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Die Neuerfindung eines alten Mediums – Das Buch als ein Ort der Begegnung

Mann liest ein E-Book in der Hängematte
Lesen als Event und Gemeinschaftserlebnis: Autor Dirk von Gehlen sieht Bücher als einen »Ort der Begegnung und des Austauschs«. Sind die Zeiten eines ruhigen Lesenachmittags im Garten damit vorbei? Foto: Monkey Business - Fotolia.com

Paywall, Crowdfunding, Selfpublishing, Social Reading – die großen Trends der Medienbranche bringen innovative Angebote und neue Dienstleister ins Spiel. Die sind oft experimentierfreudiger als viele Verlage – und machen Lesen zum Event.

Ein Schreckgespenst hat Deutschland erreicht. Es hört auf den Namen »Huffington Post«, kurz: »HuffPo«. Tomorrow Focus, eine Tochter des Burda-Verlags, wird vermutlich ab Herbst eine deutschsprachige Version des erfolgreichen amerikanischen Nachrichten- und Bloggerportals herausgeben. Die anderen deutschen Verlage sind nicht begeistert. Die »HuffPo« lässt Prominente und Experten unbezahlt bloggen und verlinkt massiv auf andere Nachrichtenseiten. Für eigene journalistische Beiträge allerdings erhielt die »Huffington Post« 2012 als erste kommerzielle Onlinezeitung einen Pulitzerpreis. Sie gilt inzwischen als einflussreichstes Alternativmedium der USA und ist für Millionen von Amerikanern die Hauptinformationsquelle. Sie finanziert sich ausschließlich über Werbung.

Der Wandel in der Medienbranche ist in vollem Gange. Viele Verlage experimentieren, doch die meisten leben nach wie vor von ihren traditionellen Printprodukten. In der digitalen Welt ist schwer Geld zu verdienen. Ob die »Huffington Post« in Deutschland Erfolg haben wird, ist nicht abzusehen – doch sie würde einem Trend entgegenlaufen, der in die genau entgegengesetzte Richtung geht: Die »Bild-Zeitung« hat ihren Online-Auftritt in einen kostenfreien Bereich und einen Premium-Dienst »BILDPlus« für mindestens 4,99 Euro im Monat aufgeteilt.

Zuvor hatten einige Regionalzeitungen sowie die »Welt« einen Teil ihrer Artikel für kostenpflichtig erklärt. Auch aus dem Spiegel-Verlag hört man immer wieder die Idee, man wolle einen Bezahlbereich einzuführen. Vorreiter sind US-Zeitschriften wie das »Wall Street Journal« und die »New York Times«, die mit der sogenannten Paywall – einer Bezahlschranke – einiges an Geld verdienen. Die Leser können eine bestimmte Zahl an Artikeln im Monat gratis lesen, wollen sie mehr, müssen sie zahlen. Doch selbst die global bekannte »New York Times« musste die Preise wieder senken, weil die Zahl der Abonnenten stagnierte.

Fest steht: Die Reichweite der kostenlosen »HuffPo« ist in den USA doppelt so groß wie die der »New York Times«. In Deutschland kommt hinzu, dass die Angebote der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD und ZDF indirekt über die Rundfunkbeiträge finanziert werden – und somit scheinbar kostenlos sind. Auch unzählige Blogs im Internet über Spezialthemen informieren kostenfrei. Die Paywall wird angesichts der Gratis-Konkurrenz vermutlich nicht die Lösung der Probleme sein – und auch Apps für Smartphones und Tablet-PCs bringen wenig Geld. Die »Frankfurter Rundschau« hatte eine innovative iPad-Ausgabe entwickelt, doch die kurzzeitige Insolvenz konnte sie nicht abwenden. Die amerikanische »Financial Times« versucht sich derzeit mit einer Web-App – einer App, die man in mobilen Browsern gegen Gebühr abrufen kann. Dadurch muss die App nicht über den iTunes-Store gekauft werden, wofür Apple 30 Prozent der Einnahmen kassieren würde. Die Abrechnung erfolgt direkt über die Zeitung.

Das kleine Buch für zwischendurch

Zunächst scheint diese Diskussion ein Thema der Nachrichtenmedien zu sein – doch sie greifen längst auch auf die klassischen Buchverlage über. Jüngere Leser und Autoren bevorzugen auch bei Romanen und Sachbüchern Aktualität oder Schnelligkeit. Die Verlage können oder wollen mit diesem Tempo nicht mithalten. Erste Experimente für »realtime publishing« gibt es jedoch schon. Gemeint ist damit eine Mischform aus E-Book und Artikel. Auf der Internet-Konferenz »re:publica« gab es einen »re:publica-Reader«, der in Zusammenarbeit mit dem Books-on-Demand-Verlag epubli aus der Holtzbrinck-Gruppe und der deutschen Journalistenschule entwickelt wurde. Die Studierenden schrieben zu Konferenzveranstaltungen ausführliche Beiträge. Sie wurden im Laufe des Tages von einer Redaktion redigiert und erschienen einen Tag später in den E-Book-Shops von Amazon, Apple oder Kobo. epubli will mit diesem Prinzip neue Autoren anlocken, die schnell und unkompliziert kleinere E-Books publizieren möchten – und dafür höhere Gewinn-Margen erhalten als bei klassischen Verlagen. Deren System wäre viel zu langsam für solche Ideen.

»Verlage sind es gewohnt, in langen Zyklen zu planen, in manchen Buchverlagen teilweise mit Fünfjahresplänen«, sagt Ehrhardt Heinold von dem Verlagsberatungsunternehmen Heinold, Spiller & Partner in Hamburg. »Doch die Planungszeiten werden sich weiter verkürzen. Trendthemen mit immer kürzeren Laufzeiten bestimmen immer stärker den Medienmarkt, die Zeitfenster werden kleiner. Auch Technologietrends kommen und gehen in engen Zyklen.« Heinold spricht sich deshalb für eine Ausprobierkultur aus. »Verlage sollten Formate entwickeln, mit denen sie ohne großen Aufwand Innovationen testen können – mit schneller Lernkurve und möglichst niedrigen Investitionen.«

Ein solches Konzept wäre etwa »Booksprint«, entwickelt von Tomas Krag und Adam Hyde. Dabei setzen sich fünf bis zehn Experten in einem Raum zusammen. Es gibt nur eine Idee für das Thema, ansonsten aber wenig Vorgaben. Ein Moderator unterstützt die Teilnehmer dabei, gemeinsam innerhalb von höchsten fünf Tagen ein Buch zu erarbeiten – teils auf dem Treffen, teils über eine Online-Plattform. Die Bücher erscheinen sowohl Print-on-Demand als auch in verschiedenen E-Book-Formaten. Die Haupteinnahmen kommen nicht aus dem Verkauf des Buches, sondern sollen bereits vor dem Projekt akquiriert werden, beispielsweise über Crowdfunding-Plattformen, Sponsoren oder Spenden.

Amazon hat mit seinen »Kindle Singles« diesen Trend zur Schnelligkeit schon Anfang 2011 aufgenommen. »Singles« sind nicht tagesaktuell, setzen aber auf Häppchen: Kurzgeschichten und Reportagen. Im Gegensatz zum klassischen Selfpublishing, bei dem Autoren beliebige Bücher direkt verkaufen können, publiziert Amazon Singles nur von ausgewählten, meist erfahrenen Autoren. Die Texte werden von einer Redaktion bearbeitet – angeführt wird sie in den USA von David Blum, einst Chefredakteur der »Village Voice«. Zu den Autoren gehört zum Beispiel Douglas Preston, dessen Bericht »Trial by Fury« über den Kriminalfall um Amanda Knox zu den Bestsellern gehört. Die Autoren von erfolgreichen Singles sagen, dass sie damit mehrere 10 000 Dollar verdienen. Derzeit bereitet Amazon den Deutschland-Start vor.

»Read Petite« ist ein ähnliches Geschäftsmodell inspiriert von dem Musikanbieter Spotify, bei dem man für ein Monats-Abo nach Belieben Musik hören kann. Die Kunden besitzen diese Musik nicht, sie hören sie über das Internet und sobald ihr Abo beendet ist, verlieren sie alle Rechte an der Weiternutzung. Bei Read Petite, das bald in Großbritannien an den Start geht, können Kunden für fünf bis zwölf Pfund monatlich Artikel und Geschichten über das Internet lesen. Die Texte sind nicht länger als 9 000 Wörter. Neben Kurzgeschichten und längeren journalistischen Artikeln will das Unternehmen den Serienroman, der in Tageszeitungen selten geworden ist, wiederbeleben. Auch der Verlag GES in Berlin lebt gut von der Kürze: Er veröffentlicht vorwiegend erotische Kurzgeschichten, die man in 10 bis 25 Minuten gelesen hat und die nur 99 Cent kosten.

Lesen als Gemeinschaftserlebnis

Das Gegenextrem zur Schnelligkeit ist die Inszenierung des Buches als Event – ein Trend, der auf die Medienkonvergenz zurückzuführen ist. Diese Verschmelzung verschiedener Medien macht derzeit vor allem Fernsehsendern zu schaffen. Die jüngeren Zuschauer nutzen neben dem Fernseher heutzutage meist parallel ein Zweitgerät, den sogenannten Second Screen. Sie surfen im Internet oder chatten, während das Programm läuft. Die Sender verfolgen verschiedene Strategien, um die Aufmerksamkeit der Leute zu behalten: Über Smart TV, das einige Fernsehgeräte inzwischen bieten, bereichern die Sender ihre Programme mit Inhalten aus dem Internet, etwa Ticker mit Zusatzinformationen zum laufenden Programm, der Verknüpfung mit der Online-Mediathek, in der man eine verpasste Serie nachträglich abrufen kann, Programmführer mit integrierten Trailern oder bei Fußballübertragungen Informationen zu parallel laufenden Spiele. Die Smart TV-Geräte sind offen für Apps von Facebook oder Ebay, die man am TV-Gerät nutzen kann.

Bei ProSiebenSat.1 können Ungeduldige nach einer ausgestrahlten TV-Serienfolge mit Klick auf die Fernbedienung sogar die nächste Folge auf den Bildschirm holen, sofern sie Abonnenten sind. Auf der anderen Seite bieten die Sender auch Apps für den Second Screen wie zum Beispiel RTL inside oder ProSieben connect. Diese Angebote integrieren Twitter und Facebook, bieten Videoclips und Infos, die es im TV nicht zu sehen gibt. Besonders Formate wie das Dschungelcamp oder Sendungen wie Raab TV werden auf dem Second Screen diskutiert.

Die Buchverlage entwickeln ebenfalls Angebote, um Leute im Internet abzuholen. Videotrailer gehören inzwischen zum Standard bei der Vermarktung neuer Bücher. Klett-Cotta hat vor Erscheinungstermin zu dem Buch »Shotgun Lovesongs« von Nickolas Butler eine eigene Webseite gebaut. Das Buch handelt von fünf Freunden, die im ländlichen Wisconsin leben: einem Paar, das um seine Farm kämpfen muss, einem einstiger Rodeo-Star, der nach einem Unfall zum Alkoholiker wird, einem Musiker, der mit dem Album »Shotgun Lovesongs« berühmt wird und einem Rohstoffmakler. Auf der Webseite zum Buch gibt es eine Bildergalerie zu Handlungsorten und eine Art Soundtrack der im Buch erwähnten Musik, die man sich bei dem Online-Dienst Soundcloud anhören kann. Solche originellen Angebote sind allerdings noch die Ausnahme. Meist bleiben Buchinfos im Internet den Fans überlassen. Zu George R.R. Martins Erfolgsreihe »Lied von Eis und Feuer« haben sie eine umfassende Enzyklopädie mit Biografien der Figuren, Landkarten, Hintergrundinfos zu den Ländern und Völkern aus den Büchern erstellt.

Am ehesten bemühen sich Lern- und Schulbuchverlage, über das Gedruckte hinausgehende Zusatzangebote zu schaffen. Bei Antolin.de etwa können Grundschüler online ein Quiz zu Kinderbüchern beantworten – was nur gelingt, wenn die Kinder das Buch gelesen haben. Das Besondere: Die Lehrer haben ebenfalls Zugriff auf die Plattform und sehen, welche Schüler zuhause wie oft lesen üben. Der Ernst Klett Verlag bietet zu seinen Wörterbüchern eine Vokabeltrainer-App, mit dem die Käufer den Grundwortschatz der Sprache üben können. Die App arbeitet wie ein Karteikartensystem und merkt sich gelernte Vokabeln, während nicht gewusste beim nächsten Abfragen wieder auftauchen. Die fremdsprachigen Vokabeln werden zudem von Muttersprachlern vorgesprochen.

Die Verlage bekommen allerdings zunehmend Konkurrenz von Anbietern, die das Lernen frei zur Verfügung stellen möchten. Bekanntestes Beispiel ist die Khan-Akademie, eine nicht-kommerzielle Webseite mit über 4 000 Lehrfilmen aus den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Wirtschaft. Gegründet wurde sie von dem Amerikaner Salman Khan. Khan hatte ursprünglich seine Cousine über das Internet unterrichtet, dann fragten auch Freunde an, und er begann, seine Vorträge auf Videos aufzuzeichnen und bei YouTube zu veröffentlichen. Weil er schülergerecht erklären konnte, stieg seine Popularität rasch an. Inzwischen hat Khans YouTube-Kanal weit über eine Million Anhänger. Die Videos sind unter der Creative Commons lizenziert und können kostenlos verbreitet werden.

Transmediales Erzählen

Beim Einsatz von Geräten wie dem iPad in der Schule sind Lehrer indes auf Eigeninitiative angewiesen. Der Lehrer Dieter Umlauf von der Freiherr-vom-Stein-Schule in Fulda wandelte 2012 die Klasse 8c kurzerhand zu einer iPad-Projektklasse um. Die Schüler nutzen das iPad in verschiedenen Fächern: In Englisch nehmen sie Vorträge mit dem iPad auf und analysieren anschließend eigenständig ihre Aussprache. Sie verbessern sie laufend und am Ende spielen sie sie mit der App »Airplay« der Klasse vor. Sie erarbeiten in Gruppen Präsentationstechniken, tauschen Notizen aus und geben ihren Mitschülern online Rückmeldungen zu bestimmten Aufgaben. In Kunst wird auf dem iPad gemalt, im Sport eine Bewegungsanalyse vom Fußballspiel gemacht, in Chemie ein Experiment gefilmt, dessen Verlauf mit einer Periodensystem-App ausgearbeitet wird. Auffallend ist, dass Verlagsmaterial in dem Projekt kaum eine Rolle spielt. Die Schüler setzen stattdessen kreativ die klassischen Multimedia- und Kommunikations-Apps der Geräte ein. Überall herrscht bei Verlagen großer Nachholbedarf.

Die Medienplattform StoryDrive und die Berliner Agentur newthinking communications fragten 1 400 Vertreter der Spiele-, Film-, Buch- und Medienbranche zu ihrer Meinung über sieben Zukunftsszenarios, die von Trendforschern für das Jahr 2022 prognostiziert wurden – von der Verschmelzung der Medien bis zum personalisierten Storytelling. Die Medienwelt, so das Ergebnis, befinde sich »in einem Stadium andauernden Übergangs, das ein Gefühl des Zwiespalts mit sich bringe.« Weiter heißt es: »Veränderungen hinsichtlich Verwertung, Vertrieb von Inhalten werden von den Branchenvertretern positiv bewertet, cross- und transmediale Erzähl- und Verwertungsformen seien bei über der Hälfte der Befragten im Tagesgeschäft angekommen.«

Bei Technologien und Entwicklungen, die das Selbstverständnis der Branche infrage stellten, reagierten die Befragten allerdings oft ablehnend. Insbesondere die deutschsprachigen Teilnehmer zeigten eine kritischere Haltung gegenüber Zukunftsvisionen als internationalen Kollegen. 45 Prozent sagten, sie würden die Veränderungen bislang in erster Linie beobachten. »Neue Technologien werden zu oft als Gefahr gesehen, statt als Chance«, sagt Andreas Wichmann von newthinking communications. »Es gibt bei vielen der Befragten klare Verharrungstendenzen und damit verbunden die Hoffnung, dass die Veränderungen sie nicht betreffen.« Das sei ein bisschen so, als würden Schreiber im 15. Jahrhundert darauf hoffen, dass der Buchdruck eine Modeerscheinung bleibt.

Gunter Dueck, Ex-Technologiechef bei IBM Deutschland, kritisiert in einem Beitrag der »Messages from the future« im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse ebenfalls das Festhalten der Verlage an Produkten der Vergangenheit: »Die Buchbranche behauptet, dass sie sehr haptische, wunderschöne, mit Liebe ausgestattete Dinge herstellt«, sagte er. »Aber die Bücher sind schon lange nicht mehr in Leder oder Leinen gebunden – das sind irgendwelche Pappdinger mit irgendwelchen hässlichen Umschlägen drum herum.« Das Besondere werde langsam runtergewirtschaftet, um es halten zu können. Die Leute seien oft so verliebt in das Tolle in ihrer schönsten Zeit, in der sie wirklich erfolgreich und geschätzt waren. »Das aber gibt es nicht mehr wirklich, und jetzt kommt irgendetwas Neues, und man möchte das nicht«, so Dueck. »Die alten Werte sind also nur noch theoretisch im Hirn, nicht mehr in der Buchhandlung und nicht mehr im Verlag zu finden.« Die Aufgabe wäre es, sich wirklich dem Neuen zu stellen und sich zu fragen, wie sich die Kunstform der Zukunft entwickelt.

Was wäre das Neue? Ein Ansatz ist das transmediale Erzählen. Ein beeindruckendes Beispiel ist »The Walking Dead« zu der TV-Serie um eine Gruppe von Menschen, die unter Zombies zu überleben versuchen. Zu der Serie gibt es ein transmediales Projekt, das erstaunlicherweise seinen Schwerpunkt auf die Erzählung und nicht auf Action setzt. Die Spieler tauchen in die Video-Erzählung ein und müssen regelmäßig schwierige Entscheidungen treffen, die das Spiel verändern – spielen sie dasselbe Spiel erneut mit anderen Entscheidungen, erleben sie eine komplett neue Erzählung. Auch der Bastei Lübbe Verlag hat mit »Cathy’s Book« eine transmediale Geschichte ins Deutsche übertragen. Die Heldin dieses Buches verschwindet, hinterlässt aber ein Tagebuch mit Hinweisen auf den Aufenthaltsort. Die Leser müssen anhand von Notizen und Beweismaterial, Internetlinks und verschiedenen Telefonnummern herausfinden, wie die Geschichte verläuft. Nutzen sie das Internet nicht, kommen sie nicht weiter.

Ein großer Erfolg war 2012 der Hobbit-Quest, mit dem der Klett-Cotta Verlag vor dem Kinostart von »Der Hobbit« die Zuschauer auch für das Buch von Tolkien gewinnen wollte. Die Kampagne wurde von der Düsseldorfer Agentur ergo kommunikation entwickelt. Die Teilnehmer konnten auf einem Onlineportal jeden Monat vom Buch inspirierte, virtuelle Landschaften durchstreifen. Dabei mussten sie im Bild Gegenstände finden und Fragen zu Tolkiens Geschichte beantworten. Hinzu kam eine Steintafel, die die Nutzer entziffern mussten. Die Bruchstücke waren in der realen Welt in Deutschland, Österreich und der Schweiz versteckt – die Nutzer erhielten geografische Koordinaten des Fundortes und mussten diesen mit GPS-Geräten aufspüren. Droemer Knaur baute für die Titelheldin von Sebastian Fitzeks und Michael Tsokos Roman »Abgeschnitten« sogar eine eigene Webseite: Linda ist Comiczeichnerin und auf der Webseite erzählt sie in animierten Comics ihre eigene Sicht der Geschehnisse des Romans. Sowohl der Hobbit-Quest als auch Lindas Webseite wurden auf der Leipziger Buchmesse mit dem Preis für Online-Werbung ausgezeichnet.

Die Printausgabe als Zweitverwertung

Die günstigste Online-Werbung für Bücher ist allerdings nach wie vor die Buchempfehlung in Social Reading-Plattformen. Amazon hat die Social Reading-Community »Goodreads« gekauft und ist damit wieder einmal anderen zuvor gekommen. Goodreads ist ein soziales Netzwerk, in dem die Nutzer Bücher bewerten und besprechen, Leselisten erstellen und vor allem persönliche Empfehlungen für den Bücherkauf erhalten. Dafür wertet Goodreads das Nutzerverhalten aus. Die Empfehlungen haben bei Nutzern ein höheres Ansehen als die Empfehlungen, die Amazon selbst seinen Kunden gibt. Verleger und Autoren können auf der Plattform Autorenprofile erstellen und Links auf eigene Angebote setzen.

Mit Goodreads hat Amazon eine Art Hoheit über Buchempfehlungen erworben. Random House hat inzwischen mit »Bookscout« versucht, eine eigene Empfehlungs-App auf Facebook aufzubauen. Je mehr Bücher man mit dem »Like« adelt, desto besser werden die individuellen Empfehlungen. Der Ansatz ist interessant, muss sich aber noch bewähren. Goodreads hat bereits eine starke Facebook-Anbindung und eine treue Nutzergemeinde. In Deutschland gibt es die Plattform »LovelyBooks«, allerdings ist Social Reading hier längst noch nicht so populär wie in den USA.

Vom Social Reading profitieren auch Autoren, die eigene E-Books veröffentlichen. Sie können ihre Leserschaft durch Empfehlungen erhöhen, ohne auf die Vertriebsstrukturen der Verlage angewiesen zu sein. Der amerikanische Autor Hugh Howey etwa veröffentlichte seine Geschichten über Amazons Plattform Kindle Direct Publishing. »Silo« wurde durch Leserempfehlungen zum Bestseller – damit lenkte Howey die Aufmerksamkeit der Verlage auf sich. Die sehen inzwischen Selfpublishing nicht nur als Konkurrenz, sondern als Möglichkeit, neue Autoren zu entdecken. Obwohl Autoren wie Howey bereits viele E-Books verkauft haben, lohnt sich eine Printausgabe, wie »Silo« oder auch E.L. James »Fifty Shades of Grey« zeigten.

Schon vor dem Selfpublishing nutzen Autoren das Crowdfunding, um geplante Bücher nicht nur zu finanzieren, sondern um sich von Beginn an eine Gemeinschaft aufzubauen. Dirk von Gehlen von der Süddeutschen Zeitung und Autor von »Mashup«, ging einen besonders originellen Weg: Sein neues Projekt »Eine neue Version« konnte man auf der Crowdfunding-Plattform Startnext kaufen, bevor es überhaupt geschrieben wurde. Die 350 Leser, die das machten, wurden kurzerhand auch zu Lektoren erklärt. Gehlen verschickte sein Manuskript und nahm Verbesserungsvorschläge an – die Diskussionen wurden sogar auf Twitter ausgeweitet. Dort veröffentlichten die Unterstützer zum Beispiel Fotos des Manuskripts. Gehlen veranstaltete im Mai 2013 außerdem eine Tagung zur Frage, was im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich ein Buch ist – genau darum geht es auch in Gehlens Werk. Inzwischen hat Gehlen 14 000 Euro gesammelt, und das Buch erscheint im Herbst im metrolit-Verlag. Zur Frage, was das Buch ist, erklärt Gehlen übrigens: »Vielleicht ist ein Buch auch so etwas wie eine Tagung. Ein Ort der Begegnung und des Austauschs.«

 

Boris Hänßler, Jahrgang 1973, studierte Komparatistik in Bonn und Coimbra und arbeitet seit 2006 als freier Journalist in Bonn. Er schreibt über Informationstechnik und Forschung für Medien wie »Technology Review«, »brand eins«, »NZZ am Sonntag « oder »Zeit Online«. Seit Januar 2012 bloggt er über Roboter, künstliche Intelligenz und Internettrends bei Sci-Logs.de vom Verlag Spektrum der Wissenschaft.

 






Themen-Dossiers

Die Neuerfindung eines alten Mediums – Das Buch als ein Ort der Begegnung

Mann liest ein E-Book in der Hängematte
Lesen als Event und Gemeinschaftserlebnis: Autor Dirk von Gehlen sieht Bücher als einen »Ort der Begegnung und des Austauschs«. Sind die Zeiten eines ruhigen Lesenachmittags im Garten damit vorbei? Foto: Monkey Business - Fotolia.com

Paywall, Crowdfunding, Selfpublishing, Social Reading – die großen Trends der Medienbranche bringen innovative Angebote und neue Dienstleister ins Spiel. Die sind oft experimentierfreudiger als viele Verlage – und machen Lesen zum Event.

Ein Schreckgespenst hat Deutschland erreicht. Es hört auf den Namen »Huffington Post«, kurz: »HuffPo«. Tomorrow Focus, eine Tochter des Burda-Verlags, wird vermutlich ab Herbst eine deutschsprachige Version des erfolgreichen amerikanischen Nachrichten- und Bloggerportals herausgeben. Die anderen deutschen Verlage sind nicht begeistert. Die »HuffPo« lässt Prominente und Experten unbezahlt bloggen und verlinkt massiv auf andere Nachrichtenseiten. Für eigene journalistische Beiträge allerdings erhielt die »Huffington Post« 2012 als erste kommerzielle Onlinezeitung einen Pulitzerpreis. Sie gilt inzwischen als einflussreichstes Alternativmedium der USA und ist für Millionen von Amerikanern die Hauptinformationsquelle. Sie finanziert sich ausschließlich über Werbung.

Der Wandel in der Medienbranche ist in vollem Gange. Viele Verlage experimentieren, doch die meisten leben nach wie vor von ihren traditionellen Printprodukten. In der digitalen Welt ist schwer Geld zu verdienen. Ob die »Huffington Post« in Deutschland Erfolg haben wird, ist nicht abzusehen – doch sie würde einem Trend entgegenlaufen, der in die genau entgegengesetzte Richtung geht: Die »Bild-Zeitung« hat ihren Online-Auftritt in einen kostenfreien Bereich und einen Premium-Dienst »BILDPlus« für mindestens 4,99 Euro im Monat aufgeteilt.

Zuvor hatten einige Regionalzeitungen sowie die »Welt« einen Teil ihrer Artikel für kostenpflichtig erklärt. Auch aus dem Spiegel-Verlag hört man immer wieder die Idee, man wolle einen Bezahlbereich einzuführen. Vorreiter sind US-Zeitschriften wie das »Wall Street Journal« und die »New York Times«, die mit der sogenannten Paywall – einer Bezahlschranke – einiges an Geld verdienen. Die Leser können eine bestimmte Zahl an Artikeln im Monat gratis lesen, wollen sie mehr, müssen sie zahlen. Doch selbst die global bekannte »New York Times« musste die Preise wieder senken, weil die Zahl der Abonnenten stagnierte.

Fest steht: Die Reichweite der kostenlosen »HuffPo« ist in den USA doppelt so groß wie die der »New York Times«. In Deutschland kommt hinzu, dass die Angebote der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD und ZDF indirekt über die Rundfunkbeiträge finanziert werden – und somit scheinbar kostenlos sind. Auch unzählige Blogs im Internet über Spezialthemen informieren kostenfrei. Die Paywall wird angesichts der Gratis-Konkurrenz vermutlich nicht die Lösung der Probleme sein – und auch Apps für Smartphones und Tablet-PCs bringen wenig Geld. Die »Frankfurter Rundschau« hatte eine innovative iPad-Ausgabe entwickelt, doch die kurzzeitige Insolvenz konnte sie nicht abwenden. Die amerikanische »Financial Times« versucht sich derzeit mit einer Web-App – einer App, die man in mobilen Browsern gegen Gebühr abrufen kann. Dadurch muss die App nicht über den iTunes-Store gekauft werden, wofür Apple 30 Prozent der Einnahmen kassieren würde. Die Abrechnung erfolgt direkt über die Zeitung.

Das kleine Buch für zwischendurch

Zunächst scheint diese Diskussion ein Thema der Nachrichtenmedien zu sein – doch sie greifen längst auch auf die klassischen Buchverlage über. Jüngere Leser und Autoren bevorzugen auch bei Romanen und Sachbüchern Aktualität oder Schnelligkeit. Die Verlage können oder wollen mit diesem Tempo nicht mithalten. Erste Experimente für »realtime publishing« gibt es jedoch schon. Gemeint ist damit eine Mischform aus E-Book und Artikel. Auf der Internet-Konferenz »re:publica« gab es einen »re:publica-Reader«, der in Zusammenarbeit mit dem Books-on-Demand-Verlag epubli aus der Holtzbrinck-Gruppe und der deutschen Journalistenschule entwickelt wurde. Die Studierenden schrieben zu Konferenzveranstaltungen ausführliche Beiträge. Sie wurden im Laufe des Tages von einer Redaktion redigiert und erschienen einen Tag später in den E-Book-Shops von Amazon, Apple oder Kobo. epubli will mit diesem Prinzip neue Autoren anlocken, die schnell und unkompliziert kleinere E-Books publizieren möchten – und dafür höhere Gewinn-Margen erhalten als bei klassischen Verlagen. Deren System wäre viel zu langsam für solche Ideen.

»Verlage sind es gewohnt, in langen Zyklen zu planen, in manchen Buchverlagen teilweise mit Fünfjahresplänen«, sagt Ehrhardt Heinold von dem Verlagsberatungsunternehmen Heinold, Spiller & Partner in Hamburg. »Doch die Planungszeiten werden sich weiter verkürzen. Trendthemen mit immer kürzeren Laufzeiten bestimmen immer stärker den Medienmarkt, die Zeitfenster werden kleiner. Auch Technologietrends kommen und gehen in engen Zyklen.« Heinold spricht sich deshalb für eine Ausprobierkultur aus. »Verlage sollten Formate entwickeln, mit denen sie ohne großen Aufwand Innovationen testen können – mit schneller Lernkurve und möglichst niedrigen Investitionen.«

Ein solches Konzept wäre etwa »Booksprint«, entwickelt von Tomas Krag und Adam Hyde. Dabei setzen sich fünf bis zehn Experten in einem Raum zusammen. Es gibt nur eine Idee für das Thema, ansonsten aber wenig Vorgaben. Ein Moderator unterstützt die Teilnehmer dabei, gemeinsam innerhalb von höchsten fünf Tagen ein Buch zu erarbeiten – teils auf dem Treffen, teils über eine Online-Plattform. Die Bücher erscheinen sowohl Print-on-Demand als auch in verschiedenen E-Book-Formaten. Die Haupteinnahmen kommen nicht aus dem Verkauf des Buches, sondern sollen bereits vor dem Projekt akquiriert werden, beispielsweise über Crowdfunding-Plattformen, Sponsoren oder Spenden.

Amazon hat mit seinen »Kindle Singles« diesen Trend zur Schnelligkeit schon Anfang 2011 aufgenommen. »Singles« sind nicht tagesaktuell, setzen aber auf Häppchen: Kurzgeschichten und Reportagen. Im Gegensatz zum klassischen Selfpublishing, bei dem Autoren beliebige Bücher direkt verkaufen können, publiziert Amazon Singles nur von ausgewählten, meist erfahrenen Autoren. Die Texte werden von einer Redaktion bearbeitet – angeführt wird sie in den USA von David Blum, einst Chefredakteur der »Village Voice«. Zu den Autoren gehört zum Beispiel Douglas Preston, dessen Bericht »Trial by Fury« über den Kriminalfall um Amanda Knox zu den Bestsellern gehört. Die Autoren von erfolgreichen Singles sagen, dass sie damit mehrere 10 000 Dollar verdienen. Derzeit bereitet Amazon den Deutschland-Start vor.

»Read Petite« ist ein ähnliches Geschäftsmodell inspiriert von dem Musikanbieter Spotify, bei dem man für ein Monats-Abo nach Belieben Musik hören kann. Die Kunden besitzen diese Musik nicht, sie hören sie über das Internet und sobald ihr Abo beendet ist, verlieren sie alle Rechte an der Weiternutzung. Bei Read Petite, das bald in Großbritannien an den Start geht, können Kunden für fünf bis zwölf Pfund monatlich Artikel und Geschichten über das Internet lesen. Die Texte sind nicht länger als 9 000 Wörter. Neben Kurzgeschichten und längeren journalistischen Artikeln will das Unternehmen den Serienroman, der in Tageszeitungen selten geworden ist, wiederbeleben. Auch der Verlag GES in Berlin lebt gut von der Kürze: Er veröffentlicht vorwiegend erotische Kurzgeschichten, die man in 10 bis 25 Minuten gelesen hat und die nur 99 Cent kosten.

Lesen als Gemeinschaftserlebnis

Das Gegenextrem zur Schnelligkeit ist die Inszenierung des Buches als Event – ein Trend, der auf die Medienkonvergenz zurückzuführen ist. Diese Verschmelzung verschiedener Medien macht derzeit vor allem Fernsehsendern zu schaffen. Die jüngeren Zuschauer nutzen neben dem Fernseher heutzutage meist parallel ein Zweitgerät, den sogenannten Second Screen. Sie surfen im Internet oder chatten, während das Programm läuft. Die Sender verfolgen verschiedene Strategien, um die Aufmerksamkeit der Leute zu behalten: Über Smart TV, das einige Fernsehgeräte inzwischen bieten, bereichern die Sender ihre Programme mit Inhalten aus dem Internet, etwa Ticker mit Zusatzinformationen zum laufenden Programm, der Verknüpfung mit der Online-Mediathek, in der man eine verpasste Serie nachträglich abrufen kann, Programmführer mit integrierten Trailern oder bei Fußballübertragungen Informationen zu parallel laufenden Spiele. Die Smart TV-Geräte sind offen für Apps von Facebook oder Ebay, die man am TV-Gerät nutzen kann.

Bei ProSiebenSat.1 können Ungeduldige nach einer ausgestrahlten TV-Serienfolge mit Klick auf die Fernbedienung sogar die nächste Folge auf den Bildschirm holen, sofern sie Abonnenten sind. Auf der anderen Seite bieten die Sender auch Apps für den Second Screen wie zum Beispiel RTL inside oder ProSieben connect. Diese Angebote integrieren Twitter und Facebook, bieten Videoclips und Infos, die es im TV nicht zu sehen gibt. Besonders Formate wie das Dschungelcamp oder Sendungen wie Raab TV werden auf dem Second Screen diskutiert.

Die Buchverlage entwickeln ebenfalls Angebote, um Leute im Internet abzuholen. Videotrailer gehören inzwischen zum Standard bei der Vermarktung neuer Bücher. Klett-Cotta hat vor Erscheinungstermin zu dem Buch »Shotgun Lovesongs« von Nickolas Butler eine eigene Webseite gebaut. Das Buch handelt von fünf Freunden, die im ländlichen Wisconsin leben: einem Paar, das um seine Farm kämpfen muss, einem einstiger Rodeo-Star, der nach einem Unfall zum Alkoholiker wird, einem Musiker, der mit dem Album »Shotgun Lovesongs« berühmt wird und einem Rohstoffmakler. Auf der Webseite zum Buch gibt es eine Bildergalerie zu Handlungsorten und eine Art Soundtrack der im Buch erwähnten Musik, die man sich bei dem Online-Dienst Soundcloud anhören kann. Solche originellen Angebote sind allerdings noch die Ausnahme. Meist bleiben Buchinfos im Internet den Fans überlassen. Zu George R.R. Martins Erfolgsreihe »Lied von Eis und Feuer« haben sie eine umfassende Enzyklopädie mit Biografien der Figuren, Landkarten, Hintergrundinfos zu den Ländern und Völkern aus den Büchern erstellt.

Am ehesten bemühen sich Lern- und Schulbuchverlage, über das Gedruckte hinausgehende Zusatzangebote zu schaffen. Bei Antolin.de etwa können Grundschüler online ein Quiz zu Kinderbüchern beantworten – was nur gelingt, wenn die Kinder das Buch gelesen haben. Das Besondere: Die Lehrer haben ebenfalls Zugriff auf die Plattform und sehen, welche Schüler zuhause wie oft lesen üben. Der Ernst Klett Verlag bietet zu seinen Wörterbüchern eine Vokabeltrainer-App, mit dem die Käufer den Grundwortschatz der Sprache üben können. Die App arbeitet wie ein Karteikartensystem und merkt sich gelernte Vokabeln, während nicht gewusste beim nächsten Abfragen wieder auftauchen. Die fremdsprachigen Vokabeln werden zudem von Muttersprachlern vorgesprochen.

Die Verlage bekommen allerdings zunehmend Konkurrenz von Anbietern, die das Lernen frei zur Verfügung stellen möchten. Bekanntestes Beispiel ist die Khan-Akademie, eine nicht-kommerzielle Webseite mit über 4 000 Lehrfilmen aus den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Wirtschaft. Gegründet wurde sie von dem Amerikaner Salman Khan. Khan hatte ursprünglich seine Cousine über das Internet unterrichtet, dann fragten auch Freunde an, und er begann, seine Vorträge auf Videos aufzuzeichnen und bei YouTube zu veröffentlichen. Weil er schülergerecht erklären konnte, stieg seine Popularität rasch an. Inzwischen hat Khans YouTube-Kanal weit über eine Million Anhänger. Die Videos sind unter der Creative Commons lizenziert und können kostenlos verbreitet werden.

Transmediales Erzählen

Beim Einsatz von Geräten wie dem iPad in der Schule sind Lehrer indes auf Eigeninitiative angewiesen. Der Lehrer Dieter Umlauf von der Freiherr-vom-Stein-Schule in Fulda wandelte 2012 die Klasse 8c kurzerhand zu einer iPad-Projektklasse um. Die Schüler nutzen das iPad in verschiedenen Fächern: In Englisch nehmen sie Vorträge mit dem iPad auf und analysieren anschließend eigenständig ihre Aussprache. Sie verbessern sie laufend und am Ende spielen sie sie mit der App »Airplay« der Klasse vor. Sie erarbeiten in Gruppen Präsentationstechniken, tauschen Notizen aus und geben ihren Mitschülern online Rückmeldungen zu bestimmten Aufgaben. In Kunst wird auf dem iPad gemalt, im Sport eine Bewegungsanalyse vom Fußballspiel gemacht, in Chemie ein Experiment gefilmt, dessen Verlauf mit einer Periodensystem-App ausgearbeitet wird. Auffallend ist, dass Verlagsmaterial in dem Projekt kaum eine Rolle spielt. Die Schüler setzen stattdessen kreativ die klassischen Multimedia- und Kommunikations-Apps der Geräte ein. Überall herrscht bei Verlagen großer Nachholbedarf.

Die Medienplattform StoryDrive und die Berliner Agentur newthinking communications fragten 1 400 Vertreter der Spiele-, Film-, Buch- und Medienbranche zu ihrer Meinung über sieben Zukunftsszenarios, die von Trendforschern für das Jahr 2022 prognostiziert wurden – von der Verschmelzung der Medien bis zum personalisierten Storytelling. Die Medienwelt, so das Ergebnis, befinde sich »in einem Stadium andauernden Übergangs, das ein Gefühl des Zwiespalts mit sich bringe.« Weiter heißt es: »Veränderungen hinsichtlich Verwertung, Vertrieb von Inhalten werden von den Branchenvertretern positiv bewertet, cross- und transmediale Erzähl- und Verwertungsformen seien bei über der Hälfte der Befragten im Tagesgeschäft angekommen.«

Bei Technologien und Entwicklungen, die das Selbstverständnis der Branche infrage stellten, reagierten die Befragten allerdings oft ablehnend. Insbesondere die deutschsprachigen Teilnehmer zeigten eine kritischere Haltung gegenüber Zukunftsvisionen als internationalen Kollegen. 45 Prozent sagten, sie würden die Veränderungen bislang in erster Linie beobachten. »Neue Technologien werden zu oft als Gefahr gesehen, statt als Chance«, sagt Andreas Wichmann von newthinking communications. »Es gibt bei vielen der Befragten klare Verharrungstendenzen und damit verbunden die Hoffnung, dass die Veränderungen sie nicht betreffen.« Das sei ein bisschen so, als würden Schreiber im 15. Jahrhundert darauf hoffen, dass der Buchdruck eine Modeerscheinung bleibt.

Gunter Dueck, Ex-Technologiechef bei IBM Deutschland, kritisiert in einem Beitrag der »Messages from the future« im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse ebenfalls das Festhalten der Verlage an Produkten der Vergangenheit: »Die Buchbranche behauptet, dass sie sehr haptische, wunderschöne, mit Liebe ausgestattete Dinge herstellt«, sagte er. »Aber die Bücher sind schon lange nicht mehr in Leder oder Leinen gebunden – das sind irgendwelche Pappdinger mit irgendwelchen hässlichen Umschlägen drum herum.« Das Besondere werde langsam runtergewirtschaftet, um es halten zu können. Die Leute seien oft so verliebt in das Tolle in ihrer schönsten Zeit, in der sie wirklich erfolgreich und geschätzt waren. »Das aber gibt es nicht mehr wirklich, und jetzt kommt irgendetwas Neues, und man möchte das nicht«, so Dueck. »Die alten Werte sind also nur noch theoretisch im Hirn, nicht mehr in der Buchhandlung und nicht mehr im Verlag zu finden.« Die Aufgabe wäre es, sich wirklich dem Neuen zu stellen und sich zu fragen, wie sich die Kunstform der Zukunft entwickelt.

Was wäre das Neue? Ein Ansatz ist das transmediale Erzählen. Ein beeindruckendes Beispiel ist »The Walking Dead« zu der TV-Serie um eine Gruppe von Menschen, die unter Zombies zu überleben versuchen. Zu der Serie gibt es ein transmediales Projekt, das erstaunlicherweise seinen Schwerpunkt auf die Erzählung und nicht auf Action setzt. Die Spieler tauchen in die Video-Erzählung ein und müssen regelmäßig schwierige Entscheidungen treffen, die das Spiel verändern – spielen sie dasselbe Spiel erneut mit anderen Entscheidungen, erleben sie eine komplett neue Erzählung. Auch der Bastei Lübbe Verlag hat mit »Cathy’s Book« eine transmediale Geschichte ins Deutsche übertragen. Die Heldin dieses Buches verschwindet, hinterlässt aber ein Tagebuch mit Hinweisen auf den Aufenthaltsort. Die Leser müssen anhand von Notizen und Beweismaterial, Internetlinks und verschiedenen Telefonnummern herausfinden, wie die Geschichte verläuft. Nutzen sie das Internet nicht, kommen sie nicht weiter.

Ein großer Erfolg war 2012 der Hobbit-Quest, mit dem der Klett-Cotta Verlag vor dem Kinostart von »Der Hobbit« die Zuschauer auch für das Buch von Tolkien gewinnen wollte. Die Kampagne wurde von der Düsseldorfer Agentur ergo kommunikation entwickelt. Die Teilnehmer konnten auf einem Onlineportal jeden Monat vom Buch inspirierte, virtuelle Landschaften durchstreifen. Dabei mussten sie im Bild Gegenstände finden und Fragen zu Tolkiens Geschichte beantworten. Hinzu kam eine Steintafel, die die Nutzer entziffern mussten. Die Bruchstücke waren in der realen Welt in Deutschland, Österreich und der Schweiz versteckt – die Nutzer erhielten geografische Koordinaten des Fundortes und mussten diesen mit GPS-Geräten aufspüren. Droemer Knaur baute für die Titelheldin von Sebastian Fitzeks und Michael Tsokos Roman »Abgeschnitten« sogar eine eigene Webseite: Linda ist Comiczeichnerin und auf der Webseite erzählt sie in animierten Comics ihre eigene Sicht der Geschehnisse des Romans. Sowohl der Hobbit-Quest als auch Lindas Webseite wurden auf der Leipziger Buchmesse mit dem Preis für Online-Werbung ausgezeichnet.

Die Printausgabe als Zweitverwertung

Die günstigste Online-Werbung für Bücher ist allerdings nach wie vor die Buchempfehlung in Social Reading-Plattformen. Amazon hat die Social Reading-Community »Goodreads« gekauft und ist damit wieder einmal anderen zuvor gekommen. Goodreads ist ein soziales Netzwerk, in dem die Nutzer Bücher bewerten und besprechen, Leselisten erstellen und vor allem persönliche Empfehlungen für den Bücherkauf erhalten. Dafür wertet Goodreads das Nutzerverhalten aus. Die Empfehlungen haben bei Nutzern ein höheres Ansehen als die Empfehlungen, die Amazon selbst seinen Kunden gibt. Verleger und Autoren können auf der Plattform Autorenprofile erstellen und Links auf eigene Angebote setzen.

Mit Goodreads hat Amazon eine Art Hoheit über Buchempfehlungen erworben. Random House hat inzwischen mit »Bookscout« versucht, eine eigene Empfehlungs-App auf Facebook aufzubauen. Je mehr Bücher man mit dem »Like« adelt, desto besser werden die individuellen Empfehlungen. Der Ansatz ist interessant, muss sich aber noch bewähren. Goodreads hat bereits eine starke Facebook-Anbindung und eine treue Nutzergemeinde. In Deutschland gibt es die Plattform »LovelyBooks«, allerdings ist Social Reading hier längst noch nicht so populär wie in den USA.

Vom Social Reading profitieren auch Autoren, die eigene E-Books veröffentlichen. Sie können ihre Leserschaft durch Empfehlungen erhöhen, ohne auf die Vertriebsstrukturen der Verlage angewiesen zu sein. Der amerikanische Autor Hugh Howey etwa veröffentlichte seine Geschichten über Amazons Plattform Kindle Direct Publishing. »Silo« wurde durch Leserempfehlungen zum Bestseller – damit lenkte Howey die Aufmerksamkeit der Verlage auf sich. Die sehen inzwischen Selfpublishing nicht nur als Konkurrenz, sondern als Möglichkeit, neue Autoren zu entdecken. Obwohl Autoren wie Howey bereits viele E-Books verkauft haben, lohnt sich eine Printausgabe, wie »Silo« oder auch E.L. James »Fifty Shades of Grey« zeigten.

Schon vor dem Selfpublishing nutzen Autoren das Crowdfunding, um geplante Bücher nicht nur zu finanzieren, sondern um sich von Beginn an eine Gemeinschaft aufzubauen. Dirk von Gehlen von der Süddeutschen Zeitung und Autor von »Mashup«, ging einen besonders originellen Weg: Sein neues Projekt »Eine neue Version« konnte man auf der Crowdfunding-Plattform Startnext kaufen, bevor es überhaupt geschrieben wurde. Die 350 Leser, die das machten, wurden kurzerhand auch zu Lektoren erklärt. Gehlen verschickte sein Manuskript und nahm Verbesserungsvorschläge an – die Diskussionen wurden sogar auf Twitter ausgeweitet. Dort veröffentlichten die Unterstützer zum Beispiel Fotos des Manuskripts. Gehlen veranstaltete im Mai 2013 außerdem eine Tagung zur Frage, was im Zeitalter der Digitalisierung eigentlich ein Buch ist – genau darum geht es auch in Gehlens Werk. Inzwischen hat Gehlen 14 000 Euro gesammelt, und das Buch erscheint im Herbst im metrolit-Verlag. Zur Frage, was das Buch ist, erklärt Gehlen übrigens: »Vielleicht ist ein Buch auch so etwas wie eine Tagung. Ein Ort der Begegnung und des Austauschs.«

 

Boris Hänßler, Jahrgang 1973, studierte Komparatistik in Bonn und Coimbra und arbeitet seit 2006 als freier Journalist in Bonn. Er schreibt über Informationstechnik und Forschung für Medien wie »Technology Review«, »brand eins«, »NZZ am Sonntag « oder »Zeit Online«. Seit Januar 2012 bloggt er über Roboter, künstliche Intelligenz und Internettrends bei Sci-Logs.de vom Verlag Spektrum der Wissenschaft.

 



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