures Thinking«.
Futures Thinking ist Teamarbeit – hier ein Workshop in der Stadtbibliothek Neukölln. Foto: Vonhof/HdM

Beim »Blick in die Zukunft« denkt man vielfach – und vielleicht insbesondere auch im bibliothekarischen Bereich – an Bücher und Filme aus dem Science-Fiction-Genre. Von »Reise um den Mond« über »Terminator« bis hin zu »Pandora« werden uns ganz unterschiedliche Zukünfte der Menschheit erzählt – von utopisch bis dystopisch. Der »Blick in die Zukunft« lohnt sich aber auch im Rahmen strategischer Entwicklungsprozesse in Bibliotheken. Dabei betrachten wir, wie sich die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, verändern wird und welche Rück- und Wechselwirkungen diese Veränderungen auf Bibliotheken haben könnten. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, in der Veränderungen mit großer Dynamik unser Umfeld prägen.

Die beiden Versionen des »Blicks in die Zukunft« haben Gemeinsamkeiten: Im Mittelpunkt steht nicht die EINE Zukunft, sondern das Denken in Alternativen: Welche Zukünfte erscheinen uns möglich oder realistisch, welche erstrebens- oder vermeidenswert? Die Erkundung von Zukünften hilft uns, die eigene Perspektive zu weiten und regt uns zum Denken in Alternativen an.

»Futures Thinking«, eine Spielart der Zukunftsforschung, greift diesen Gedanken auf. Hierbei geht es nicht darum, die Zukunft möglichst präzise vorherzusagen, sondern darum, plausible Szenarien für potenzielle Zukünfte zu entwickeln. Dabei werden bereits heute erkennbare Signale, Trends und Entwicklungen weitergedacht und daraus unterschiedliche Zukunftsszenarien entwickelt. Zukunftsszenarien lassen sich vereinfacht als »Schnappschuss vom Leben in der Zukunft«1 beschreiben. Diese Geschichten über möglich Zukünfte sind Denkwerkzeuge, die aus einer – und hier zeigt sich ein bedeutender Unterschied zu Science-Fiction – Kombination plausibler Annahmen bestehen, die sich auf qualitative und quantitative Daten stützen.2 Kees van der Heijden, der als einer der Vordenker der Szenariotechnik gilt, beschreibt solche Szenarien sehr treffend als die »Kunst des strategischen Gesprächs«3.

Das Denken und Arbeiten in beziehungsweise mit Zukunftsszenarien hat für Bibliotheken und deren Mitarbeitenden eine doppelte Relevanz:

  • Auf individueller Ebene: Die UNESCO hat 2012 den Begriff »Futures Literacy« geprägt. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, die Rolle der Zukunft in unseren Entscheidungen besser zu verstehen. Dies hilft Menschen, Unsicherheiten zu bewältigen, Innovationen zu fördern und (strategische) Alternativen zu erkennen. Indem wir lernen, verschiedene Zukunftsbilder zu imaginieren, werden wir flexibler und selbstbewusster im Umgang mit Veränderungen. Das trägt zur Stärkung unserer individuellen Resilienz bei.

  • Auf strategischer Ebene: Zukunftsszenarien helfen Organisationen, Unsicherheit zu bewältigen, weil sie sich dadurch auf verschiedene mögliche Entwicklungen vorbereiten. Statt der Fixierung auf nur eine Zukunft, bieten Szenarien mehrere alternative Zukunftsbilder, die potenzielle Chancen und Risiken aufzeigen. So können Strategien entwickelt werden, die unter verschiedenen Rahmenbedingungen funktionieren. Das Durchspielen oder Durchdenken verschiedener Zukunftsszenarien trainiert Organisationen, ihre Resilienz zu stärken und besser auf Herausforderungen zu reagieren, die in einer komplexen und dynamischen Welt auftreten könnten. Konkret kann das zum Beispiel mit der Methode des Backcastings erfolgen: Sie unterstützt bei der Strategieentwicklung, indem man sich gedanklich in ein wünschenswertes Zukunftsszenario versetzt und aus dieser Zukunft Schritte für das Hier und Jetzt ableitet, die nötig sind, um das gewünschte Ziel zu erreichen.

Ausblicke und Einblicke im nationalen und internationalen Bibliothekskontext

Aufgrund dieser Relevanz wurde und wird die Thematik auf unterschiedlichen Ebenen aufgegriffen und weitergedacht. Bereits 2015 veröffentlichte der Think-Tank Arup University einen Report zu »Future Libraries«, der die Ergebnisse von vier im angloamerikanischen Raum durchgeführten Expert:innenworkshops zusammenfasste. Ziel war es aufzuzeigen, welche Auswirkungen die Fortschreibung aktueller Trends auf das zukünftige Design, den Betrieb und das Nutzererlebnis in Bibliotheken haben könnten.4

Die britische CILIP (The library and information association) stellte 2023 ein Projekt vor, das direkt an die oben skizzierten Gedanken anschließt. So stellten die Projektverantwortlichen fest: »Futures Literacy allows library staff and leadership to approach complex and unpredictable situations holistically while taking into account biases and assumptions on things that we take for granted. It's a way of using the future to innovate in the present.«5 Die Ergebnisse bestehen aus einem Report, der aufbauend auf aktuellen Trends vier Szenarien der britischen Gesellschaft 2040 skizziert und Implikationen für die Bibliothekslandschaft ableitet. Zudem wurde ein Toolkit entwickelt, das es ermöglicht, den Report für die Weiterentwicklung der eigenen Bibliothek zu nutzen. Dabei stehen die Förderung der individuellen Futures Literacy, die Entwicklung von Szenarien für die eigene Bibliothek sowie das Treffen strategischer Entscheidungen auf Grundlage von Szenarien im Mittelpunkt.6

Für den deutschen Kontext haben Tobias Seidl und Cornelia Vonhof bereits 2023 vier Szenarien für Öffentliche Bibliotheken im Jahr 2040 vorgestellt, deren Datengrundlage auf der Befragung von deutschen Bibliotheksleitungen basiert.7 Die aktuellste und umfangreichste Arbeit ist der 2024 veröffentliche IFLA-Trendreport, der zum einen sieben zentrale Trends (wie etwa gesellschaftliche Veränderungen durch Künstliche Intelligenz oder die Veränderung von Kompetenzanforderungen, mit denen Menschen umgehen müssen) aufbereitet und zum anderen elf aus den Trends entwickelt Szenarien vorstellt. Abschließend zeigen Hands-on-Impulse, wie mit den Erkenntnissen aus dem Report weitergearbeitet werden kann.8

Alle vorgestellten Berichte und Forschungsergebnisse teilen die gleichen Grundannahmen:

  • Es gibt nicht die eine Zukunft, sondern mehrere Zukünfte.

  • Informationen aus dem Hier und Jetzt, in Form von Trends und kleinen Vorboten der Zukunft (sogenannten Signals) können genutzt werden, um mögliche Zukünfte zu erarbeiten.

  • Die Erkenntnisse und Methoden von Futures Thinking können genutzt werden, um die Perspektive der Mitarbeitenden, wie auch der Organisation zu erweitern und beide resilienter zu machen.

Möglichkeiten zur Umsetzung in (Öffentlichen) Bibliotheken

Wie kann dies praktisch gelingen? Genau dies wollten Tobias Seidl, Cornelia Vonhof (beide Hochschule der Medien Stuttgart) und Susann Schaller (Leitung FB Bibliotheken Neukölln) herausfinden. Unter dem Motto »Wie sieht die Zukunft unserer Bibliothek aus und wie können wir uns darauf vorbereiten?« führten Seidl und Vonhof im Herbst 2024 einen ganztägigen Teamtag9 für die MitarbeiterInnen der Stadtbibliothek Neukölln durch (siehe hierzu auch das Interview).

Für den Workshoptag wurden mehrere Ziele definiert:

  • Sensibilisierung der Mitarbeitenden für eine produktive Beschäftigung mit der Zukunft

  • Kennenlernen verschiedener Kernkonzepte der Zukunftsforschung (Zukünfte, Trends, Signale und Szenarien)

  • Einstieg in die Entwicklung von eigenen Szenarien

  • Aufzeigen von Möglichkeiten zur Integration der Arbeitsergebnisse in die eigene Praxis

 

Um diese Ziele zu erreichen, wurden Inputs mit aktivem Ausprobieren und Reflektieren in Kleingruppen kombiniert. Ein Input zur Relevanz des Denkens in Zukünften, zur strategischen Arbeit in der eigenen Bibliothek sowie zur Entwicklung der persönlichen Futures Literacy legte die gemeinsame Grundlage für den Tag. Der nächste Schritt setzte bewusst an den persönlichen Erfahrungen der Mitarbeitenden an. Die Frage »Welches waren in der Vergangenheit die größten Veränderungen in Ihrer Arbeit in der Bibliothek?« lenkte – je nach Betriebszugehörigkeit – den Blick kürzer oder weiter zurück und förderte konkrete Veränderungen zutage: beispielsweise die Einführung von RFID, veränderte Kommunikationsformate im Team, E-Books als neues Angebot oder die Entwicklung der Bibliothek zum Dritten Ort.

Was damit gelang, war die Sensibilisierung für die vielfältigen kurz- und langfristigen Folgen von Veränderung und die Erkenntnis, dass die Konsequenzen oft vielfältiger waren oder sich auf ganz anderen Ebenen zeigten, als zunächst vermutet.  Dies half, sich einem »Denken in Konsequenzen« anzunähern, das im nächsten Schritt mit der Methode Futures Wheel auf mögliche zukünftige Veränderungen angewendet wurde. Ziel dieser Methode ist es, direkte und indirekte Folgen einer Veränderung systematisch zu erfassen, um so ein besseres Verständnis für die Implikationen einer Veränderung zu gewinnen. Ausgehend von provokativen hypothetischen Veränderungen wie zum Beispiel »2035 übernimmt ein Chatbot in der Stadtbibliothek Neukölln 50 Prozent der Kundenkontakte« oder »2035 sind in der Stadtbibliothek Neukölln 50 Prozent der Mitarbeitenden Ehrenamtliche«, wurden in Gruppen mögliche direkte und indirekte Konsequenzen dieser Veränderung sowie deren Wechselwirkungen gebrainstormt und intensiv diskutiert.

Auf Basis von empirischen Daten der Autoren wurde die Arbeit mit dem Instrument des Futures Wheel fortgesetzt. Nun ging es aber nicht mehr um provokative Gedankenspiele, sondern um die Entwicklung möglicher Zukünfte der Stadtbibliothek Neukölln. Aus der Kombination verschiedener, besonders prägnanter Erkenntnisse aus den entstandenen Futures Wheels wurden erste Ansätze für Zukunftsszenarien für die Stadtbibliothek Neukölln 2035 abgeleitet. Aspekte dieser Szenarien können jetzt in die weiteren strategischen Planungen der Bibliothek integriert werden.

Zukunft ist jetzt

Der Blick in die Zukunft bietet Bibliotheken eine wertvolle Möglichkeit, sich auf dynamische gesellschaftliche Entwicklungen vorzubereiten und ihre strategische Resilienz zu stärken. Zukunftsszenarien und Methoden wie das Futures Wheel ermöglichen es, alternative Zukünfte zu erkunden, Unsicherheiten zu bewältigen und Innovationen zu fördern. Dabei wird nicht nur die institutionelle, sondern auch die individuelle Anpassungsfähigkeit gestärkt, indem Mitarbeitende ihre Futures Literacy erweitern und lernen, Veränderungen aktiv zu gestalten. Die Erkenntnisse (aus Theorie und Praxis) unterstreichen die Bedeutung eines kontinuierlichen, teamorientierten Prozesses, der sowohl kreative Reflexion und Weiterdenken als auch strategische Planung einschließt. Durch eine solche vorausschauende und partizipative Herangehensweise können Bibliotheken nicht nur aktuelle Herausforderungen besser meistern, sondern auch proaktiv eine nachhaltige und zukunftsorientierte Rolle in der Gesellschaft einnehmen.

 

1 Vgl. Institute for the Future (Hrsg.) (2021): After the Pandemic. What happens next. Step-by-step through a decade of change. Palo Alto: Institute for the Future

2 Vgl. Seidl, Tobias und Vonhof, Cornelia (2023): »Bibliotheken 2040. Mit der Szenario-Methode über die Zukünfte von Bibliotheken nachdenken. Bibliothek Forschung und Praxis, 47 (1), S. 4-13 -  https://doi.org/10.1515/bfp-2022-0070

3 Vgl. Heijden, Kees van der (2005): Scenarios: The Art of Strategic Conversation. 2. Auflage. New York, NY: John Wiley & Sons

4 Vgl. Arup (Hrsg.) (2017): An Introduction to Corporate Foresight. London: Arup

5  Vgl. CLIP (Hrsg.) (2023): Future Libraries: Imagining the future of libraries, come rain or shine -   https://www.cilip.org.uk/news/651275/Future-Literacy-for-Libraries.htm

6 Vgl. Fußnote 5

7 Vgl. Fußnote 2

8 Vgl. IFLA (Hrsg.) (2024): Trendreport 2024: Facing the Future of information with confidence -  https://www.ifla.org/wp-content/uploads/ifla-trend-report-2024.pdf

9 Die Autoren danken Sophia Mandel und Lilli Wiedemann, die als studentische Hilfskräfte die Entwicklung des Konzepts und der Materialien unterstützt haben.

 

Tobias Seidl ist Professor für Schlüssel- und Selbstkompetenzen Studierender und Prodekan für Lehre an der Hochschule der Medien Stuttgart. Er ist ausgebildeter LEGO-Serious-Play-Moderator und systemischer Coach. Zu seinen Lehr- und Forschungsschwerpunkten gehören Kreativität und Innovation, zwischenmenschliche Kommunikation und Hochschuldidaktik. – Kontakt: seidl@hdm-stuttgart.de

Cornelia Vonhof (Foto: Hochschule der Medien) ist Professorin für Public Management und Leiterin des Kontaktstudiengangs Bibliotheks- und Informationsmanagement an der Hochschule der Medien Stuttgart. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf Managementinstrumenten in Bibliotheken und Informationseinrichtungen, insbesondere Qualitätsmanagement, Organisationsentwicklung, Prozessmanagement und strategische Steuerung. – Kontakt: vonhof@hdm-stuttgart.de

 

Interessantes Thema?

Teilen Sie diesen Artikel mit Kolleginnen und Kollegen:

Kommentare

Nach oben