Sanierung oder Upcycling statt Neubau?

Es muss nicht immer gleich ein Neubau sein: Ein Blick auf die Möglichkeitsräume in der baulichen Entwicklung von Bibliotheken.
Die bauliche Weiterentwicklung von Bibliotheken muss einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsstrategie folgen: das Dokk1 in Arhus. Foto: Olaf Eigenbrodt

 

In der Abwägung, ob für die bauliche Entwicklung von Bibliotheken Generalsanierungen, Neubauten oder die Weiternutzung von Bestandsgebäuden anderer Zweckbestimmung die individuell beste Option darstellen, spielen längst nicht mehr nur rein wirtschaftliche, städtebauliche und funktionale Überlegungen eine Rolle. In den vergangenen Jahren haben im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte und des Klimaschutzes die Themen »graue Energie« und Ressourcenverbrauch zunehmend an Bedeutung gewonnen. Was bedeutet dies für die aktuelle und zukünftige Beurteilung von Optionen und was sollte aus Sicht der nutzenden Bibliotheken in diese Überlegungen einfließen – sofern sie Einfluss auf den Prozess nehmen können?

Ob große Sanierungsprojekte wie in den Universitätsbibliotheken Konstanz und Bielefeld und der Staatsbibliothek zu Berlin oder kleinere Maßnahmen in Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken: Viele Häuser sind sanierungsbedürftig und müssen neuen Herausforderungen angepasst werden. In Hamburg, Utrecht und aktuell Düsseldorf (siehe dauzu den entsprechenden Beitrag in diesem Heft) sind es ehemalige Gebäude der Post, in zentraler Lage; in Chemnitz, Wildau, Winterthur und Tilburg sind es ehemalige Industriehallen, die in der Nachnutzung flexibel sind und ein besonderes Flair vermitteln, und an anderen Orten ehemalige Zehntscheunen, Kaufhäuser oder Bahnhofsgebäude: Auch die Nachnutzung vorhandener Bausubstanz für Bibliotheken ist kein neuer Trend im Sinne des Upcycling oder Reuse, sondern eine schon lange geübte Praxis im Bibliotheksbau.[i] Dennoch haben sich die Argumente für eine Generalsanierung oder die Nachnutzung eines Gebäudes aktuell in Richtung der ökologischen Nachhaltigkeit verschoben und dies nicht ohne Grund.

 


[i] Dazu aktuell: Petra Hauke et al.: New Libraries in Old Buildings: Creative Reuse. Berlin, Boston: De Gruyter 2021; siehe auch die Besprechung in dieer BuB-Ausgabe

Lösungsräume als Möglichkeitsräume

Nähert man sich der Frage nach der baulichen Entwicklung eines Gebäudes oder Komplexes an, so stehen zunächst die aktuellen Probleme beziehungsweise Herausforderungen und deren mögliche Lösungen im Vordergrund. Die Grundfrage lautet hierbei: Inwiefern sind Betrieb und Nutzung so weit eingeschränkt, dass eine umfassendere bauliche Maßnahme notwendig wird, und welche Lösungen kommen in Betracht? Historisch waren es meist Schäden an der Gebäudesubstanz und vor allem das Wachstum der Bestände, die hier ausschlaggebend waren, wobei Repräsentation und Städtebau für die bauliche Bibliotheksentwicklung nicht nur in historischer Betrachtung, sondern auch aktuell bedeutend sind. Insbesondere bei Gebäuden aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen inzwischen aber der Zustand der Bausubstanz und von technischen Anlagen, das Vorhandensein von Bauschadstoffen, generelle Probleme mit Klimatisierung und Beleuchtung (Luft und Licht) sowie – damit verbunden – auch der Energieverbrauch in der Beurteilung eine wesentliche Rolle. In der Regel finden sich einer, mehrere oder sämtliche der genannten Faktoren. Dabei haben Budgetkürzungen im Kultur- und Bildungsbereich die Situation durch mangelhafte Mittelausstattung im Bauunterhalt und daraus resultierenden Sanierungsstau oft verschlimmert.

Strategien wie zum Beispiel die als opportunistisch Veränderung bezeichnete Umsetzung von Einzelmaßnahmen im Rahmen eines Masterplans immer wenn Mittel verfügbar sind, können einen solchen Zustand stabilisieren oder sogar verbessern, aber in der Regel nicht grundlegend ändern.[ii] Die Erfahrungen an der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg zeigen, dass es zwar gelingen kann, durch Teilsanierungen und Modernisierungen Nutzungsbereiche und auch Büros auf einen aktuellen Erfordernissen gerecht werdenden Stand zu bringen, dass aber substanzielle Herausforderungen wie alternde Dachkonstruktionen, ungedämmte Fassaden oder insbesondere das Ende der Lebensdauer technischer Anlagen hierdurch nicht aufgefangen werden können, da sie viel weitergehende bauliche Maßnahmen erfordern.

Lange Zeit von Unterhaltsträgern und Planenden wenig beachtete Faktoren sind zudem die grundlegend neuen Anforderungen an die Nutzung von Bibliotheksräumen, die durch die digitale Transformation aber auch soziale und kulturelle Wandlungsprozesse ausgelöst werden. Eine weitgehend quantitative Betrachtung verbunden mit einer funktionalistischen Planungsauffassung haben dazu geführt, dass bis weit ins 21. Jahrhundert hinein in den Köpfen vieler Entscheidungsträger Bestandsgrößen und Arbeitsplatzzahlen eine größere Rolle gespielt haben als die Lern- und Arbeitskultur, die technische Infrastruktur oder der soziale Kontext. Im Zusammenhang mit erfolgreichen Marketingschlagworten wie dem »Dritten Ort« oder dem »Lernort« fand und findet hier jedoch ein positiver Wandel statt.

Ging man bei der Entscheidung für die geeignete Maßnahme bisher vor allem von einem Lösungsraum aus, so entsteht durch eine ganzheitliche Betrachtung von baulich-technischen, funktionalen, standortbezogenen und soziokulturellen Faktoren ein Möglichkeitsraum, der es erlaubt, ein vollständiges Bild der räumlichen Entwicklung einer Bibliothek zu entwerfen. Der Unterschied besteht darin, dass in einem Lösungsraum unterschiedliche harte Faktoren gewichtet werden und dadurch die Lösung identifiziert werden kann, die hin Hinblick darauf dem wirtschaftlichen und funktionalen Optimum am nächsten kommt. Der Möglichkeitsraum hingegen beschreibt Lösungen, die auf mehreren Wegen erreicht werden können, da sie sich nicht in harten Kennzahlen, sondern in Qualitäten ausdrücken lassen. Dies erlaubt dann auch eine iterative Herangehensweise an Konzeption und Planung und Beteiligung verschiedener Interessengruppen am Prozess.

Im Vordergrund kann in Hinblick auf die Ausgangssituation Neubau, Sanierung oder Umnutzung zunächst die Standortfrage stehen, etwa wenn die Bibliothek als Einrichtung und Gebäude Teil einer Stadt- oder Campusentwicklung werden soll und deshalb der Umzug in ein neues oder umzunutzendes Gebäude in Betracht gezogen wird oder wenn sich in einer Analyse herausstellt, dass der bisherige Standort aus demografischen oder soziokulturellen Überlegungen heraus nicht geeignet ist, die Ziele der Bibliothek zu erfüllen. Einen Sonderfall stellen hier Zentralisierungsprozesse insbesondere universitärer Bibliothekssysteme dar.

Sind es aus ökonomischer Sicht insbesondere die Kosten für eine Sanierung des Bestandes verbunden mit den Instandhaltungs- und Betriebskosten, die bei der Frage eine Rolle spielen, ob eine Generalsanierung oder ein Neubau die geeignete Lösung darstellen, kommen in der Betrachtung eines Möglichkeitsraums die eingangs beschriebene Transformation von Medien und Nutzung eng verbunden mit Fragen der Atmosphäre und Zugänglichkeit zum Zuge. Hier stellt sich die Frage, ob die vorhandene Substanz in einer Weise wandelbar ist, die zukünftig eine Nutzung entsprechend den definierten Bedürfnissen, die sich in bauliche Bedarfe übersetzen lassen, erlaubt. Hinzu kommen gegebenenfalls Fragen des Denkmal- und Ensembleschutzes. Im bis hier skizzierten Modell des Lösungs- wie auch des Möglichkeitsraums fehlen aber die eingangs genannten ökologischen Nachhaltigkeitsfaktoren.

 


[ii] Siehe dazu: Olaf Eigenbrodt: Grundsanierung in einem Zug oder flexibel fortschreitende Veränderung? Räumliche Weiterentwicklung von Bibliotheken in der Praxis.  In: BuB - Forum Bibliothek und Information 66/6 (2014), S. 270-276

Graue Energie und Sand als wertvolle Ressource

Wenn in Bezug auf den Baubereich von grauer Energie die Rede ist, wird dies oft verkürzt auf Beton als wichtigen Baustoff bezogen. Generell versteht man unter grauer Energie jedoch den gesamten Energiebedarf, der zur Errichtung eines Gebäudes notwendig ist. Folgerichtig verbrauchen auch Sanierungsmaßnahmen und die Umnutzung von Bestandsgebäuden graue Energie, die in eine Abwägung einbezogen werden muss. Sowohl die Weiternutzung der Substanz als auch das Recycling von Baustoffen leisten einen erheblichen Beitrag zur Energieeinsparung.

Da in der für die Zementherstellung benötigten Reaktion CO2 frei wird und gleichzeitig hohe Energiemengen erforderlich sind, die in der Regel konventionell erzeugt werden, rechnet man grob gesprochen mit einer Tonne CO2-Ausstoß für die Produktion von einer Tonne Beton. Je nach Quelle wird die Zementindustrie für vier bis acht Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich gemacht. Hinzu kommen dann noch energieintensive weitere Baustoffe wie Stahl und Glas. Der Einsatz erneuerbarer Energien und das Recycling sind in der Bauindustrie insgesamt bisher wenig verbreitet. Ein weiteres ökologisches Problem stellen die großen Mengen Sand dar, die für die Zementherstellung verwandt werden. Der verwendete Sand muss spezielle Eigenschaften besitzen und die natürlichen Ressourcen solcher Sande sind durch den weltweiten Bauboom belastet.

Dies alles spricht dafür, bei Baumaßnahmen möglichst viel der vorhandenen Substanz nachzunutzen. In Zeiten günstiger Baustoffpreise stellte eine solche Nachnutzung häufig nicht die wirtschaftlichste Lösung dar, insbesondere bei Projekten, die eine tiefgreifende baulich-technische Sanierung mit einer Änderung von Funktionen verbanden. Durch steigende Preise verschieben sich aber auch hier die Maßstäbe. Neubauten, insbesondere an neuen Standorten, haben aber auch direkte ökologische Auswirkungen auf ihre Umgebung. Zum einen ist dies die Flächenversieglung, die insbesondere in Städten aber auch im ländlichen Raum ein zunehmendes Problem darstellt. Verbunden ist dies mit Auswirkungen auf das Mikroklima. Die direkten Folgen des Klimawandels wie Hitzewellen und Starkregenereignisse können sich hierdurch verstärken. In einer solchen Betrachtung spricht also vieles dafür, die Weiter- oder Nachnutzung vorhandener Substanz einem Neubau vorzuziehen. Dabei ist es aber wichtig, immer die unterschiedlichen Dimensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs mit in Betracht zu ziehen.

Dimensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs

Unabhängig vom gewählten Nachhaltigkeitsansatz umfassen diese immer auch eine soziale und kulturelle Dimension. Das Zusammenspiel von ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren sollte demnach immer eine Rolle spielen, ohne dass jedoch die unterschiedlichen Dimensionen gegeneinander ausgespielt werden. Bibliotheken fällt es in der Regel leicht, ihre soziokulturellen und auch ökonomischen Beiträge zur Nachhaltigkeit zu konkretisieren und überzeugend darzustellen, einerseits als Einrichtungen der Begegnung, Interaktion und Bildung, die in die Gesellschaft hineinwirken und niedrigschwellige, nichtkommerzielle Angebote machen können, andererseits als Bewahrerinnen des kulturellen Erbes sowie Ort der gemeinsamen und gemeinschaftlichen Nutzung offen zugänglicher Informationsressourcen. Dies gilt es nicht nur aber auch im Bereich der baulichen Entwicklung mit ökologischen Überlegungen zu verbinden, wozu auf nationaler und internationaler Ebene auch schon unterschiedliche Ansätze vorhanden sind.[iii] Im Idealfall greifen innerhalb des beschriebenen Möglichkeitsraums ökologische und soziokulturelle Faktoren ineinander, sodass Nachhaltigkeit als ganzheitlich gedachtes Konzept und nicht als Buzzword Eingang in die weiteren Überlegungen findet.

 


[iii] Siehe zum Beispiel Petra Hauke et al. (Hrsg.): The Green Library: Die Grüne Bibliothek. Berlin, Boston: De Gruyter 2013

Fazit

Mit Blick auf die in der Regel nach wie vor zu geringen Einflussmöglichkeiten von Bibliotheken auf ihre eigene bauliche Entwicklung scheinen die hier angestellten Überlegungen eher theoretischer Natur zu sein. Auf der anderen Seite eröffnet aber die beschriebene Herangehensweise, den Lösungsraum für eine bauliche Weiterentwicklung immer auch als Möglichkeitsraum zu betrachten, neue Perspektiven sowohl auf den Prozess als auch auf die eigenen Einflussmöglichkeiten. Dabei geht es nicht darum, die Arbeit von Planenden zu ersetzen und eigenständig Betrachtungen zur Abwägung der genannten Faktoren anzustellen, sondern im Sinne eines »Was wäre wenn« die verschiedenen Optionen vor dem Hintergrund der mit einem Bauprojekt verbundenen Transformationsstrategien zu betrachten.

Dabei ist sowohl die Offene Soziale Innovation als Strategie der engen Einbindung von Nutzenden, Mitarbeitenden und Stakeholdern in den Konzeptions- und Planungsprozess relevant als auch das Prototyping, etwa wenn man die Gelegenheit hat – oder sie sich verschafft – gemeinsam mit Architekturstudierenden mögliche Szenarien durchzuspielen und zu diskutieren.[iv] Welchen Mehrwehrt hat die Nachnutzung des Bestandsgebäudes oder von Teilen desselben über die ökologischen und ökonomischen Faktoren hinaus? Welche Spielräume ergeben sich, wenn wir die räumliche Konstellation noch einmal neu denken können? An welchen Stellen stoßen wir an unsere Grenzen und müssen einen Mehrbedarf anmelden? Wie wichtig ist unser derzeitiger Standort für die Identifikation mit unserer Einrichtung, aber auch für unsere eigene Identität? Aber auch: Was kann und sollte unbedingt weg, da es Zugänge verbaut oder nicht nachhaltig zu betreiben ist?

Solche Überlegungen garantieren nicht, dass der definierte Möglichkeitsraum Teil des Lösungsraums für ein Projekt wird, sie dienen aber der eigenen Selbstvergewisserung und stärken damit das Selbstbewusstsein. Beruht dies noch auf einem engen Zusammenspiel mit der Community, verschafft man sich zudem eine solide Argumentationsbasis. Im Endeffekt geht es also nicht darum, die Alternativen Sanierung, Neubau oder Nachnutzung im Sinne eines Entweder-Oder eigenständig zu entscheiden, was auch gar nicht in der Macht der Bibliothek liegt, sondern im Sinne eines nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gestalteten Möglichkeitsraumes zu formulieren, innerhalb dessen konstruktiv mit den verschiedenen Optionen umgegangen werden kann. Vor dem Hintergrund der genannten Probleme von grauer Energie, Ressourcenverbrauch und (Mikro-)klima sollten ökologische Argumente auch für die Bibliothek selbst eine Rolle spielen, sofern sie sich im Rahmen der eigenen Werte als »Grüne Bibliothek« sieht.[v]

Olaf Eigenbrodt ist Zweiter Stellvertretender Direktor der Staats- und Universtitätsbibliothek Hamburg

 


[iv] Zur Offenen Sozialen Innovation siehe Olaf Eigenbrodt: Lernwelt Wissenschaftliche Bibliothek: Pädagogische und raumtheoretische Facetten, Berlin, Boston: De Gruyter, 2021, S.174-194

[v] Dies natürlich nicht parteipolitisch, sondern im Sinne des Netzwerks Grüne Bibliothek (netzwerk-gruene-bibliothek.de) oder des IFLA Green Library Award (https://2020.ifla.org/ifla-green-library-award-2020/).

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