Hinter den Regalen … der Muff von 100 Jahren

Bibliotheksexperte Meinhard Motzko beschäftigt sich im Kommentar – nicht nur – mit der Diskussion um die Umbenennung des Deutschen Bibliothekartags.
Über die Benennung des Deutschen Bibliothekartags wird derzeit intensiv diskutiert. Für Meinhard Motzko ist das Anlass, die gesamte Ausrichtung der bibliothekarischen Großveranstaltung einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Foto: Schleh

Klar, eine Namensänderung für Bibliothekstage und Kongresse ist überfällig und kaum einer versteht, warum das nicht längst passiert ist. Aber nützt das was? Ändert sich dadurch irgendwas?

Die Bibliothekskongresse und Tagungen sind ohne jede öffentliche Wirkung. Außer der kleinen Bibliotheks-Community interessiert das keinen. Woran liegt das?

Selbst noch so kleine andere exotische Berufsgruppen schaffen es regelmäßig in die bundesweite Presse und öffentliche Aufmerksamkeit:

  • Der deutsche Verkehrsgerichtstag (warum tagt der eigentlich immer in Goslar?) braucht nur eine neue Forderung für neue Verkehrsregelungen aufzustellen und schon berichtet die ganze Presse.

  • Der Historikertag bricht zur Not einen »Historikerstreit« vom Zaun und schon klappt das mit der Aufmerksamkeit.

  • Die Archivarinnen und Archivare finden immer mal was in irgendwelchen verstaubten Akten und kriegen das auch transportiert (obwohl das auch wirksamer ginge...).

  • In Talkshows, politischen Magazinen und meinungsbildenden Interviews werden selbsternannte Expertinnen und Experten aus Journalismus oder ein Sascha Lobo als Vertreter der »Digitalisierung« regelmäßig eingeladen. Bibliothekarinnen und Bibliothekare habe ich da noch nie gesehen.

  • Usw.

Noch nie waren Themen der Informationsgesellschaft  so im Fokus öffentlicher Debatten (und auch der aktuellen Koalitionsverhandlungen) wie zurzeit:

  • Immer mehr Menschen informieren sich mittels »sozialer« Netzwerke und Online-Plattformen ausschließlich in ihrer »Blase«.

  • Die zunehmende Fülle von Lügen, Fake-News und »alternativen Fakten« bedroht immer mehr die Basis demokratischer Ordnungen, zum Teil mit hochprofessioneller Nutzung von Milieudaten um einzelne »Blasen« zu infizieren und so für eine »Lügenpandemie« zu sorgen oder sogar politische Entscheidungen und Wahlentscheidungen zu beeinflussen.

  • Medien- und Recherchekompetenz beschränken sich auf die wenigen »Blasen-Kanäle«, Kompetenzen zur Bewertung von Informationen sind dünn gesät.

  • Die Lesekompetenz als Schlüsselqualifikation für Bildung hat wieder den Tiefstand der ersten PISA-Untersuchung erreicht und sinkt weiter.

  • Allgemeinbildung nimmt drastisch ab, immer mehr Schüler/-innen verlassen die Schulen ohne Abschluss.

  • Und dazu wird dann die »Digitalisierung« völlig unkritisch als Heilsbringer verkauft.

  • Usw. usw.

Das alles sind aber keine Themen auf Bibliothestagen oder -kongressen – schon gar nicht mit Forderungen in Richtung politischer Entscheidungsträger/-innen über zukünftige Rahmenbedingungen.

Bibliothekstage erfüllen vorrangig den Zweck einer großen persönlichen Wiedersehensparty in der jeweiligen »Spezialblase«. Netzwerken heißt das dann.

Und dazu gibt es auch eine Unzahl von Spezialverbänden, Arbeitsgemeinschaften, Kommissionen, Arbeitsgruppen und so weiter. Damit jede »Blase« ihren Muff von 100 Jahren in gewohnter Umgebung pflegen kann:

  • Die »wissenschaftliche Elite« in Abgrenzung zu den »Öffentlichen« – deshalb auch mit zwei eigenen Verbänden.

  • Institutionenverband (was macht der eigentlich?) und Personalverbände (allerdings ohne jede Anstrengung auf Tariffähigkeit).

  • Eine Unzahl von Spezialgemeinschaften (Kunst und Museen, Parlaments- und Behördenbibliotheken, Medizin, Verschlagworter/-innen und Systematiker/-innen, Lektoratskooperation, OPL´s, Forschungsbibliotheken usw. usw.)

  • Und als satirischer Höhepunkt: Ein »Bundesverband der Verbände«.

Obwohl jeder Verband und jede Kommission oder Arbeitsgruppe kaum noch Aktive zur Mitarbeit findet, kommt die Fusion der Verbände nicht vom Fleck. Es soll alles so »muggelig« bleiben wie in den letzten hundert Jahren. Man will unter sich bleiben – in der eigenen Blase.

Es gibt  in Deutschland ungefähr genau so viele Bibliothekarinnen und Bibliothekare (24 000) wie Lokführer/-innen (20.000). Aber hat man bei den Lokführerinnen und Lokführern schon von den Verbänden der Diesellokführer/-innen, der ICE-Führer/-innen, der Güterverkehrsmenschen, der Rangierfürstinnen und -fürsten, der Stellwerksverantwortlichen oder Ähnliches gehört?

How dare you, Bibliothekarinnen und Bibliothekare? Was bildet Ihr Euch ein?

Wenn nicht wenigstens die Fusion des Berufsverbands Information Bibliothek (BIB) und des Vereins Deutscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VDB) innerhalb der nächsten drei Jahre über die Bühne geht, verliert Ihr jede Glaubwürdigkeit!

Selbst die Schweizer/-innen (denen man ja nicht unbedingt Schnelligkeit nachsagt) haben das inzwischen wunderbar hingekriegt.

Das Programm jedes »Bibliothekstages« oder »Kongresses« strotzt nur so von Arbeitsgruppensitzungen, Gremienversammlungen, Kommissionssitzungen, Vorstands- und Mitgliederversammlungen usw. usw. Dazu wird das Ganze mit ein paar »Fortbildungsveranstaltungen« garniert, deren Qualität, Aktualität, Dialogfähigkeit und Problemlösungsorientierung immer mehr zu wünschen übrig lässt.

Und damit da nicht gestört wird, gibt es ein »Auftrittsverbot« für Externe. Noch gar nicht so lange. Ich selbst konnte noch vor Jahren viele Vorträge vorschlagen und auch halten. Das ist in aller Stille in den Hinterzimmern der Verbände abgeschafft worden. Wovor hat man da Angst?

Und im BIB gab es sogar Bestrebungen, »Externe« (wer das auch immer sei) nicht mehr als Mitglieder aufzunehmen. Das ist jetzt offenbar erledigt. Immerhin.

Und politische Forderungen? Sowas gibt es weder im Motto noch auf Eröffnungs- oder Schlussveranstaltungen. Da wird beim letzten »Bibliothekartag« in Bremen mangels eigener Ideen sogar das Motto der örtlichen Pfeffersäcke und Kaufleute abgeschrieben (»buten un binnen – wagen un winnen«). Und was haben die Bibliothekarinnen und Bibliothekare dann gewagt?

Was also muss zur Modernisierung der Jahresversammlungsstruktur passieren?

  • Die Formen der Veranstaltungen (vor allem für die Eröffnungsveranstaltung)   müssen deutlich modernisiert werden (weniger »Klassik« und »akademische Gediegenheit« – mehr Öffentlichkeitswirksamkeit und auch mal Frechheit).

  • Der »Kontakthof für Bibliothekarinnen und Bibliothekare« muss unbedingt erhalten bleiben. Viele kommen nur deswegen. Da sollte es deutlich mehr Gelegenheiten zum persönlichen Austausch geben (aber das können sich die Menschen wie bisher auch selbst organisieren, wenn alle zum gleichen Zeitpunkt in einer Stadt sind). Der »Festabend« muss bleiben (darf aber auch einen neuen Namen kriegen).

  • Jeder »Kongress« oder »Tag« sollte in seinem Motto mindestens eine griffige und öffentlichkeitswirksame Forderung enthalten, um die herum das Programm interdisziplinär, international und kontrovers gestaltet werden kann. Schluss mit dem »Leipziger Allerlei« der Themen und Schluss mit dem »closed shop« für Bibliothekarinnen und Bibliothekare. Im Übrigen lassen sich zentrale Themen und Forderungen immer aus komplexen und verschiedenen Winkeln betrachten und können deshalb auch mit Themenvielfalt präsentiert werden.

Für Leipzig 2022 habe ich da schon mal einen Vorschlag: »Sofortige Abschaffung aller Benutzungsgebühren in Bibliotheken«. Sie sind verfassungswidrig (Artikel 5 Grundgesetz garantiert den freien Zugang zu Informationen), sie widersprechen geltendem EU-Recht, nach dem jede öffentliche Gebühr eine Kalkulationsgrundlage haben muss und vor allem verschärfen sie den ungleichen Zugang zu Information, Bildung und Teilhabe.

Und es ist eine wunderbare Kernforderung, zu der man sich auch international austauschen kann.

Zur Not kann man auch schon mal ein paar Musterprozesse anstrengen (so bleibt man in dieser Frage jahrelang auf der Tagesordnung, weil es immer mal wieder ein Urteil in den verschiedenen Instanzen geben wird).

Um das alles mal in Ruhe zu diskutieren sollten die verantwortlichen Verbände eine (mindestens mitgliederöffentliche) Strategiediskussion zur Zukunft der Jahreskongresse starten und moderieren. BuB wäre mit den verschiedenen Plattformen dafür ein hervorragendes Medium. Und dann sollten die Verbände entscheiden. Auf ihren Mitgliederversammlungen – nicht in »Kommissions-Hinterzimmern«. Und wenn sich die Verbände (falls es dann immer noch einzelne Verbände gibt) über Struktur, Inhalte und Formen nicht einigen können, gibt es eben verschiedene Formate einzelner Verbände. Dann werden wir ja sehen, wer da eigentlich welche Mobilisierungskraft hat… Das wäre mal  »wagen un winnen«.

Aber ich fürchte: Ein böses Erwachen wird es nicht geben – der Schlaf ist zu tief.

 

 

 

Über den Autor:

Meinhard Motzko ist Diplom-Sozialwissenschaftler und seit mehr als 20 Jahren als Berater nicht nur im internationalen Bibliothekswesen unterwegs, er ist BIB-Mitglied seit 1999 und inzwischen im »Unruhestand«.

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