Der blinde Bibliothekar: Dokumentieren, ohne hinzusehen

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Jochen Schäfer bei der Arbeit. Er ist FaMI und blind. Fotos: Steffen Heizereder

178 000 schwerbehinderte Menschen waren in Deutschland im Oktober 2014 arbeitslos – Tendenz steigend. Jochen Schäfer und Sezen Stearn sind zwei blinde Fachangesellte für Medien- und Informationsdienste. Auch sie haben Probleme, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Job oder sogar eine Festanstellung zu bekommen. Und das, obwohl beide gut ausgebildet sind und mit technischen Hilfsmitteln ihren Arbeitsalltag selbstständig bewältigen können. Bei vielen Arbeitgebern fehle es an Hintergrundwissen, sind sich beide einig. BuB erzählt ihre Geschichte.

Mit dem Rücken zur Eingangstür sitzt Jochen Schäfer am Computer seines Arbeitsplatzes in der Schülerbibliothek der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) in Marburg. Die Regale mit den schweren Wälzern und der dunkle Teppichboden lassen den länglichen Raum beengt wirken. Durch ein kleines Fenster fällt Tageslicht, das den Raum erhellt.

Der 42-Jährige ist bei der Blista für das Erfassen und Erschließen der Zeitschriften zum Blindenwesen verantwortlich. Schäfer verschlagwortet die einzelnen Texte der Zeitschriften entsprechend. Sorgsam nimmt er eine Zeitschrift zur Hand, knickt sie einmal und legt sie akkurat auf den Scanner neben seinem PC. In einem beißenden Violett leuchtet ihm die Schrift auf dem alten PC entgegen. Schäfer sieht es nicht. Von Geburt an ist er blind.

Obwohl der ausgebildete Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste (FaMI) nichts sieht und diese Tatsache bei sehenden Menschen mit der Vorstellung absoluter Hilfslosigkeit untrennbar verbunden ist, erledigt er seine Arbeit selbstständig. Technische Hilfsmittel unterstützen ihn dabei im Arbeitsalltag. Nachdem die Seite vom PC erfasst wurde, übersetzt etwa ein Screenreader (dt. Bildschirmleser) den Text in Blindenschrift, der sogenannten Punktschrift. Mit einem weiteren Hilfsmittel, der Braille-Zeile, kann Schäfer den Text lesen. Während er sich auf dem Bildschirm über die einzelnen Textzeilen klickt, fahren kleine Metallstäbe in der Braille-Zeile hoch, die die Schrift auf dem PC-Bildschirm in Punktschrift darstellen.

Routiniert und zielsicher hantiert Schäfer parallel mit seiner PC-Tastatur und der Braille-Zeile. Mit dem rechten Zeigefinger liest er die Blindenschrift. Die linke Hand führt er über Kreuz zu den Pfeiltasten der mittlerweile in die Jahre gekommenen Tastatur. Mit wenigen Handgriffen hat er das Buch erkannt und mit Schlagworten versehen.

Seit 17 Jahren in der Bibliothek

Unterhält man sich ein wenig mit dem 42-Jährigen, der stets überlegt und strukturiert spricht, seine Worte mit Bedacht wählt, merkt man schnell, dass ihm seine Arbeit Spaß macht. Seit 17 Jahren bereits arbeitet er bei der Blista. Und dennoch ist er nach wie vor auf einen Sozialhilfeträger angewiesen, der ihm die Arbeit als Außenarbeitsverhältnis in der Schülerbibliothek ermöglicht. Wie anderswo auch, fehlen die Gelder im Bereich der Dokumentation.

Für blinde Menschen ist die Jobsuche besonders schwer. »Auf dem normalen Arbeitsmarkt haben Blinde doch kaum eine Chance«, sagt Schäfer frustriert. Bei Bewerbungen stoße er immer wieder auf Vorbehalte. Zu langsam, zu teuer, nicht kündbar. »Die Arbeitgeber denken, sie werden uns hinterher nicht mehr los«, sagt Schäfer. »Aber das ist Quatsch. Wir haben einen erweiterten Kündigungsschutz, aber das ist kein Freibrief.« Was als hilfreich für behinderte Menschen gedacht war, werde ins Gegenteil verdreht, ärgert er sich.

Wie schwer es Behinderte auf dem Arbeitsmarkt haben, belegen Zahlen aus dem Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit.1 Demnach waren im  Oktober vergangenen Jahres 178 000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos, acht Prozent mehr als 2009. Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum dagegen um 14 Prozent gesunken. Zudem ist auch der Fachkräfteanteil an schwerbehinderten Arbeitslosen höher. Dies könne »ein Indiz dafür sein, dass es jenseits der Qualifikation Faktoren gibt, die die Integration schwerbehinderter Menschen in den Arbeitsmarkt erschweren«, heißt es in dem Bericht der Arbeitsagentur. Auch die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit ist bei schwerbehinderten Menschen deutlich höher.

Uwe Boysen, 1. Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden- und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), kennt die Probleme, die Menschen wie Jochen Schäfer bei der Arbeitssuche haben. »Die meisten Menschen können sich schlicht und ergreifend nicht vorstellen, wie wir arbeiten«, sagt Boysen, der selbst blind ist. Er sieht die Schuld in erster Linie bei den Arbeitgebern, die zu wenig über die Hilfsmittel für Behinderte, staatliche Zuschüsse und generell die Ausbildung und Fähigkeiten blinder und stark sehbehinderter Menschen wissen.

Aber auch die teilweise langwierige Bewilligungspraxis der Arbeitshilfsmittel erschwere die Situation von Blinden. Zum Teil könne dies mehrere Monate dauern. Insbesondere bei kurzzeitigen Praktika führe diese Praxis daher mitunter zu Problemen. 17 Prozent der 1400 Vereinsmitglieder des DVBS sind arbeitslos. Dies betreffe in erster Linie Späterblindete, die in mittlerem Alter noch den Umgang mit der neuen Situation lernen müssen. Aber auch etliche Barrieren erschwerten den Eintritt ins Berufsleben. Die Zugänglichkeit von IT-Programmen zum Beispiel. Rein grafische Programme seien für Blinde vollkommen ungeeignet. Sämtliche Grafiken bräuchten Beschriftungen und Zuordnungen, sagt Boysen. Standardprogramme von Microsoft etwa oder der Internetstandard W3C seien für Blinde allerdings gut beherrschbar. »Aber wenn sich ein Programmierer bei einem Programm richtig austobt, wird es meist schwierig für uns.«

Auch die Barrierefreiheit im rein körperlichen Sinne ist für blinde Menschen wichtig, erläutert Boysen. Zwar könne man als Blinder oder stark sehbehinderter Mensch durchaus problemlos Treppen auf- und absteigen. Blindheit sei aber eine Informationsbehinderung, so dass Leitsysteme, wie man sie etwa von Bahnsteigen kennt, oder Kontraste sehr wichtig seien, um sich in einer fremden Umgebung oder am Arbeitsplatz gut zurechtzufinden.

Um die Arbeitssituation blinder und sehbehinderter Menschen zu verbessern brauche es der Ansicht von Boysen zufolge zwei Dinge: Mehr Aufklärung im Arbeitgeberbereich und besseres Coaching für die Blinden insbesondere in der Studien- und Berufsberatung.

Auch Sezen Stearn (im Bild links) ist derzeit auf Arbeitssuche, auch sie ist von Geburt an blind und auch sie hat wie Jochen Schäfer eine Ausbildung zur FaMI absolviert. Mit junger, kräftiger, positiver Stimme spricht Stearn am Telefon. Doch eigentlich sind die Dinge, die sie erzählt, alles andere als hoffnungsvoll. Seit sie vor einem Jahr ihre Ausbildung bei der Frankfurter Forschungsbibliothek im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt abgeschlossen hat, ist die 33-Jährige arbeitslos. 30 Bewerbungen hat sie bereits an Bibliotheken im Rhein-Main-Gebiet geschickt. Zu einigen Bewerbungsgesprächen wurde sie auch eingeladen. Eine Anstellung hat sie bislang nicht bekommen. In einem Fall sei eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch sogar gleich mit Verweis darauf erfolgt, dass Stearn aufgrund des allgemeinen Gleichbehandlungsparagrafen eingeladen werde. »Es scheitert meist daran, dass sie sich nicht vorstellen können, wie das gehen soll. Es fehlt eindeutig am Wissen.«

Recht auf Arbeitsplatzassistenz

Computergestützte Arbeiten, etwa im Bereich der Archivierung oder Datenbankrecherche, könnten blinde Menschen dabei sehr gut machen, sagt Stearn. Schwierig würde es dagegen an der Ausleihtheke oder bei Arbeiten direkt am Bücherregal oder im Magazin.

Für Arbeiten, die der blinde Arbeitnehmer nicht selbst erledigen kann, besteht daher die Möglichkeit, eine Arbeitsplatzassistenz hinzuzuziehen, erklärt Andrea Katemann, die Leiterin der Deutschen Blindenbibliothek bei der Blista in Marburg. Dabei handelt es sich um eine Person, die dem blinden Angestellten bei den Tätigkeiten hilft, die er aufgrund seiner Behinderung nicht selbst erledigen kann. Es besteht dabei Anspruch auf Assistenz für 50 Prozent der Arbeitszeit, je nach Stundenumfang variiert der Anspruch entsprechend. Der blinde Mitarbeiter entscheidet selbst, wann die Arbeitsplatzassistenz zur Arbeit mitkommt. »Dem Arbeitgeber entstehen dabei keine Zusatzkosten«, sagt Katemann.  »Ich entscheide selbst, wann die Arbeitsplatzassistenz kommt.«

Auch die benötigten Hilfsmittel wie Screenreader, Braille-Zeile, Scanner und Datenbank-Anpassungen werden gefördert.

Sezen Stearns ehemaliger Chef Simon Rettelbach bei der DIPF äußerte gegenüber BuB sein Bedauern, die 33-Jährige nach ihrer Ausbildung nicht weiter beschäftigt haben zu können. »Frau Stearn hat eine gute Ausbildung bei uns gemacht«, sagt er. »Dass wir sie nicht weiter beschäftigen konnten, hat nichts mit der Qualifikation von Frau Stearn zu tun.« Es sei jedoch keine zu besetzende Stelle frei gewesen. Normalerweise versuche man, Auszubildende mindestens für zwölf Monate weiterzubeschäftigen. In einem Fall habe man sogar einem blinden Kollegen eine Vollzeitstelle geben können.

Die DIPF kooperiert bereits seit 15 Jahren mit der Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte (SBS). Immer wieder vermittelt die SBS Auszubildende an die Bibliothek. Die inhaltliche Ausbildung findet dann im DIPF statt. Die Ausbildungsinhalte werden möglichst genau auf die Bedürfnisse der blinden Lehrlinge zugeschnitten. »Die Möglichkeiten reduzieren sich auf alles, was über den PC gemacht wird«, sagt Rettelbach. Bei diesen Tätigkeiten sei eine vollwertige Kompensation der Behinderung möglich. Zurück zur Blista nach Marburg. Im Magazin reihen sich riesige Wälzer aneinander. Blindenschrift benötigt mehr Platz. Zur Verdeutlichung holt Ellen Taubner, eine sehende Kollegin von Jochen Schäfer, die bei der Blista im Archiv der Schülerbibliothek arbeitet, einen Band der Fantasy-Romanreihe »Harry Potter« hervor. »Der Orden des Phönix« heißt der Titel des Bandes und ist in Schwarzschrift mit 1022 Seiten der umfangreichste Teil der Reihe. In Punktschrift dagegen holt Taubner sieben dicke Bücher und stellt sie gegenüber. Formatierungen, Bilder, alle Informationen, die das menschliche Auge neben dem eigentlichen Text aufnimmt – all das muss für blinde Menschen übersetzt werden.

Aktualität zählt - auch in der Bibliothek für Blinde

Und diese Übersetzung dauert –  in der Regel ein halbes bis ein dreiviertel Jahr. Ein großer Nachteil, sagt die 34-jährige Taubner. Schließlich würden sich die Lesegewohnheiten von Blinden und sehenden Menschen kaum unterscheiden. Was zähle sei Aktualität. »Wir haben es einmal geschafft, genauso schnell zu sein, wie die Schwarzschrift«, sagt Taubner stolz und lacht. Sogar eine Verschwiegenheitserklärung habe man damals unterschreiben müssen, damit keine Inhalte der Neuerscheinung vorab verbreitet werden.

Taubner holt eine große Lederbox aus dem Regal. Sie ist bereits etwas abgegriffen. Alte Aufkleber, die nicht ganz abgegangen sind, sind darauf. Vorsichtig packt Taubner den Fantasyroman in die Box. Jetzt kann die Bestellung verschickt werden. Da es bundesweit nur wenige solcher Einrichtungen wie die Blista gibt, werden meist Fernleihen per Post verschickt. Trotz der Schwere des Päckchens entstehen keine Kosten – Blindensendungen sind immer kostenlos, erklärt Taubner. »Die Post darf allerdings in das Paket reinschauen, um zu überprüfen, ob es auch wirklich eine Blindensendung ist.«

Etwa 11 000 Punktschrift-Bücher, 40 000 Hörbücher und 10 000 Bücher befinden sich im Präsenzbestand der Schulbibliothek.

Blista: Kompetenzzentrum für Blinde

Die Blista ist aber mehr als eine Bibliothek. Es ist ein Kompetenzzentrum für blinde und stark sehbehinderte Menschen. Neben dem Verwaltungs- und Bibliotheksgebäude befindet sich auf dem großen Areal der Schulkomplex mit allgemeinbildendem Gymnasium, beruflichem Gymnasium und der Fachhochschule für Sozialwesen. Die Schüler kommen aus ganz Deutschland, denn die Blista ist das einzige Vollgymnasium für blinde Menschen in der Bundesrepublik. Etwa 500 Schüler gehen hier zur Schule. Auch ein Internat ist dem Komplex angeschlossen. Die Menschen werden hier auf ein Leben in Selbstbestimmtheit vorbereitet. Neben den rein schulischen Einrichtungen gibt es das sogenannte Rehabilitätszentrum RES. Dort lernen Erblindete, mobil zu sein und sogenannte lebenspraktische Fähigkeiten, also die Bewältigung des Alltags. »Blinde Menschen müssen erst lernen, sich zurechtzufinden«, erklärt Schäfer.

Der 42-Jährige macht indes Feierband. Gemeinsam mit seiner Kollegin Andrea Katemann demonstriert er im Lesesaal der Schülerbibliothek das Lesen der Punktschrift. Ein einzelner Punkt links oben auf dem Sechserfeld etwa steht für den Buchstaben »a«. Alle drei Punkte auf der linken Spalte des Sechserfeldes stehen für das »l«. »Gute Punktschriftleser sind genauso schnell wie Sehende«, sagt Ellen Taubner. In Windeseile fahren die beiden über die Zeilen. Schäfer benutzt dabei immer den rechten Zeigefinger, aber das sei Geschmacksache.

»Es ist von Vorteil, dass wir die Punktschrift von der Pike auf gelernt haben«, sagt Schäfer. Im Alltag kommt er daher gut zurecht. Und er wird genau wie Sezen Stearn auch weiterhin nach Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt Ausschau halten – auch wenn beide selbst nicht immer an einen Erfolg glauben. »Ein gewisser Optimismus«, sagt Sezen Stearn, »der bleibt jedoch.«

 Steffen Heizereder 31.3.2015

 1 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeitsmarkt in Deutschland – Kurzinformation: Der Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen, Nürnberg, Oktober 2014, S. 5-10.

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