Mit ihrem Gründungsdatum 1368 zählt die Bibliothèque Nationale de France (BNF) zu den ältesten Nationalbibliotheken der Welt, und mit ihrem Bestand von rund 40 Millionen Medieneinheiten ist sie zudem eine der größten. BuB-Autor Gernot Gabel berichtet über die Geschichte der französischen Nationalbibliothek, das neue Periodika-Zentrum und den Standort Amiens.
Ein Rückblick auf die Geschichte der Bibliothèque Nationale de France macht deutlich, in welchem Umfang sie von staatlichen Vorgaben und historischen Ereignissen geprägt wurde. Bereits 1537 verfügte König François I. die Pflichtablieferung aller Druckerzeugnisse, und der »Sonnenkönig« Ludwig XIV. machte die Kollektion im 17. Jahrhundert zu einem seiner Prestigeobjekte. Die größte Expansion erfolgte während der französischen Revolution, als die Enteignung von adeligen und kirchlichen Besitztümern ihr enorme Büchermengen einbrachte, ebenso die Beutezüge der französischen Truppen in den besiegten europäischen Staaten. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war die Raumnot erheblich, und auch der prächtige, von Architekt Henri Labrouste entworfene Neubau konnte die stetig wachsende Büchermenge nur für einige Jahrzehnte aufnehmen. Man behalf sich zunächst mit mehreren Ausweichquartieren in Versailles, bis endlich 1996 der von Präsident François Mitterrand geförderte Neubau, der heute seinen Namen trägt, eingeweiht wurde, der mit vier mächtigen Türmen am Ufer der Seine auch das Stadtbild von Paris prägt. Die riesigen Magazinflächen der BNF galten damals als ausreichend, um einen Teil der umfangreichen Kollektion sowie die jährlichen Neuzugänge zu verwahren, aber die Flut an Büchern und Zeitschriften machte alle Kalkulationen schnell zu Makulatur. Daher sah sich die BNF-Direktion vor zwei Jahren veranlasst, erneut eine Verlagerung von Beständen ins Auge zu fassen: in eine dafür zu errichtende Zweigstelle für Periodika.
In den Magazinen der BNF lagert mit rund 300.000 Titeln eine der größten Pressekollektionen der Welt, entstanden im Verlauf einer fast vier Jahrhunderte währenden Sammeltätigkeit. Schon 1631 kam mit der Wochenzeitschrift »La Gazette«, herausgegeben von Théophraste Renaudot, das älteste Periodikum ins Haus. Im späten 18. Jahrhundert nahm die Zahl neuer Titel beträchtlich zu, und als dann die französische Revolution die Pressefreiheit proklamierte, setzte eine wahre Euphorie für das Publizieren neuer Zeitungen und Zeitschriften ein, was sich mit dem Aufkommen moderner Drucktechniken im späten 19. Jahrhundert noch einmal verstärkte. Heute entfallen etwa 35 Prozent der in der BNF gelagerten Periodika-Bestände auf die Jahre 1880 bis 1945 und rund 40 Prozent auf den Zeitraum 1945 bis 1990. Gesammelt wurden nicht nur die in Frankreich herausgebrachten Presseerzeugnisse, sondern auch Titel, die in den Kolonien und überseeischen Besitzungen erschienen. Der Gesamtbestand an Periodika ist inzwischen auf rund 45 Regalkilometer angewachsen.
Zeitungen und Publikumszeitschriften widmen sich ja vornehmlich der aktuellen Unterrichtung ihrer Leser, sind schnell konsumiert und daher meist nicht auf hochwertigem Papier gedruckt, was Bibliotheken, die solche Produkte auf Dauer verwahren wollen, vor erhebliche Probleme stellt. Schon nach wenigen Jahrzehnten gilt das Papier dieser Bestände als brüchig und deren Benutzung wird zunehmend als Risiko für ihre Erhaltung erachtet. Um die Kollektion langfristig zu sichern, hat die BNF bereits Ende der 1950er-Jahre mit der Mikroverfilmung der am meisten gefährdeten Bestände begonnen, etwa 5,5 Prozent der Sammlung wurde bislang erfasst. Seit 2005 wird auch eine Digitalisierung von Beständen vorgenommen, allerdings ist sie vornehmlich auf solche Titel beschränkt, die nicht mehr unter das Copyright fallen. Derzeit sind etwa 7.000 Titel digitalisiert, was kaum drei Prozent der Kollektion entspricht. Benutzern stehen die Texte über zwei Datenbanken zur Verfügung: »Gallica« und »RetroNews«.
Das Projekt Neues Pressezentrum
Im Rahmen der von Regierung und Parlament verfügten Dezentralisation staatlicher Dienststellen in die Provinz werden vermehrt Fördergelder in den ländlichen Raum geleitet und die Behörden aufgefordert, einige Abteilungen in die Regionen zu verlagern. Die BNF hatte bereits 1979 eine Restaurierungswerkstatt in der Gemeinde Sablé-sur-Sarthe installiert und zwei Jahrzehnte später auch in Bussy-Saint-Georges, wo auch das Digitalisierungsprogramm anlief. Doch beide ländlichen Ausweichquartiere waren räumlich beengt und zu abgelegen, und sie boten weder Erweiterungsmöglichkeiten noch Leseplätze für Benutzer. Daher fiel im Sommer 2020 die Entscheidung, für die Periodika-Kollektion der BNF ein neues Zentrum außerhalb der Seine-Metropole zu errichten. Der Neubau soll eine Nutzfläche von etwa 15.000 Quadratmetern umfassen, ein Restaurierungszentrum erhalten und angemessene Benutzungskapazitäten aufweisen. Im Magazinbereich wird der Zugriff auf die verwahrten Bestände weitgehend mit Lieferrobotern erfolgen.
Mit der im Juni 2020 publizierten Ausschreibung hatte das Kultusministerium die Städte und Gemeinden des Landes aufgefordert, Angebote für einen Bauplatz sowie eine finanzielle Beteiligung an den Baukosten (schätzungsweise 90 Millionen Euro) abzugeben. Das Interesse an diesem »Conservatoire National de la Presse« genannten Kulturprojekt war groß, insgesamt gingen 72 Bewerbungen ein, die vom Ministerium und der BNF eingehend geprüft wurden. Im November 2021 fiel dann die Entscheidung für die nordfranzösische Großstadt Amiens, gelegen etwa 120 Kilometer nördlich von Paris. Deren Stadtverwaltung bot nicht nur einen Bauplatz nahe dem Stadtzentrum an – das rund 6,3 Hektar große Gelände eines ehemaligen Krankenhauses –, sondern auch ein solides finanzielles Engagement sowie die planerische Unterstützung des Départements (Somme) und der Region (Hauts-de-France). Für das Pariser Projektteam war sicherlich mit ausschlaggebend, dass Amiens von Paris aus gut erreichbar ist, sowohl per Bahn (etwa eineinhalb Stunden) wie mit dem PKW (rund zwei Stunden).
Deutschen Lesern mag Amiens weniger bekannt sein, aber in Frankreich genießt die Stadt durchaus Renommee. Ihre Gründung geht schon auf keltische Zeit zurück, und während der Römerherrschaft entwickelte sie sich zu einer strategisch wichtigen Siedlung. Das Christentum fasste in Amiens bereits im 3. Jahrhundert Fuß, und im 5. Jahrhundert soll der Legende nach der Heilige Martin, dort als römischer Soldat der Reiterei stationiert, seinen Mantel mit einem Bettler geteilt haben. Während des Mittelalters blühten Tuchgewerbe und Handel, die Stadt galt als wohlhabend und konnte sich die größte gotische Kathedrale Frankreichs leisten – der 800. Jahrestag der Grundsteinlegung von Notre-Dame d'Amiens wurde kürzlich gefeiert; seit 1981 gehört sie zum UNESCO-Weltkulturerbe. Amiens ist bei Pilgern auf dem Jakobsweg beliebt als Raststätte, Touristen besuchen das Wohnhaus von Jules Verne und das Kunstmuseum – eines der ältesten außerhalb von Paris –, schlendern vorbei an Kunstgalerien und Antiquitätenläden, buchen eine Bootstour durch die sogenannten »schwimmenden Gärten«, das von Kanälen durchzogene jahrhundertealte Obst- und Gemüseanbaugebiet, und lassen den Tag ausklingen in Restaurants, Bars und Cafés des mittelalterlichen Viertels um die Kathedrale und am Ufer der Somme.
Ein weiterer für die Entscheidung gewichtiger Faktor ist die 1969 gegründete Université de Picardie mit ihren 30.000 Studierenden. Im Verbund mit der Stadtverwaltung wurde mit deren Humanwissenschaftlicher Fakultät ein Konzept für ein »Centre d'Interprétation de la Presse« entworfen, das unter Einbeziehung der örtlichen Bibliotheken ein umfangreiches Kultur- und Bildungsprogramm erarbeiten soll, um das Potential des neuen Periodika-Zentrums für Forschung und Lehre zu nutzen. Die Bauarbeiten für das »Conservatoire« werden 2024 beginnen, die Fertigstellung ist für 2028 vorgesehen. Die BNF kann dann endlich ihren Zeitungs- und Zeitschriftenbestand angemessen verwahren, restaurieren und präsentieren und damit der Forschung besser verfügbar machen, und die Stadt sich als national bedeutsamer Kulturstandort präsentieren, was die von Amiens geplante Bewerbung um den Titel einer »Europäischen Kulturhauptstadt« sicherlich aussichtsreicher machen dürfte.