»Wir wollten die Geschichte von Anfang an erzählen«

Biblioteksbladet-Chefredakteur Thord Eriksson im BuB-Interview über die kritische IFLA-Berichterstattung des schwedischen Bibliotheksmagazins.
Das Foto zeigt Thord Eriksson, den Chefredakteur des schwedischen Bibliotheksmagazins »Biblioteksbladet«.
Thord Eriksson, Chefredakteur des Biblioteksbladet. Foto: Sandra Johnson

 

Die im November 2022 erschienene Sonderausgabe des schwedischen Bibliotheksmagazins Biblioteksbladet hat in der bibliothekarischen Fachwelt für Wirbel gesorgt – und das nicht nur in Schweden. Auf 50 Seiten berichtet das Magazin in englischer Sprache über eine toxische Arbeitsatmosphäre im IFLA-Hauptquartier in Den Haag. Wie das Biblioteksbladet das Thema recherchiert hat und welche Rückmeldungen das Blatt nach Veröffentlichung erhalten hat, erzählt Chefredakteur Thord Eriksson im Interview mit BuB-Redakteur Steffen Heizereder. (Das Gespräch wurde am 9. Dezember 2022 per Videokonferenz geführt.)

 

BuB: Die jüngste Ausgabe des Biblioteksbladet hat für eine Menge Aufsehen gesorgt, auch hier in Deutschland und anderen Ländern weltweit. 50 Seiten, auf denen Ihre Zeitschrift über die IFLA und gravierende Probleme im IFLA-Hauptquartier berichtet. Wie erging es Ihnen, seit die Ausgabe erschienen ist? Welche Reaktionen haben Sie erhalten?

Thord Eriksson: Uns geht es gut. Wir haben auf unserer Webseite schon länger ein Analysetool integriert, mit dem wir das Benutzeraufkommen auf der Seite beobachten können. Natürlich haben wir viele schwedische Leserinnen und Leser, aber wir freuen uns immer, wenn wir sehen, dass Menschen auf der ganzen Welt unsere Seite besuchen. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, waren dort Besucherinnen und Besucher aus Ghana, dem Senegal, China, Russland und natürlich viele aus den USA, Frankreich, Deutschland und den anderen skandinavischen Ländern. Das zeigt deutlich, dass das aktuelle Thema Menschen aus der Bibliotheksbranche in allen Teilen der Welt interessiert. Als wir erkannt haben, dass Interesse da war, entstand der Gedanke, eine englischsprachige Ausgabe herauszubringen. Natürlich habe ich auch viele E-Mails erhalten, Kommentare in den sozialen Medien gelesen usw. Da gab es ganz klar eine Reaktion.

 
»Die Story springt einem ja förmlich ins Auge – das weckt doch journalistische Instinkte.«

 

Waren Sie überrascht von dem regen Feedback?

Nein, gar nicht. Biblioteksbladet erscheint viermal im Jahr. Darüber hinaus haben wir eine Webseite mit tagesaktuellen Neuigkeiten und Diskussionen. Wir haben seit April fast zehn Artikel zur IFLA veröffentlicht und festgestellt, dass diese ebenfalls weltweit gelesen wurden. Für uns war also klar, dass Interesse besteht. Eine Sache hat mich trotzdem verwundert: Unser Magazin wird von der Swedish Library Association herausgegeben. Ihre Zeitschrift ist die deutsche Schwesterpublikation, und wir haben weltweit weitere Schwesterpublikationen. Ich kann nicht recht verstehen, warum andere Journalisten, die zu Bibliotheksthemen recherchieren, kein wirkliches Interesse an diesem Thema gezeigt haben. Die Story springt einem ja förmlich ins Auge – das weckt doch journalistische Instinkte.

 
»Nach all den Einzelbeiträgen, die wir bereits veröffentlicht hatten, wollten wir nun die Geschichte von Anfang an erzählen.«

 

Wann haben Sie erkannt, dass da etwas bei der IFLA nicht stimmt?

Eigentlich schon im April, als die IFLA-Zentrale in einer Pressemeldung bekannt gab, dass der Generalsekretär, Gerald Leitner, von seinen Verpflichtungen entbunden worden war. Schon allein diese Nachricht wirft ja Fragen auf. Zur selben Zeit haben uns Personen kontaktiert, die uns über die Situation im IFLA-Hauptquartier berichteten. Und dann war da noch der Fall der ehemaligen Vorsitzenden des sogenannten Professional Council der IFLA, Adjoa Boateng. Sie schrieb einen mehr oder weniger offenen Brief, der weit verbreitet wurde und den auch wir über andere Quellen erhielten. Die Interna, in die sie Einblick gewährte, haben ebenfalls dazu geführt, dass Fragen aufkamen. Es war klar, dass wir an dem Thema dranbleiben mussten. Nach all den Einzelbeiträgen, die wir bereits veröffentlicht hatten, wollten wir nun die Geschichte von Anfang an erzählen. Wir hatten viele Informationsquellen. In der aktuellen Ausgabe gibt es unter anderem ein Interview mit Suzanne Reid, eine ehemalige Arbeitnehmervertreterin in der IFLA-Zentrale. Ich hatte sie bereits einmal im Mai interviewt. Damals hatte sie im Grunde bereits dieselben Dinge berichtet. Auch die weit verbreitete E-Mail von Adjoa Boateng von April spielte von Anfang an eine Rolle. Es war also von Beginn an ziemlich offensichtlich, dass wirklich etwas nicht stimmte.
Es gab auch viele Dinge, die einfach sehr schwer zu verstehen waren und die wir auch heute noch nicht ganz verstehen, beispielsweise die Tatsache, dass Gerald Leitner noch immer Generalsekretär der  Stiftung »Stichting IFLA Global Libraries« (SIGL) ist. Vielleicht gibt es Erklärungen hierfür, vielleicht irgendetwas, das nicht enthüllt werden sollte und das in dieser Frage Klarheit schaffen könnte. Wir müssen weiter recherchieren, denn das Management, die Vorstandsmitglieder der IFLA und die der SIGL schweigen beharrlich. Wenn sie überhaupt etwas sagen, dann »Kein Kommentar«. Das macht uns Journalisten natürlich neugierig.

 
»Suzanne Reid war von Anfang an sehr aufgeschlossen und mutig. Das rechne ich ihr hoch an.«

 

Sehen Sie die IFLA auf dem richtigen Weg in Richtung Transparenz?

Das kann ich nicht sagen. Der Vorstand der IFLA hat sich Anfang Dezember zu einer Sitzung getroffen. Aber ich weiß nicht, ob dabei irgendetwas herausgekommen ist. Aber es muss doch etwas geschehen. Alles andere wäre sehr eigenartig.

Suzanne Reid hatte den Mut, aus dem Inneren der IFLA zu berichten. Wie haben Sie ihr Vertrauen gewonnen?

In einer sehr frühen Phase der Geschichte hatten wir Kontakt mit einigen Informantinnen und Informanten. Das ist bereits ein Hinweis darauf, dass an dem Thema etwas dran ist. Es gibt viele, die etwas zu erzählen haben, die über Dokumente verfügen, die sie zugänglich machen möchten, aber Suzanne Reid ist eine der wenigen offenen Quellen. Auch die Kultur der Angst und die Kultur des Schweigens sagen etwas über die gestörten Verhältnisse in dieser Organisation aus. Wenn Sie als Journalist in solchen Dingen investigativ recherchieren, dann erkennen Sie, dass die Menschen entweder ganz offen sind oder dass sie gar nichts sagen wollen. In den meisten Fällen gelingt es nicht, sie zu einer Aussage zu bewegen. Wenn sie beschlossen haben zu schweigen, dann schweigen sie. Suzanne Reid hingegen war von Anfang an sehr aufgeschlossen und mutig. Das rechne ich ihr hoch an.

Sie sagten, Sie hatten mehrere Informationsquellen. Wie konnten Sie die Informationen verifizieren? Ehemalige Angestellte stehen mit ihren alten Arbeitgebern selten auf gutem Fuß.

Das ist immer die Herausforderung. Hätten wir nur wenige Informanten gehabt, dann wäre ich vielleicht skeptischer gewesen. Aber es gab viele Quellen, die ihre Aussagen gegenseitig bestätigt haben. Wir hatten auch Einsicht in diverse Dokumente. Da ist zum Beispiel die durchgesickerte E-Mail von drei Vorstandsmitgliedern, die in Lisa Bjurwalds Artikel erwähnt wird und in der diese Personen auf die internen Untersuchungen der IFLA eingehen, die eingeleitet wurden. Das ist meiner Ansicht nach eine Schlüsselpassage in dem Artikel, denn diese Informationen sind unabhängig von denen der Informationsquellen, die angeben, sie seien von der IFLA-Führung schlecht behandelt worden. Nach meiner Einschätzung ist dies die Bestätigung für alles andere.

Lisa Bjurwald ist eine bekannte schwedische Investigativ-Journalistin. Wie ist der Kontakt zu ihr entstanden? War sie sofort überzeugt von der Story?

Ich habe mich einfach mit ihr in Verbindung gesetzt. Ich weiß, dass sie eine integere Person ist und dass sie bei allem, was sie tut, eine ungeheure Tatkraft besitzt. Sie war sofort bereit zur Zusammenarbeit. Wir haben uns Mitte September kurz auf der Buchmesse in Göteborg getroffen und dann begann sie mit der Recherche, die sich über zwei Monate erstreckte.

 
»Von Seiten der IFLA war es sehr ruhig. Ich hatte mit irgendeiner Form von Reaktion gerechnet.«

 

Sie hat auch direkt von Den Haag aus gearbeitet. Wie ist sie dort an Informationen gelangt?

Der Hauptgrund für die Reise nach Den Haag bestand in erster Linie darin, Detailinformationen zu erhalten, um damit eine Atmosphäre für die Story zu erschaffen. Ich bin aber sicher, dass Lisa Bjurwald
95 Prozent ihrer Arbeit von ihrem Büro in Stockholm aus per E-Mail und Telefon erledigt hat.

Solide journalistische Arbeit.

Ja, darum geht es. Erst nach vielen Telefonaten und E-Mails wird das Bild einer Story komplett.

Wie hat die IFLA auf Ihre Anfragen reagiert, als sie realisiert hat, dass da eine echte Recherche im Gange ist?

Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Die Generalsekretärin der Swedish Library Association, Karin Linder, von der in unserer Ausgabe auch ein kurzer Artikel veröffentlicht wurde, berichtet von Nachrichten, die sie im Frühjahr 2022 erhalten hat. Die hatten gar nichts mit dem aktuellen Thema zu tun; sie drehten sich um unsere Berichterstattung über die IFLA im Allgemeinen. Darin wurde sie beinahe bedroht, so würde ich es einmal ausdrücken, dass sie eine ernsthafte Diskussion  mit darüber führen solle, mit ihr darüber, ob es gut sei, dass wir diese Sache so engagiert verfolgen. Falls nicht würden rechtliche Schritte gegen uns eingleitet werden. Ich persönlich bin jedoch nicht kontaktiert worden. Weder wurde uns vorgeworfen, dass wir überhaupt berichten, noch dass wir etwas Falsches schreiben. Von Seiten der IFLA war es sehr ruhig, eigentlich ruhiger als ich erwartet hatte. Ich hatte mit irgendeiner Form von Reaktion gerechnet.

 
»Die einzige Antwort, die ich erhielt, war: ›Kein Kommentar‹.«

 

Haben Sie die IFLA mit den Vorwürfen konfrontiert?

Mehrfach.

Und?

Es kam nie eine Antwort.

Keine Antwort? Kein Kommentar?

Nein. Sowohl Gerald Leitner als auch Barbara Lison, die Präsidentin der IFLA, als auch Glòria Pérez-Salmerón, die Vorsitzende der SIGL, hatten mehrfach Gelegenheit erhalten, Stellung zu nehmen und ihre Sicht der Dinge darzulegen. Die einzige Antwort, die ich erhielt, war »Kein Kommentar« von Barbara Lison. Während meiner Recherchen hatte ich E-Mail-Kontakt mit Gerald Leitner. Ich hatte die Absicht, ein langes Interview mit ihm zu führen. Hätte er zugestimmt, wäre ich nach Wien gefahren, aber dann sagte er: »Wenn diese Gerichtsanhörung vorbei ist, setze ich mich wieder mit Ihnen in Verbindung.« Das ist jedoch niemals geschehen. Es gab nur eine Pressemeldung, in der die IFLA die Übereinkunft mit Gerald Leitner bekannt gab.

Haben Sie jemals erwogen, Ihre Recherchen aufgrund Drucks von außen einzustellen?

Nein.

Werden Sie Ihre Berichterstattungen fortsetzen?

Die Geschichte endet hier nicht. Wir werden sehen. Unser Magazin, Biblioteksbladet, ist eine sehr kleine Zeitschrift mit drei Teilzeitangestellten und einigen freien Mitarbeitern. Ich denke, wir müssen uns auch auf ein paar andere Themen konzentrieren. Aber ich werde auf jeden Fall weiterverfolgen, was in Den Haag passiert und ich hoffe auch, dass andere Bibliothekszeitschriften ihre eigenen Quellen haben und ihre eigenen Geschichten über die IFLA veröffentlichen. Bei der IFLA muss sich etwas ändern. Sie ist ein Mitgliedsverband, und es sind die Mitglieder der IFLA, die tatsächlich einen Wandel bewirken können. Es ist in ihrem Interesse, dass die IFLA als Organisation zu 100 Prozent funktioniert. Aber bei dieser globalen Organisation, die so bedeutsam und wesentlich für die Branche ist, liegt einiges im Argen. Das ist ein Problem.

Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Gagneur

 

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