Citizen Science in der Bibliothek

Hinweise für die praktische Umsetzung von bürgerwissenschaftlichen Projekten anhand von drei konkreten Beispielen.
Die Bedeutung des strategischen Vorgehens bei der Vermarktung von Citizen-Science-Projekten an Wissenschaftlichen Bibliotheken wird in der Praxis häufig unterschätzt. Foto:T.L.Furrer – stock.adobe.com
Ein Argument für Citizen Science ist die erhöhte Sichtbarkeit der eigenen Bestände und Sammlungen durch deren aktive Nutzung im Projekt – doch es gibt noch viel mehr Pluspunkte. Foto: T.L. Furrer – stock.adobe.com

 

Citizen Science wirkt – in die Wissenschaft und in die (eigene) bibliothekarische Arbeit. Was funktioniert gut und welche Herausforderungen bestehen in der Arbeit mit Citizen Scientists? Welche Aufgaben haben Bibliotheken im Bereich Citizen Science?

Es gibt grundlegende Vorteile für Bibliotheken, wenn sie Citizen-Science-Projekte im eigenen Haus umsetzen. Im Grunde zeigen sich diese Vorteile auf drei Ebenen: in der Öffentlichkeit, in der Wissenschaftskommunikation und in der Zusammenarbeit mit regionalen Gemeinschaften.

Ein Argument für Citizen Science ist die erhöhte Sichtbarkeit der eigenen Bestände und Sammlungen durch deren aktive Nutzung im Projekt. Durch diese Nutzung erlangen die vorhandenen Quellen eine Öffentlichkeit, die sie möglicherweise »im Magazin« noch nicht hatten. Zusätzlich wird durch die Arbeit mit Communities Open Science direkt erfahrbar.

Auch Kooperationen mit regionalen Vereinen oder Institutionen werden durch Citizen Science gestärkt. Zusammenarbeit führt zum Erfahrungsaustausch aller Beteiligten: Nicht wir Bibliotheksmenschen zeigen wie Bürgerwissenschaft geht, sondern wir alle sind Lernende im Projekt und profitieren von unterschiedlichen Expertisen der Teilgebenden. Anhand von drei Projektbeispielen wird dies im Folgenden veranschaulicht.

Die Datenlaube

Die Datenlaube ist ein 2019 gegründetes Citizen-Science-Projekt für offene Kulturdaten. Projektinitiatoren sind Christian Erlinger (ZHB Luzern) und Jens Bemme (SLUB Dresden). Namens- und inhaltsgebend ist die erste auflagenstarke Illustrierte im Deutschen Reich im 19. Jahrhundert: »Die Gartenlaube«[1] aus Leipzig. Kern des Projektes ist die Erschließung der Texte und Illustrationen der Gartenlaube. Dabei werden die Scans und OCR-Volltexte[2] in Wikisource korrigiert und zugänglich gemacht, Illustrationen werden in Wikimedia-Commons als Dateien hochgeladen und Metadaten aller Artikel und Illustrationen in Wikidata gepflegt. Das digitale Projektteamtreffen findet immer dienstags statt, mit dem informellen Motto: Hackathon ist immer (dienstags)[3]. Inzwischen hat sich der DatenlaubeJam zu einem Ort des Austauschs zu offenen Kulturdaten weiterentwickelt. Oft ist die Gartenlaube noch Thema, aber es sind auch die Publikationen des Dresdner Geschichtsvereins, verschiedenste Regionalia und allerhand aktuelle Open GLAM-Veranstaltungen, die hier besprochen werden.



Der DatenlaubeJam hat sich zu einem bürgerwissenschaftlichen Open Space[4] im Kleinformat entwickelt. Es gibt keine feste Agenda, die Themen werden von den Beteiligten mit in das Treffen gebracht. Die Regelmäßigkeit schafft Verbindlichkeit und die Dokumentation erfolgt mit offener community-basierter Infrastruktur im Sinne von Open Citizen Science – in der Wikiversität[5]. Diese Freiheiten stiften Sinn – Sinnhaftigkeit, da die Teilnehmenden die gemeinsame Agenda nach ihren Interessen- und Forschungsschwerpunkten selbst setzen. Ergebnisse, Rückblicke[6] und Werkstattberichte[7] werden regelmäßig im Saxorum-Blog oder in der Wikiversity publiziert.

Digital Herrnhut

Das Projekt Digital Herrnhut ist ein bürgerwissenschaftliches Transkriptionsprojekt (Organisation: Juan Garcés) an der SLUB, welche im Moravian Knowledge Network[8] vernetzt ist. Im Projekt transkribieren Bürger die Gemein-Nachrichten der Herrnhuter Brüdergemeine, welche im Original handschriftlich in Kurrentschrift verfasst wurden und als digitale Scans[9] vorliegen. Ziel des Projektes ist es, genügend Handschriften zu transkribieren, um eine OCR-Software für die jeweils unterschiedlichen Handschriften zu trainieren. So könnte der handschriftliche Bestand nach Projektabschluss automatisiert durch OCR transkribiert werden und wäre zudem maschinenlesbar.

Dies wiederum ermöglicht im Forschungsfeld »Herrnhut« detaillierte sprachwissenschaftliche Analysen und Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Forschungsfragen. Die Expertenrolle für Kurrentschrift liegt hier klar bei den Citizen Scientists. Durch Juan Garcés (Theologe und Digital Humanist) können inhaltliche Zweifelsfälle in den regelmäßigen Treffen der Gruppe besprochen werden. Eine weitere Besonderheit ist, dass im Kontext des Moravian Knowledge Networks Professional Scientists und Citizen Scientists sich in gemeinsamen Workshops austauschen.[10] Auch der Podcast »Alte Schriften« zum Erlernen der Kurrentschrift ist in diesem Kontext entstanden.[11]



Wie im vorangegangenen Beispiel wird hier ebenso deutlich, der gemeinsame Austausch und die Regelmäßigkeit schaffen den Reiz, sich zu beteiligen. Auch wenn das Thema Herrnhut hier vorab gesetzt ist, so lässt die Auseinandersetzung mit diesem Kosmos viel Spielraum. Citizen Scientists können die Lebenswelt der Herrnhuter über die historischen Dokumente und Quellen erfahren.

Offenes Publizieren ist auch der Anspruch im Digital Herrnhut Projekt. Eine kreative Variante hierfür sind die 3D-Modelle Herrnhuter Gebäude, welche im Kontext viTUos entstanden sind. Die Modelle sind mit Infopunkten versehen, welche mit Textdateien, Audio- oder Videoquellen bestückt werden können. Der Besucher betritt ein virtuelles Museum.[12]

Colouring Dresden

Herzstück des Projektes ist eine digitale Plattform[13], in welcher Gebäudemerkmale der Stadt Dresden kartiert werden. Initiiert und koordiniert wurde das Projekt vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR).

Ziel des Projektes ist es, Gebäudewissen offen zu bündeln und dadurch eine Grundlage für klimagerechtes Bauen zu ermöglichen: »Colouring Dresden möchte eine offene und nachhaltige digitale Infrastruktur etablieren und Impulse für Open Citizen Science geben. Mit den gesammelten Daten kann wichtiges Systemwissen für die Planung und Forschung generiert werden, um die Transformation hin zu einer klimagerechten Architektur zu unterstützen.«[14]

Im Projekt wurden die einzelnen Meilensteine partizipativ erreicht und offen dokumentiert. Auch der Programmcode ist auf GitHub frei zugänglich. So wurden die einzelnen Gebäudemerkmale, welche erfasst werden sollen, nicht vom IÖR vorgegeben, sondern in Citizen-Science-Workshops diskutiert und verhandelt. Gebäudedaten wurden auf Spaziergängen auf der Plattform eingetragen. Im digitalen Raum wurde von der SLUB ein Indoor-Mapathon angeboten, indem anhand historischer Karten, historischer Adressbücher und der Deutschen Fotothek Zweifelsfälle geklärt werden konnten. Zudem gab es Formate, um Epochenmerkmale an Gebäuden sicher zu erkennen; offene Diskussionsformate wurden seitens des IÖR erprobt.



Diese drei Projekte zeigen vor allem: Es ist nicht in jedem Fall Aufgabe von Bibliotheken, Projekte im klassischen Verständnis von Projektmanagement zu initiieren und zu leiten. Hierin liegt zugleich eine Herausforderung: Wir neigen dazu, für eigene Ideen Bürgerinnen und Bürger zu suchen, die diese für uns umsetzten. Stattdessen lohnt es vielmehr, wenn Bibliotheken es sich zur Aufgabe machen, Citizen Scientist und ihren Ideen und Expertise Raum zu geben.

Was solchen Projekten Fahrwasser gibt, sind offene Infrastrukturen, ehrlich entgegengebrachtes Interesse, regelmäßiger Austausch und Gelegenheiten zur Begegnung – mit langem Atem und institutionellem Rückhalt. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, ist es wichtig als Mitarbeitende, die solche Projekte unterstützen, auch inhaltlich mitreden zu können. Dies gelingt besonders gut dann, wenn wir selbst zu Forschenden werden, um uns in Citizen-Science-Projekten, die wir begleiten, einbringen.

 


[1] Keil, Scherl (Hrsg.): Die Gartenlaube: illustriertes Familienblatt. Leipzig, Berlin, 1853-1937. Online unter: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gartenlaube

[2] OCR: Optical Character Recognition

[3] Bemme, Jens; Flade, Juliane; Förster, Caroline: »DatenlaubeJam« — Hackathon ist immer (dienstags). In: Gemeinschaften in Neuen Medien. Digitalität und Diversität. Mit digitaler Transformation Barrieren überwinden!?: 25. Workshop GeNeMe‘22 Gemeinschaften in Neuen Medien. Dresden: TUDPress, 2022. S. 164-169. Online unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-848672

[4] Zur Definition: https://de.wikipedia.org/wiki/Open_Space

[5] Bemme, Jens; Munke, Martin: Open Citizen Science: Leitbild für kuratorische Praktiken in Wissenschaftlichen Bibliotheken. In: Klaus Ulrich Werner (Hg.): Bibliotheken als Orte kuratorischer Praxis. Bibliotheks- und Informationspraxis (Band 67). Berlin, Boston: De Gruyter Saur 2021, Online unter: https://doi.org/10.1515/9783110673722-013

[6] Martin Munke: Wikisource, Saxonica und Saxorum – ein Rück- und Ausblick. In: Saxorum: Blog für interdisziplinäre Landeskunde in Sachsen. Online unter: https://saxorum.hypotheses.org/10153, publiziert 12.10.23, zuletzt abgerufen am 13.11.2023

[7]  Caroline Förster: Offene Kulturdaten als Vereinsprojekt – der Dresdner Geschichtsverein im Wikiversum. In: Saxorum: Blog für interdisziplinäre Landeskunde in Sachsen. Online unter: https://saxorum.hypotheses.org/10099, publiziert 27.10.23, zuletzt abgerufen am 13.11.2023

[8] Vgl.: Blog des Moravian Knowledge Networks: https://dhh.hypotheses.org/

[9] Vgl. Gemein-Nachrichten im Unitätsarchiv Herrnhut, sachsen.digital (Sammlungen), URL: https://sachsen.digital/sammlungen/gemein-nachrichten-im-unitaetsarchiv-herrnhut, zuletzt abgerufen am 13.11.23

[10] Vgl. Juliane Flade: Ein gemeinsamer Standard für Geckelemuckpeschünck: Ergebnisse des Workshops »Von der Handschrift zum maschinenlesbaren Text«. In: SLUBlog. Online unter: https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2022/08/12/ein-gemeinsamer-standard-fuer-geckelemuckpeschuenck-ergebnisse-des-workshops-von-der-handschrift-zum-maschinenlesbaren-text, publiziert am 12.08.2022, zuletzt aufgerufen am 13.11.23

[11] Vgl.: Moravian Knowledge Network (Hg.): Alter Schriften. Online unter: https://www.podcast.de/podcast/2316320/alte-schriften-ein-podcast-zum-erlernen-der-deutschen-kurrent, zuletzt aufgerufen am 13.11.23

[12] Vgl. Whitefield House Nazareth: https://my.matterport.com/show/?m=JnZx33CXEwM, zuletzt abgerufen am 13.11.23

[13] Vgl.: https://colouring.dresden.ioer.de/, zuletzt aufgerufen am 13.11.23

[14] Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung: Projektwebseite Colouring Dresden, online: https://colouring.dresden.ioer.info/projekt, zuletzt aufgerufen am 16.11.23

Juliane Flade studierte Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften an der TU Dresden und schloss dieses Studium 2021 mit dem Master of Arts ab. Nach ihrem Studium arbeitete Sie an der Professur für Deutsch als Fremdsprache an der TU Dresden. Berufsbegleitend zertifizierte Sie sich im Bereich Projektmanagement (GPM-Level D). Seit Januar 2022 arbeitet Flade an der SLUB Dresden als Projektmanagerin für Inklusion und Bürgerwissenschaften.

Weitere Informationen zu Citizen Science in Bibliotheken bietet der Themenschwerpunkt der aktuellen BuB-Januarausgabe: Dort wird ausführlich die Entstehung und Funktionsweise der Bürgerwissenschaften vorgestellt. Unterschiedliche Autorinnen erklären, wie sich Bibliotheken einbringen können – und warum sie das unbedingt tun sollten. Ein Argument für Citizen Science ist die erhöhte Sichtbarkeit der eigenen Bestände und Sammlungen durch deren aktive Nutzung im Projekt, doch es gibt noch viel mehr Pluspunkte.

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