»Bibliotheken haben ein enormes Potenzial, an einer guten Gesellschaftssituation mitzuarbeiten«

Im BuB-Interview nimmt der neue dbv-Vorsitzende Volker Heller Stellung zum E-Lending, zum Klimaschutz und zur zunehmenden Bedrohung freiheitlicher Werte.
Volker Heller möchte als dbv-Vorsitzender die Leistungen der Bibliotheken in der Öffentlichkeit sichtbarer machen. Foto: Jo Neander / ZLB

Volker Heller ist als Direktor der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) Leiter der größten deutschen Öffentlichen Bibliothek und seit dem 3. Mai dieses Jahres Bundesvorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv) mit über 2 000 Mitgliedsbibliotheken. Er tritt sein Amt in einer schwierigen Zeit an: Corona-Pandemie, Klimakatastrophe und Krieg in Europa. Statt mit den Umständen zu hadern, hebt er im Interview mit BuB-Redakteur Bernd Schleh die Verpflichtungen, aber auch Chancen hervor, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare bei der Bewältigung der aktuellen Krisen zufallen: »Ich glaube, dass Bibliotheken ein enormes Potenzial haben, an einer guten Gesellschaftssituation in unserem Land mitzuarbeiten.«
 

BuB: Herr Heller, Sie sind seit Kurzem neuer dbv-Vorsitzender. Was steht jetzt ganz oben auf Ihrer To-do-Liste?

Volker Heller: Da stehen eine ganze Menge Themen. Zentral ist für mich, Bibliotheken zu stärken und deren Arbeit, das Potenzial, das sie haben, und das, was sie bereits leisten, noch sichtbarer zu machen – vor allem in Politik und Verwaltung, eben da, wo Bibliothekspolitik verhandelt wird. Das kann ich allerdings nicht allein umsetzen, hier ist der gesamte Verband gemeinsam mit dem Bundesvorstand gefragt. Ich möchte mich für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für Bibliotheken einsetzen, indem ich Einfluss auf die Bibliothekspolitik nehme. Lobbyarbeit ist mir sehr wichtig, und sie kann nur erfolgreich sein, wenn sie von allen unseren Mitgliedsbibliotheken getragen wird. Auf Bundesebene geht es dabei unter anderem um die Themen Sonntagsöffnung, Urheberrecht, Open Access, Open Science und nicht zuletzt um das E-Lending.

Sie sprechen das E-Lending an. Es ist ein massives Problem vor allem für Öffentliche Bibliotheken. Noch immer gibt es keine tragfähige gesetzliche Grundlage. Wie wollen Sie das ändern?
Wir können gemeinsam als Verband weiter Einfluss darauf nehmen, dass es zu einer sinnvollen gesetzlichen Neuregelung im Deutschen Bundestag kommt. Das heißt, die Gespräche mit den Abgeordneten, den Ministerien und Parteien werden wir aufrechterhalten, gleichzeitig müssen wir mit dem Börsenverein und den Autorenvereinigungen intensiv diskutieren. Deren Kampagne »Fair Lesen« haben viele Kolleginnen und Kollegen im Verband als regelrechte Rufmord-Kampagne empfunden. Das hat die Kommunikation nicht vereinfacht, dennoch müssen wir im Gespräch bleiben und schauen, wie wir in dieser Frage zusammenkommen können. Die Ausleihe von gedruckten Büchern in Bibliotheken hat in den vergangenen Jahrzehnten schließlich auch nicht zum Niedergang des Ökosystems Buch geführt. Für das E-Lending brauchen wir jetzt verlässliche Daten aus validen Studien. Sollte sich darin zeigen, dass die Autoren und Verlage wirtschaftlich beeinträchtigt werden, müssen die Bibliotheken beim Kaufpreis von E-Books, momentan das Anderthalbfache des Ladenpreises, eventuell noch mal nachlegen. Es kann sich aber auch herausstellen, dass die Bibliotheken mit ihrem aktuellen Kaufpreis die Verluste der Verlage schon überkompensieren. Bei diesem wichtigen Thema müssen wir raus aus der Propaganda und rein ins Gespräch auf der Basis fundierter Zahlen und Fakten.

Das heißt, Sie werden Kontakt mit den Kontrahenten vom Börsenverein und von der Kampagne »Fair Lesen« aufnehmen?
Auf jeden Fall bin ich für Gespräche offen und suche auch selbst aktiv den Kontakt. Voraussetzung ist, dass es auf beiden Seiten ein ernsthaftes Interesse an einer Lösung gibt.

Was passiert, wenn es zu keiner zufriedenstellenden gesetzlichen Regelung kommt?
Das wäre für die Bibliotheken fatal. Es gibt für uns eine rote Linie und die ist mit dem Windowing der Verlage überschritten. Die Verlage verhindern mit dieser Praxis, also mit dem »Embargo« von Inhalten, das Recht der Bibliotheken auf freie Kuratierung ihrer Sammlungen. Das ist ein Angriff auf das Grundrecht der Informationsfreiheit. Die Bibliotheken sind nur Intermediäre beziehungsweise Treuhänder dieser gesellschaftlichen Übereinkunft, dass Information frei zur Verfügung stehen soll. Wenn wir gehindert werden, diesen Auftrag zu erfüllen, dann ist das nicht nur ein berufsspezifisches, sondern ein grundsätzliches Problem. Bei einer weiteren Verschiebung der Mediennutzung hin zum Digitalen, vielleicht auch aus ökologischen Gründen, könnte sich die Situation verschärfen – mit der Gefahr, dass das Windowing von Verlagsseite sogar noch ausgeweitet wird.

Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Die aktuelle Corona-Situation hat sich deutlich verbessert. Was haben Bibliotheken aus der Pandemiezeit gelernt?
Was wir alle festgestellt haben, ist auf der einen Seite, wie wichtig unser digitales Sortiment ist; anderseits haben wir gelernt, auch unsere Arbeitsprozesse entsprechend zu digitalisieren, mit den Möglichkeiten des mobilen Arbeitens. Insgesamt konnten wir die Servicequalität für unsere Nutzerinnen und Nutzer durch die digitalen Angebote massiv verbessern, beispielsweise durch Ausweitung der digitalen Medienangebote und mit der Nutzer/-innenanmeldung übers Internet. Gleichzeit haben wir gesehen, wie in der Pandemie der öffentliche Raum der Bibliothek vermisst wird und wie wir uns alle danach gesehnt haben, uns dort zu treffen und zu kommunizieren.

War es ein Fehler, vor der Pandemie so stark auf das Konzept »Dritter Ort« zu setzen – genau das, was in den Lockdowns dann nicht mehr funktionierte?
Nein. Wir haben mit der Pandemie eine Ausnahmesituation. Ich bin mir sicher, dass die Bibliothek als dritter Ort und die Nutzung der Bibliothek als physischer Raum nach der Pandemie eine große Renaissance erfahren wird, das zeigen bereits die ersten Erfahrungen, seit die Corona-Lockerungen angelaufen sind.

Sie sind Direktor der größten deutschen Öffentlichen Bibliothek – wie können Sie sich in die Probleme der vielen kleinen dbv-Mitgliedsbibliotheken hineindenken, die teils mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert sind?
Es wäre sicher vermessen zu behaupten, ich könnte mich in alle Problemlagen der Bibliotheken aller Größenordnungen und Arten hineinversetzen. Die Arbeit im dbv ist aber Teamwork, so finden die Sichtweisen der unterschiedlichen Bibliotheksarten und -größen in unserer gemeinsamen Arbeit immer Berücksichtigung. Was mir persönlich wichtig ist, vielen Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Bibliothekstypen und -größen zu begegnen und mit ihnen den Austausch zu suchen. Außerdem haben wir den dbv-Bundesvorstand, der aus unterschiedlichen Sektionen heraus besetzt ist.

Die Lektoratskooperation (Leko) ist für viele Bibliotheken – gerade auch für kleine – ein wichtiges Hilfsmittel für den Bestandsaufbau. Der dbv ist einer der drei Partner, die die Leko tragen. Als Direkter der ZLB haben Sie der Leko den Rücken gekehrt, wie wollen Sie sich bei diesem wichtigen Projekt nun als dbv-Vorsitzender positionieren?
Dass ich der Leko den Rücken zugewandt habe, würde ich so nicht unterschreiben. Aber eines ist klar: Der Leko-Vertrag ist in Teilen schon jahrzehntealt und im Verlaufe dieser Zeit gab es in den Bibliotheken natürlich viele Veränderungen. Deshalb ist es nicht so einfach, die Arbeit der Leko im alten Konstrukt effektiv aufrechtzuerhalten. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es immer schwieriger wird, Rezensentinnen und Rezensenten sowie Lektorinnen und Lektoren zu gewinnen. Das ist ein Signal dafür, dass Veränderungen vorgenommen werden müssen. Ich kann allerdings auch keine Lösungen aus dem Ärmel schütteln. Die Leko wird ein Thema sein, mit dem wir uns im dbv-Vorstand beschäftigen werden. Auch hier gilt: Lösungen kann man nur im Gespräch mit allen Beteiligten finden.

Daraus höre ich, dass die Leko nicht zu Ihren größten Leidenschaften im dbv-Vorsitz zählen wird?
Mir ist wichtig, dass wir sicherstellen, dass alle Bibliotheken in Deutschland, egal welche Größe und welcher Typus, ihren Medienerwerb gut und effektiv auswählen können. Ein guter Medienbestand ist eine Grundleistung, die wir als Bibliothek erbringen, und das muss für alle gesichert sein – egal mit welcher Methode.

Gesichert sein sollte auch der Personalbestand von Bibliotheken. Viele Einrichtungen haben jedoch Schwierigkeiten, ihre Stellen mit geeigneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu besetzen. Haben Bibliotheken hierzulande ein Imageproblem?
Wichtig ist es, unsere Arbeit sichtbarer zu machen. Hier gibt es ein gewisses Paradox: Auf der einen Seite wissen wir, dass es keine anderen Kultur- und außerschulischen Bildungseinrichtungen gibt, die eine so hohe Besuchsfrequenz haben wie Bibliotheken. Wir sind tief in der Gesellschaft verankert, auch quer durch die Milieus. Trotzdem gibt es Vorstellungen von Bibliotheken in der Politik, öffentlicher Verwaltung und den Medien, die nicht das wiedergeben, wofür wir heute stehen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass viele Menschen sentimentale Erinnerungen an Bibliotheken aus ihrer Kindheit oder später aus ihrer Studienzeit haben. Das bleibt hängen, und weil die Bibliothek dann von vielen für Bibliothekspolitik zuständigen Menschen nicht mehr selber genutzt wird, kommen keine aktuellen Eindrücke hinzu. Dann entsteht so ein Image, das einerseits super sympathisch ist, andererseits aber auch verstaubt und irgendwie nicht mehr zeitgemäß. Das müssen wir dringend ändern, indem wir den Multiplikatoren ein realistisches Bild von Bibliothek vermitteln, unter anderem auch im entsprechenden Berufsprofil der Bundesagentur für Arbeit. Da muss alles rein, was wir im Bereich des Digitalen, im Forschungsdatenmanagement oder auch bei der sozialen Bibliotheksarbeit und in der Medienpädagogik leisten.

Diese Vielfältigkeit der Bibliotheken ist auf dem Arbeitsmarkt bisher nicht richtig angekommen. Mit was können Bibliotheken sonst noch punkten?
Mit dem Sinn ihrer Arbeit. Ich glaube, dass wir eine ganz große Chance haben, weil wir Sinn mit unserer Arbeit vermitteln können. Dieser Sinn muss über das Systematische unserer Arbeit hinausgehen in die Frage: Was ist unser gesellschaftlicher Auftrag, was können wir zum Gelingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens beitragen? Damit kann man sicher Menschen für den Bibliotheksberuf gewinnen. Ein Beispiel dazu: Wenn wir in der ZLB eine Stelle für Community-Management ausschreiben, werden wir von Bewerberinnen und Bewerbern geradezu überrannt – auch aus anderen Berufssparten. Und da, wo es die Aufgabe hergibt, ist so eine außerbibliothekarische Besetzung sicher auch eine Chance.

 

Das gesamte Interview finden Sie in der BuB-Juniausgabe (Seite 320 ff.)

Volker Heller ist Generaldirektor der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB). Er studierte Musik, Politologie und Kulturmanagement und arbeitete als Musiker und Komponist sowie in einer Unternehmensberatung für den öffentlichen Sektor, wo er sich auf Organisationsentwicklung und Change-Management im Kulturbereich spezialisiert hatte. Heller wirkte jeweils mehrere Jahre als städtischer Kulturreferent in Frankfurt (Oder), als Geschäftsführer der Kulturmanagement Bremen GmbH und als Leiter der Kulturabteilung des Berliner Senats.
Im Sommer 2012 übernahm er als Vorstand und Generaldirektor die Leitung der ZLB und hat seither die Entwicklung der Bibliothek zu einem Forum der Berliner Stadtgesellschaft und einer Impulsgeberin für das Öffentliche Bibliothekswesen Berlins maßgeblich vorangetrieben. Blitzlicht dieser Entwicklung ist etwa die 2018 von Heller nach Berlin geholte Next Library Konferenz – eine internationale Fachkonferenz, die sich mit Zukunftsfragen der Öffentlichen Bibliotheken beschäftigt; ein weiterer Erfolg ist die 2019 an die ZLB vergebene nationale Auszeichnung »Bibliothek des Jahres«, mit der die Jury den Vorbildcharakter der ZLB unter anderem im Bereich Community-Arbeit auszeichnete.
Im März dieses Jahres wurde Volker Heller zum neuen Bundesvorsitzenden des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv) gewählt. Er hat am 3. Mai die Nachfolge von Andreas Degkwitz, Direktor der Universitätsbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin, angetreten, der den Verband von 2019 bis 2022 führte.

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