Vorgestellt: Im Citizen Science Projekt »Gruß & Kuss« erforschen und digitalisieren Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit der Wissenschaft Liebesbriefe.
»Wie sprechen Menschen über Liebe und die damit verbundenen Gefühle? Wie beschreiben sie ihren Alltag, Glück, Intimität, aber auch Trennung, Krisen und Leid?« Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich das Citizen-Science-Projekt »Gruß & Kuss – Briefe digital. Bürger*innen erhalten Liebesbriefe«. Wissenschaftler/-innen erforschen und digitalisieren gemeinsam mit Bürger/-innen eine einzigartige und bislang unzugängliche Quelle unserer Alltagskultur: ein Archiv authentischer privater Liebesbriefe.
Projekt Gruß & Kuss
»Gruß & Kuss« wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung für drei Jahre gefördert.1 Im Rahmen des Projekts werden Liebesbriefe des Liebesbriefarchivs erforscht und digitalisiert, um die dauerhafte Bewahrung dieser Alltagsquelle zu gewährleisten und für Wissenschaft und Gesellschaft zugänglich zu machen.2 Der Liebesbrief als inhärent interdisziplinäre Quelle bietet die Möglichkeit, sich aus unterschiedlichen Disziplinen dem Gegenstand zu nähern und damit eine Vielfalt an Analyse- und Erschließungsverfahren anzuwenden, wobei das Projekt selbst primär ein kulturlinguistisches und soziologisches Forschungsinteresse verfolgt.3
Als Bürgerforschungsprojekt ist die »aktive Beteiligung von Personen an wissenschaftlichen Prozessen, die nicht in diesem Wissenschaftsbereich institutionell gebunden sind«4, maßgeblich. Dadurch soll die eigene Wissenschaftsmündigkeit sowie das Vertrauen in die Forschung gestärkt werden.5 Außerdem möchte das Projekt das Bewusstsein für die eigene Sprache als kulturschaffendes Werkzeug schärfen und Bürger/-innen in ihrer Selbstwahrnehmung als Kulturträger/-innen bestärken.
Die Datengrundlage des Projekts entstammt dem Liebesbriefarchiv. Dieses sammelt und archiviert als bisher einziges seiner Art private Liebesbriefe, die als Spenden aus der Bevölkerung eingehen. Der aktuelle Bestand verzeichnet Liebesbriefe von 1715 bis 2022: vom handschriftlichen Liebesbrief auf Papier, Billets-doux und Feldpost bis hin zu Postkarten, Telegrammen, Faxen, E-Mails sowie SMS und Messenger-Chats.
Im öffentlich einsehbaren Katalog finden sich Metadaten und Statistiken, wie die Gesamtanzahl der archivierten Liebesbriefe, Orte und Länder sowie die Geschlechter der Verfasser/-innen. Analog befindet sich das Archiv seit 2013 im Magazin der Universitätsbibliothek Koblenz. Seit 2015 unterstützt die TU Darmstadt als digitaler Standort dessen Digitalisierung und Institutionalisierung.6 Bis heute werden über 42.000 (12/2023) Liebesbriefe in 983 Konvoluten archiviert; ein in der Forschungslandschaft einzigartiger Bestand. Ein staatlicher Sammlungsauftrag für derartige Dokumente besteht nicht, was die Erschließung und Erforschung, insbesondere in Verbindung mit Bürger/-innen, zur Pionierarbeit macht.
Citizen Science: Bürger/-innenforschung und Projekterfahrung
Liebesbriefe sprechen eine heterogene Zielgruppe an, die vielfältige Perspektiven auf Liebe, Partnerschaft und Rollenerwartungen im Wandel der Zeit sowie auf Ausdruck von Emotionen zulässt.
Aktuell verzeichnet der »Gruß & Kuss«-Verteiler rund 180 Bürger/-innen zwischen 18 und 85 Jahren (über 70 Prozent weiblich), die sich für das Forschungsprojekt interessieren und sich teilweise auf vielfältige Art und Weise daran beteiligen. Der formale Bildungsgrad findet sich zwischen dem mittleren und oberen Bildungsbereich.
Die Einbindung in und die Beteiligung an Citizen-Science-Projekten kann – sei es über einen kurzen oder längeren Zeitraum – auf verschiedenen Ebenen erfolgen, die aufeinander aufbauen und auch parallel verlaufen können. Ein renommiertes und viel genutztes Partizipationsmodell hat Haklay entwickelt. Er unterscheidet dabei vier Partizipationsstufen, die von einer geringen, niedrigschwelligen Beteiligung (Crowdsourcing) bis zur Emanzipation der Citizen Scientists (Extreme Citizen Science) reichen.7 An diesem Modell orientiert sich auch »Gruß & Kuss« und versucht, alle Partizipationsstufen durch verschiedene Beteiligungsformate abzudecken. Dabei werden die Citizen Scientists in den Forschungsprozess eingebunden und methodisch von Wissenschaftler/-innen begleitet: Das reicht vom Lesen und Sortieren über das Transkribieren und Annotieren8, die gemeinsame Analyse und Interpretation der Liebesbriefe bis hin zur Formulierung und Beantwortung eigener Forschungsfragen.
In der Umsetzung dieser Beteiligungsformate sah sich »Gruß & Kuss« zu Beginn wegen der Corona-Pandemie vor Herausforderungen gestellt: Als Präsenzveranstaltungen geplante Workshops mussten vorerst in Außenräume oder ins Digitale verlagert werden. Einerseits konnten dadurch Citizen Scientists aus dem Ausland gewonnen werden, andererseits stellten die digitalen Formate ältere Bürger/-innen vor teils unüberwindbare technische Hürden, wie die Teilnahme an Zoom-Konferenzen oder das Transkribieren von Liebesbriefen mit »Transkribus lite«. Auch die Vernetzung und das »Community building« liefen zwischen den Citizen Scientists eher zögerlich.
Mit Rückkehr von Präsenzveranstaltungen konnten neben Informationsveranstaltungen und öffentlichen Lesungen sowohl eigene als auch kooperative Wissenschaftsevents durchgeführt werden. Dank eines großen »Stelldicheins« und der »Langen Nacht der Liebesbriefe« bildeten sich lokale Kerngruppen bürgerwissenschaftlichen Engagements. Dadurch entstand ein monatlicher Liebesbriefstammtisch, ein themenspezifischer Roundtable, der parallel in Darmstadt und Koblenz stattfindet: Ausgewählte Liebesbriefe werden unter bestimmten Aspekten besprochen und analysiert. Literatur zum Thema steht im Voraus zur Verfügung, um eine wissenschaftliche Diskussionsgrundlage zu schaffen.9 Die Wissenschaftler/-innen fungieren dabei hauptsächlich moderierend, sodass co-kreativ Wissen generiert werden kann. Die Dialogorientierung des Formats soll der unilateralen Vermittlung von Wissen im Bereich der Wissenschaftskommunikation entgegenwirken.10
Citizen Science und Geisteswissenschaften
Im Allgemeinen wird Citizen Science von politischer, wissenschaftlicher sowie gesellschaftlicher Seite begeistert aufgenommen und gefördert.11 Dabei sind vor allem Wissenschaftsevents, wie sie auch »Gruß & Kuss« als Teil der Citizen Science inhärenten Wissenschaftskommunikation nutzt,12 von besonderer Bedeutung, auch wenn diese in der Forschung häufig als »inhaltlich leer« kritisiert werden.13 Gerade im Bereich der Geisteswissenschaften etabliert sich die Forschung zur Wissenschaftskommunikation sowie zu bürgerlichen Vorhaben nur langsam; sozial- und geisteswissenschaftliche Projekte sind bisher unter anderem in der Förderung wenig vertreten.14 Dabei sind es besonders jene diskursfördernden Disziplinen, die auf gesellschaftliche Belange hinweisen, Probleme erkennen15 und dadurch im Besonderen zur Wissenschaftsmündigkeit als auch Demokratiefähigkeit der Gesellschaft beitragen.16
Dieser Missstand resultiert nicht nur aus der genannten Kritik, sondern auch aus dem oft fehlenden Verständnis für die Wissenschaftlichkeit sowie die (gesellschaftliche) Relevanz und Bedeutung dieser Disziplinen. Gerade in Bezug auf das Thema Liebesbriefe besteht die Herausforderung, die Wissenschaftlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Viele haben Liebesbriefe selbst schon verfasst oder erhalten. Die Gefahr, sie ausschließlich aus einer persönlichen und bewertenden Perspektive zu betrachten, ist groß. So ergeben sich besondere Herausforderungen für derartige Citizen-Science-Projekte: Nicht nur muss dieser defizitären Perspektive durch eine umfassende Aufklärung entgegengewirkt werden, sondern es ist auch gleichzeitig von enormer Bedeutung, das umfangreiche Kontextwissen für die Erforschung von alltagskulturellen Quellen grundlegend zu vermitteln.
Eigene Erwartungen und öffentliche Resonanz
»Gruß & Kuss« hat bisher alle Erwartungen erfüllt und sogar übertroffen. Eigene Projektziele konnten erreicht und auch eine überaus positive Resonanz bei Fachkolleg/-innen, den Citizen Scientists und der breiten Öffentlichkeit verzeichnet werden. Für letzteres ist das erhöhte Medieninteresse ein guter Indikator: Zeitschriften wie »Der Spiegel«, die Süddeutsche Zeitung und sogar die britische »The Times« berichteten über das Forschungsvorhaben, aber auch im Radio und Fernsehen wurde es mehrfach präsentiert. Auch haben sich aufgrund der hohen Nachfrage Beteiligungsmöglichkeiten eröffnet, die von den Bürger/-innen eigeninitiativ gestartet wurden. Dazu zählen zum Beispiel die Beteiligung bei verschiedenen Schritten des Archivierungsprozesses sowie das Einsprechen von Liebesbriefen.
Zudem verzeichnet das Liebesbriefarchiv seit Projektstart im Jahr 2021 einen enormen Anstieg an Spenden mit insgesamt 122 neuen Bestandsbildenden, was nicht zuletzt auf die große mediale Präsenz zurückgeht. Zum Vergleich: Von 1997 bis 2020 waren es 194 Bestandsbildende.
Mit Gruß & Kuss in die Zukunft
Das Projekt endet mit der offiziellen Laufzeit im März 2024. Zum Abschluss wird gemeinsam mit den beteiligten Bürger/-innen eine umfassende Evaluation durchgeführt. Die daraus hervorgehenden Ergebnisse werden beim Bundesministerium für Bildung und Forschung vorgestellt und bei der Abschlusstagung im März 2024 an der Universität Koblenz referiert.
Auch über die Projektzeit hinaus geht die Arbeit des Liebesbriefarchivs weiter; es können weiterhin Liebesbriefe zur Archivierung und Digitalisierung gespendet werden. Aufgrund der Beliebtheit des Liebesbriefstammtischs wird dieser nach aktuellem Stand an den Projektstandorten für ein halbes Jahr weitergeführt. Die Liebesbriefforschung wird weiterhin Teil der germanistischen und computerphilologischen Lehre an den dortigen Universitäten bleiben.
1 Gruß & Kuss (Förderkennzeichen 01BF2110A–C) ist ein Projekt der zweiten Förderrichtlinie Citizen Science (2021–2024). 2 Da es sich bei den Liebesbriefen um private Dokumente handelt, wird für jede Briefspende ein Vertrag zu den Nutzungsrechten geschlossen. Darüber hinaus gilt die gesetzliche DSGVO. Auch Bürger/-innen und Studierende, die mit Liebesbriefen arbeiten, müssen im Vorhinein einen Datenschutzvertrag ausfüllen. 3 Um einen Zugang zur inhaltlichen Erforschung der Liebesbriefe zu ermöglichen, wurden drei Themencluster definiert: (1) Liebe in Krisen und Konflikten, (2) Liebe auf Distanz und (3) Reiz der heimlichen Liebe. Ziel ist es, das Interesse der Bürger/-innen zu wecken und sie zu eigenen Forschungsfragen zu motivieren, vgl. Nadine Dietz, Lena Dunkelmann: Citizen Science – Das Gruß & Kuss-Projekt. In: Andrea Rapp et al. (Hrsg.): Let´s talk about Love! Das Liebesbriefarchiv in der forschungsnahen Lehre. Digital Philology. Working Papers in Digital Philology 03 (2023), Darmstadt: TUPrints, S. 4–10, hier: S. 6. 4 Weißbuch Citizen-Science-Strategie 2030 für Deutschland. Leipzig, Berlin, 2022, S. 11. 5 Vgl. Wissenschaftsrat: Wissenschaftskommunikation | Positionspapier, Kiel, 2021, S. 2. 6 Gegründet wurde das Archiv 1997 von Eva Lia Wyss: Sie stellte fest, dass es kein empirisches Material zu Liebesbriefen aus der Mitte der Gesellschaft gab und startete einen Aufruf zum Liebesbriefspenden: https://liebesbriefarchiv.de/liebesbriefarchiv/vorstellung-liebesbriefarchiv/. 7 Muki Haklay: Participatory Citizen Science. In: Muki Haklay et al. (Hrsg.): Citizen Science: Innovation in Open Science, Society and Policy, edited by Hak London: UCL Press, 2018. S. 52–62, hier: S. 54. 8 Bis heute (12/2023) haben allein die Citizen Scientists über 800 Liebesbriefe transkribiert. Zählt man die Transkriptionen aus der projektbezogenen Lehre mit, sind es bereits über 1000. 9 Die bürgerwissenschaftlichen Erkenntnisse werden im Liebesbriefarchiv-Blog publiziert. 10 Vgl. Wissenschaftsrat (Anm. 5) S. 10. 11 Vgl. Birte Fähnrich: Wissenschaftsevents zwischen Popularisierung, Engagement und Partizipation. In: Heinz Bonfadelli et al. (Hrsg.): Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Wiesbaden: Springer VS, 2017, S. 165–182, hier: S. 170. 12 Vgl. Wissenschaftsrat (Anm. 5) S. 10. 13 Vgl. Fähnrich (Anm. 11) S. 172. 14 Vgl. Weißbuch (Anm. 4) S. 12 und 20. 15 Vgl. Andreas M. Scheu, Anna-Maria Volpers: Sozial- und Geisteswissenschaften im öffentlichen Diskurs. In: Heinz Bonfadelli et al. (Hrsg.): Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Wiesbaden: Springer VS, 2017, S. 391–404, hier: S. 392. 16 Vgl. Fähnrich (Anm. 11) S. 170 und Wissenschaftsrat (Anm. 5) S. 2.
Nadine Dietz studierte Germanistik und Soziologie im Joint Bachelor of Arts an der TU Darmstadt und anschließend im Master of Arts Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der TU Darmstadt in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Citizen-Science-Projekt »Gruß & Kuss – Briefe digital. Bürger/-innen erhalten Liebesbriefe« und zuständig für die Projektkoordination und Kommunikation.
Lena Dunkelmann studierte Deutsch und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien an der TU Darmstadt. Seit 2021 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Koblenz in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Citizen-Science-Projekt »Gruß & Kuss – Briefe digital. Bürger/-innen erhalten Liebesbriefe« und zuständig für die Projektkoordination und Kommunikation.