Diversität in Bibliotheken – Wie gut sind Bibliotheken aufgestellt?

Studierende der Hochschule Hannover haben gemeinsam mit der Stadtbibliothek Hannover einen diversitätsbezogenen Kriterienkatalog erstellt – ein Projektbericht
Studierende der Hochschule Hannover haben gemeinsam mit der Stadtbibliothek Hannover einen Kriterienkatalog entwickelt, der Bibliotheken dabei unterstützt, maßgeschneiderte Strategien für ihre Diversitätsarbeit zu erarbeiten. Foto: Brad Pict - stock.adobe.com
Studierende der Hochschule Hannover haben gemeinsam mit der Stadtbibliothek Hannover einen Kriterienkatalog entwickelt, der Bibliotheken dabei unterstützt, maßgeschneiderte Strategien für ihre Diversitätsarbeit zu erarbeiten. Foto: Brad Pict - stock.adobe.com

 

Wie gut ist Ihre Bibliothek bezüglich Diversitätskompetenz aufgestellt? Bietet die Bibliothek geeignete, nutzbare und relevante Angebote für alle Menschen? Im Rahmen eines Projektes haben sich Studierende des berufsbegleitenden Studiengangs Informationsmanagement der Hochschule Hannover in Kooperation mit der Stadtbibliothek Hannover diesen Fragen gewidmet. Das Ergebnis des Projekts ist ein umfangreicher Kriterienkatalog, der Bibliotheken dabei unterstützt, auf Grundlage ihrer individuellen Gegebenheiten maßgeschneiderte Strategien zu entwickeln. Dies ermöglicht ihnen nicht nur die Beantwortung der oben genannten Fragen, sondern auch eine gezielte Sensibilisierung für das Thema und eine präzisere Einschätzung im Hinblick auf die Diversitätsfacetten.

Projektziel

Das Ziel des Projekts war die Entwicklung eines Leitfadens bzw. Handlungsrahmens für Bibliotheken unter der Überschrift »Diversity und Bibliothek – Diversitätsorientierte Bibliotheksarbeit« in Kooperation mit der Stadtbibliothek Hannover: als Mitarbeitende, die in Bibliotheken deutschlandweit tätig sind, den Zugang zu Informationen für alle zu gewährleisten und unter Beachtung des Neutralitätsgebots Verantwortung gegenüber Einzelnen in der Gesellschaft zu übernehmen, so wie es der Ethik-Kodex der »International Federation of Library Associations and Institutions« (IFLA) vorgibt. Unsere Ziele gehen mit der Vorgabe der Kommission »Bibliotheken und Diversität« des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv) konform, die Berücksichtigung von Vielfalt als integralen Teil bibliothekarischer Aufgaben zu betrachten.



Zum Erreichen dieser Ziele haben wir uns für die Erarbeitung eines Kriterienkatalogs entschieden. Dieser soll interessierten Einrichtungen detaillierte Verbesserungspotenziale in Bezug auf verschiedene Facetten der Diversität aufzeigen. Der Kriterienkatalog soll eine Orientierung bieten und das komplexe Thema der Diversität näher beleuchten.

Definition Diversity

Unter Diversity versteht man die Unterschiede und Gemeinsamkeiten aller Menschen. Der Abbau von Diskriminierung und die Förderung von Chancengleichheit stehen dabei im Mittelpunkt. Überdies hat Diversity das Ziel, einen bewussten, wertschätzenden und respektvollen Umgang in der Gesellschaft zu schaffen. Es ist dabei wichtig zu beachten, dass Menschen vielfältig sind und sich nicht nur einer Diversitätsgruppe zuordnen lassen. Menschen können beispielsweise sowohl eine körperliche Behinderung haben als auch von Armut betroffen sein.1

Ablauf des Projekts

Das Projektmodul fand im Rahmen des 6. Semesters (Sommersemester 2023) statt. Unter der fachlichen Begleitung der Hochschuldozentin Silke Clausing wurde das von der Kooperationspartnerin, der Stadtbibliothek Hannover, vorgegebene Thema von den Studierenden bearbeitet. Zu Beginn des Projekts wurde ein geeignetes Endprodukt festgelegt und eine Auswahl über die Diversitätsfacetten getroffen. Weiterhin war es wichtig, geeignete Informationsquellen zu identifizieren und passende Untersuchungsmethoden zu definieren.

Zur Schaffung einer soliden Wissensbasis wurde im Vorfeld umfangreich recherchiert, sodass das Thema im Allgemeinen und im bibliothekarischen Kontext untersucht wurde. Innerhalb des Projektteams entstanden dabei kleinere Gruppen, die sich mit verschiedenen Diversity-Facetten auseinandersetzten und aktuelle Diskussionen sowie Entwicklungen, einschlägige Fachliteratur, Berichte und Best-Practice-Beispiele von bibliothekarischen Einrichtungen zur inklusiven Bibliotheksarbeit analysierten. Die jeweiligen Erkenntnisse wurden anschließend den anderen Gruppen präsentiert und im Team ausgewertet, um ein ganzheitliches Verständnis für die vielfältigen Facetten und Ansätze von Diversität in Bibliotheken zu erlangen.

 
»Diversity hat das Ziel, einen bewussten, wertschätzenden und respektvollen Umgang in der Gesellschaft zu schaffen.«

 

Nach eingehender Abwägung wurde beschlossen, den Fokus auf die Facetten »Körperliche Behinderung«, »Geistige Behinderung«, »Neurodivergenz«, »Geschlechtsidentität«, »Queerness« sowie »Armut und Obdachlosigkeit« zu legen. Obwohl die ethnische Herkunft und die Religionszugehörigkeit ebenfalls wichtige Diversitätsfacetten darstellen, hat sich die Projektgruppe gegen eine genauere Beleuchtung entschieden. Bei der Entscheidung wurde berücksichtigt, dass es in diesen Bereichen bereits zahlreiches bibliotheksspezifisches Material gibt. Die ausgewählten Facetten wurden in der bibliothekarischen Praxis bislang weniger ausführlich behandelt.



Um einen persönlichen Zugang zu den Perspektiven der Vertretenden der Diversity- Facetten zu erhalten, wurde als Untersuchungsmethode das Leitfadeninterview gewählt. Die Interviews ermöglichten, ein angemessenes Verständnis für die individuellen Erfahrungen der Befragten zu entwickeln und ihre Meinungen in den weiteren Projektverlauf einzubeziehen. Es wurde gezielt Kontakt zu relevanten Vereinen und Verbänden aufgenommen, über die Verbindung zu potenziellen Gesprächspartnerinnen und -partnern hergestellt werden konnte. Zusätzlich warb ein Plakat weitere mögliche Interessierte an.

 
»Um einen persönlichen Zugang zu den Perspektiven der Vertretenden der Diversity-Facetten zu erhalten, wurde als Untersuchungsmethode das Leitfadeninterview gewählt.«

 

Insgesamt wurden zehn Interviews durchgeführt, die speziell auf die entsprechenden Facetten zugeschnitten waren. Die Fragen konzentrierten sich auf Themen wie Vorkenntnisse zu vorhandenen Bibliotheksangeboten und ihre (Nicht-)Nutzung oder die Ausstattung und Erfahrungen mit dem Personal. Sämtliche Interviews wurden aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert sowie qualitativ ausgewertet, um eine umfassende Analyse der Bedürfnisse und Verbesserungsmaßnahmen zu ermöglichen. Die Ergebnisse der Interviews dienten als Grundlage für die Erstellung des Kriterienkatalogs

Kriterienkatalog

Der als Excel-Datei erstellte Katalog ist in die oben genannten Facetten unterteilt. Innerhalb dieser Facetten gibt es die drei Kategorien »Bau & Ausstattung«, »Service, Medienangebot & Veranstaltungen« und »Personal & Kommunikation«. Jede dieser Kategorien enthält Bedingungen, deren Erfüllung Vertretenden der Diversity-Facetten wichtig sind. Zur Überprüfung der Erfüllung eines Kriteriums und um den Katalog praktisch anwendbar zu machen, wurde ein Bewertungsschema entwickelt. Ist ein Kriterium nicht umgesetzt, werden 0 Punkte vergeben. Kriterien, die bereits teilweise umgesetzt werden oder sich noch in der Umsetzung befinden, erhalten 2 Punkte. Voll umgesetzte Kriterien bekommen 5 Punkte. Zusätzlich gibt es die Bewertungskategorie »nicht relevant«: diese Kriterien werden mit 5 Punkten bewertet. Nicht relevant sind beispielsweise Kriterien, die durch bauliche Bedingungen bereits erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Dabei kann es zum Beispiel um Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrende gehen. Eine ebenerdige Bibliothek ist nicht auf das Vorhandensein eines Fahrstuhls angewiesen. Auf der letzten Seite des Katalogs werden die Ergebnisse zur besseren Analyse grafisch dargestellt.

Zu erfüllende Kriterien sind unter anderem gut erreichbare und vor allem frei zugängliche barrierefreie Toiletten, sicht- und erreichbare Türöffner oder auch ein Brailleleitsystem in der Facette der körperlichen Behinderung. Die Verwendung von leichter Sprache und Piktogrammen oder Bereiche zum gemeinsamen lauten Lesen können für Menschen mit geistiger Behinderung wichtig sein. Aber auch organisatorische Maßnahmen wie die Anpassung von Gebührenordnungen oder Nutzungsvoraussetzungen zugunsten obdachloser oder in Armut lebender Menschen sind Kriterien, deren Umsetzung für eine integrative Bibliotheksbenutzung aller Personen notwendig sind. Einige dieser Kriterien machen die Nutzung der Bibliothek für bestimmte Personen überhaupt erst möglich.

Der Katalog ist mit Blick auf zukünftige Anpassungen gestaltet und bietet die Möglichkeit, kontinuierlich aktualisiert zu werden. Die aufgelisteten Kriterien orientieren sich am Idealbild einer Bibliothek. Eine vollumfängliche Umsetzung der Kriterien kann wahrscheinlich nicht geleistet werden.

Anwendung des Kriterienkatalogs auf die Stadtbibliothek Hannover

Die Stadtbibliothek Hannover hat jährlich rund eine Million Besuchende und stellt, auf 17 Standorte verteilt, ebenso viele Medien zur Verfügung. Durch die Stadtbibliothek Hannover hatten wir die Möglichkeit, den erstellten Kriterienkatalog exemplarisch anzuwenden und so auf seine Praxistauglichkeit hin zu überprüfen. Gegenstand der Untersuchung war die Zentralbibliothek. Insgesamt wurde ein ausgewogenes Verhältnis zwischen erfüllten und nicht erfüllten Kriterien für die Zentralbibliothek ermittelt. Die Bewertung zeigt Unterschiede sowohl in Bezug auf die verschiedenen Aspekte als auch zwischen den drei untersuchten Kriterienkategorien. Am besten fiel das Ergebnis in der Facette der »Geschlechtsidentität und Queerness« aus, hier wurden 58 Prozent der Kriterien erfüllt, 21 Prozent sind in Umsetzung. Positiv bewertete Aspekte sind hier zum Beispiel, dass die Bibliothek eine Richtlinie zur schriftlichen Kommunikation in geschlechtergerechter Sprache hat und auch automatisierte Mails diese Richtlinien erfüllen. Ebenso legt die Bibliothek Materialien wie Poster und Flyer aus, die geschlechtliche Vielfalt auf positive Weise darstellen, und schützt themenbezogene Materialien vor mutwilliger Beschädigung.

 
»Durch die Stadtbibliothek Hannover hatten wir die Möglichkeit, den erstellten Kriterienkatalog exemplarisch anzuwenden und so auf seine Praxistauglichkeit hin zu überprüfen.«

 

In der Facette »Körperliche Behinderung« erfüllt die Stadtbibliothek Hannover bisher 40 Prozent, in der Facette »Geistige Behinderung« sind es 32 Prozent erfüllte Kriterien. Ein wesentlicher Punkt zur Verbesserung stellt hierbei die Barrierefreiheit im Bezug auf »Bau und Ausstattung« dar. Hier gibt es viele Möglichkeiten für die Bibliothek, barrierefreier zu werden, sei es durch höhenverstellbare Arbeitsplätze, ein Leitsystem in einfacher Sprache oder Computer mit spezieller Hardware, wie adaptiven Tastaturen, sowie Software, wie einer synthetischen Sprachausgabe. Andererseits kann positiv bewertet werden, dass zum Beispiel Medien in Großdruck vorhanden sind und es eine induktive Höranlage an der Ausleihtheke gibt.



Für Personen, die der Facette »Armut und Obdachlosigkeit« angehören, wird positiv bewertet, dass kostenfreies WLAN angeboten wird. Auch eine Befreiung von der Jahresgebühr ist möglich, wenn zum Beispiel ein Nachweis über den Bezug von Sozialleistungen vorgelegt wird. Der freie Zugang und die Nutzung der Medien im Freihandbereich ist grundsätzlich ohne Bibliotheksausweis möglich, was auch Personen ohne Leseausweis den Besuch ermöglicht. Insgesamt erreicht die Stadtbibliothek Hannover in dieser Facette 48 Prozent an umgesetzten Kriterien, 12 Prozent an Kriterien in Umsetzung und 40 Prozent an Kriterien, die momentan noch nicht umgesetzt sind. Hier ist besonders im Bereich »Personal & Kommunikation« viel Potenzial zur Verbesserung. Die Stadtbibliothek könnte beispielsweise mit professionellen Einrichtungen der Obdachlosenhilfe kooperieren und spezielle Schulungen für das Bibliothekspersonal ermöglichen, um qualitative und aktuelle Auskünfte über spezielle Hilfsangebote, zum Beispiel Unterkunft, Rechtsberatung und medizinische Versorgung, geben zu können.

 
»Der erstellte Kriterienkatalog soll Bibliotheken eine Grundlage dafür bieten, die eigenen Stärken und Schwächen in Bezug auf das Thema Diversity einzuschätzen.«

 

Die Stadtbibliothek zeigt in der Gesamtbewertung mit 68 Prozent besonders viele umgesetzte Kriterien im Bereich der »Services«, »Medienangebote« und »Veranstaltungen«, also den Kernaufgaben einer Bibliothek. Die Kriterien in Bezug auf »Personal und Kommunikation« werden aus oben genannten Gründen weniger erfüllt. Im Bereich »Bau und Ausstattung« halten sich erfüllte und nicht erfüllte Kriterien mit jeweils 38 Prozent die Waage. Dabei ist jedoch zu beachten, dass bauliche Veränderungen meist nur langfristig und mit einem höheren Planungs- und Finanzierungsaufwand umgesetzt werden können. Insgesamt ist das Ergebnis der Stadtbibliothek Hannover zufriedenstellend und im erwartbaren Rahmen ausgefallen. Das Projekt und die Analyse wurden der Stadtbibliothek im Rahmen einer Abschlusspräsentation vorgestellt und erläutert sowie der Kriterienkatalog schriftlich übergeben. Besonders erfreulich ist, dass die Bibliothek im Anschluss bereits ein weiteres Kriterium für mehr Barrierefreiheit kurzfristig umgesetzt hat, sodass nun in den Katalogdaten von DVDs und BluRays jeweils verzeichnet ist, ob Untertitel oder Audiodeskriptionen für Menschen mit eingeschränktem Hör- oder Sehvermögen verfügbar sind.

Zusammenfassung

Der erstellte Kriterienkatalog dient dazu, einen Beitrag zur Förderung von Diversität in Bibliotheken zu leisten. Er soll Bibliotheken eine Grundlage dafür bieten, die eigenen Stärken und Schwächen in Bezug auf das Thema einzuschätzen. Die Kriterien des Katalogs sind teilweise aus Gesprächen entstanden, die mit Angehörigen der jeweiligen Facetten durchgeführt wurden. Dadurch werden Bibliotheken auf Aspekte aufmerksam gemacht, die möglicherweise bisher unerkannt geblieben sind, und werden zu Lösungen angeregt. Im Idealfall kann der Katalog eine Grundlage für Budgetverhandlungen und Projektdurchführungen sein.

Der Kriterienkatalog steht interessierten Einrichtungen als ZIP-Datei auf dem Dokumentenserver »SerWiss« der Hochschule Hannover zur Verfügung. Er kann über den folgenden DOI-Link aufgerufen werden: https://serwiss.bib.hs-hannover.de/frontdoor/index/index/docId/2933

 

1 https://www.charta-der-vielfalt.de/fileadmin/user_upload/Studien_Publikationen_Charta/Charta_der_Vielfalt-ÖH-2017.pdf

Der Artikel wurde vom Bachelor-Studiengang Informationsmanagement (berufsbegleitend) im 6. Semester an der Hochschule Hannover verfasst. Zur Projektgruppe gehörten: Annika Berends, Leonie Sophie Fabian, Robin Fels, Anna-Lena Lächelt, Maria Nguyen Thu, Jonas Reinhard, Teresa Schliemann, Larissa Schmidt, Janina Steinike-Kuhn, Jessica Storch, Martin Waldorf. Die Projektleitung hatte Silke Clausing inne.

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