VORSCHAU

Unsere aktuelle Magazin-Ausgabe von BuB – Forum Bibliothek und Information

Mehr erfahren

Themen-Dossiers

»Das Fernsehen aber hasse ich« - Kinderbuchautor Paul Maar im Gespräch

Kinderbuchautor Paul Maar
Paul Maar beim Interview: »Ich ärgere mich über jede Nachricht maßlos, dass wieder mal eine Bibliothek zugemacht wird.« Foto: Bernd Schleh

Paul Maar ist einer der bekanntesten deutschen Kinderbuchautoren. Seine Bücher sind in einer Millionenauflage erschienen und in über 30 Sprachen übersetzt. Mit seinen Theaterstücken für Kinder gehört er zu den meistgespielten lebenden Autoren des Landes. Darüber hinaus betätigt sich der 75-Jährige als erfolgreicher Übersetzer, Illustrator und Drehbuchschreiber. Mit Sams und Co. hat Paul Maar Generationen von Kindern zum Lesen gebracht. Im Interview mit BuB-Redakteur Bernd Schleh erklärt er, wieso das Lesen so wichtig ist, weshalb sich seine Kultfigur Lippel der Träumer im Kinderbuch ganz anders verhält als im Kinofilm und warum sich Kinder – und Erwachsene – auch mal langweilen sollten. Zur bevorstehenden Buchmesse in Frankfurt hat sich der erfahrene Schriftsteller und Literaturkenner ebenfalls deutlich geäußert: »Wenn sich Literaturbegeisterte intensiv in einer Bibliothek oder Buchhandlung umschauen, haben sie davon viel mehr als von einem Besuch der großen Buchmessen.«

 

BuB: Herr Maar, beginnen wir gleich mit der schwierigsten Frage: Was ist eigentlich ein gutes Kinderbuch?

Paul Maar: Darüber könnten wir stundenlang reden. Ich versuche, es ganz kurz mit einem Vergleich zu erklären: Es gibt in der Psychiatrie genau einen sicheren Nachweis für eine endogene Depression; die Erkrankung liegt vor, wenn das Medikament Lithium wirkt. Entsprechend gibt es genau einen untrüglichen Nachweis für ein gutes Kinderbuch: Es ist dann gut, wenn die Kinder es lieben. So einfach ist das.

 

Ist es ganz egal, was Kinder lesen – Comic, Manga, Handbuch für den PC oder »Sagen des klassischen Altertums« –– Hauptsache sie lesen?

Das würde ich so nicht sagen. Wenn das Lesen nur darin besteht, die Gebrauchsanweisung für das neue Handy zu entziffern, dann ist das ein bisschen wenig. Wichtig ist schon, dass die Kinder Geschichten lesen, dass sie sich in andere Welten versetzen, dass sie etwas Neues erfahren und vor allem auch neue Gefühle erleben.

 

Und der Comic als Einstieg?

Ganz klar kann es auch beim Lesen eine Entwicklung geben. Als Kind habe ich zunächst Groschenromane vom Kiosk gelesen, dann kam ich zu Karl May; irgendwann wurde auch das langweilig und es ging noch eine Stufe höher. Ich denke, dass Kinder, die mit Asterix und Obelix anfangen, ganz bestimmt auch zu Büchern greifen werden. Man sollte den Kindern nicht sagen, dass es falsch ist, schlichte Literatur zu lesen und ihnen nicht das gute Kinderbuch vorschreiben. Man muss ihnen die Chance lassen, sich selbst weiterzuentwickeln. Gute Angebote darf man ihnen dabei selbstverständlich machen.

 

Warum ist das Lesen so wichtig?

Fachleute sagen meistens, dass Lesen die Kreativität fördert. Das stimmt, aber es ist ein Gemeinplatz. Ich finde es viel bedeutender, dass Lesen die emotionale Intelligenz fördert. Ein Kind muss erst mal lernen, die Gesten und Gedanken eines anderen Menschen zu deuten. Es muss die, wie der Psychologe sagt, Spiegelzellen aktivieren, und das geschieht ganz stark durch den Leseprozess und das Aufnehmen von Geschichten, dadurch, dass sich das Kind in die Figuren der Geschichte hineinversetzt und die Gedanken und Gefühle des anderen mit- und nachempfindet. Das sind ganz elementare Erfahrungen und Lernprozesse. Hinzu kommt natürlich, dass es gerade im Internetzeitalter enorm wichtig ist, gut und schnell lesen zu können. Die Schere zwischen Schülern, die kaum lesen können und denen, die gut lesen können, geht immer weiter auseinander. Das ist eine große Gefahr. Schulabsolventen, die halbe Analphabeten sind, werden sich in unserer Gesellschaft kaum behaupten und durchsetzen können. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass Kinder schon in der Grundschule Freude am Lesen entwickeln.

 

Das ist gar nicht so einfach. Kindern steht heute ein riesiges Medienangebot zur Verfügung. Wie kann man sie da ausgerechnet für das Lesen begeistern?

Der beste Weg zum Lesen führt über das Erzählen. Voraussetzung dafür ist, dass Kinder in einigermaßen intakten Familien leben, in denen es Familienmitglieder gibt, die ihnen Geschichten erzählen oder vorlesen; das setzt bei den Kindern einen Wahrnehmungsprozess in Gang, formatiert gewissermaßen deren Gehirn. Ein Kind kann noch gar nicht wissen, was eine Geschichte ist. Es kennt Dialoge, Fragen, Anweisungen im Kindergarten –, aber das sind keine Geschichten. Eine Geschichte ist ein in sich abgeschlossenes Ganzes, sie hat, wenn sie gut ist, einen Anfang, einen Höhepunkt an der richtigen Stelle und einen runden Schluss. Aber dafür muss das Kind erst ein Muster im Gehirn bilden. Ist das erfolgreich angelegt, dann wird es geschichtenhungrig und will immer mehr hören.

 

Welche Rolle spielt die Erzähl- beziehungsweise Vorlesesituation?

Eine ausgesprochen wichtige: Wenn ein Vater oder eine Mutter sich beim Vorlesen oder Erzählen ganz dem Kind widmet, sich die beiden vielleicht noch zusammenkuscheln, dann entsteht eine ganz warme Emotion – und dieses Gefühl verbindet sich mit der Geschichte. Das heißt, Geschichten und Lesen werden dann immer als angenehm empfunden. Wenn diese frühkindliche Prägung da ist, dann besteht überhaupt keine Gefahr, dass Kinder später nicht lesen. Sie werden dieses schöne Gefühl wiederhaben wollen und deshalb gerne selber zu Büchern greifen.

 

Bei Computerspielen, Fernsehserien und Hörspielen wechseln die Reize in der Regel im Minutentakt. Da können die »langsamen« Bücher kaum mithalten. Werden sie trotzdem überleben?

Das Buch wird auf jeden Fall überleben, davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Ich erläutere das an einem Beispiel: Es gab vor 20 Jahren genau hier in Tübingen eine hitzige Diskussion über Kinder- und Jugendtheater. Die Theoretiker auf dem Podium hatten erklärt, die Kinder würden jetzt alle die Sesamstraße und andere Fernsehsendungen ansehen. Die seien so schnell geschnitten, da müsse sich das Theater unbedingt anpassen, mit kurzen Szenen, schnellen Wechseln und viel Musik. Das war  meiner Meinung nach der völlig falsche Weg. Man muss den elektronischen Medien genau das entgegenhalten, was sie nicht bieten können.

 

Sie sind auch Theaterautor. Haben Sie das bei Ihren eigenen Stücken so gemacht?

Ja, ich habe das ausprobiert. Vor vielen Jahren schrieb ich das Theaterstück »Die Reise durch das Schweigen«. Das geht extrem langsam los. Eine Amme sitzt auf der Bühne und strickt und fängt an, eine Geschichte zu erzählen. Nach und nach kommen die anderen Figuren aus dem Dunkel. Das Stück wurde im Morgenstern-Theater vor Schülern einer »Brennpunkt-Schule« in Berlin aufgeführt. Die Schüler waren schon beim Eintreten ins Theater ziemlich aggressiv und haben einen Mitschüler gleich gegen die Heizung geschmissen. Ich dachte, oh Gott, wie wird das mit diesem ruhigen Stück wohl ausgehen? Vielleicht waren die noch nie im Theater? Dann wurde es dunkel und das Schauspiel ging los. Es war wie ein kleines Wunder: Die Schüler blieben während der ganzen Vorstellung still und haben aufmerksam zugehört und zugeschaut. Ich hatte das Gefühl, sie haben die Vorstellung genossen, sie haben es geschätzt, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, ihnen eine interessante Geschichte auf einfache Weise zu erzählen.

 

Literatur und Theater stehen als Kunstformen außer Frage. Ihre Figuren und Geschichten tauchen aber auch im Kino und Fernsehen auf.

Ja, und ich finde, es gibt immer noch einen riesigen Unterschied zwischen Kino und Fernsehen. Fernsehen ist viel dekonzentrierender. Da sitzt das Kind nachmittags auf dem Sessel, es isst etwas und nebenbei läuft ein Film im Fernseher, dann geht es in die Küche und holt einen Saft, es kehrt zurück, schaut weiter, obwohl es schon etwas von der Handlung verpasst hat – dann kommt auch noch Werbung. Wenn man das Kind hinterher fragt, was es gesehen hat, dann kann es, wenn überhaupt, nur einzelne Szenen wiedergeben. Der Zusammenhang der Geschichte fehlt komplett. Im Kino dagegen ist man in einer großen Gemeinschaft, zu Beginn des Filmes wird es dunkel, die Konzentration wächst und dann erscheint das große Bild und die Filmmusik und man spürt die Emotionen, auch um einen herum. Kino ist eine eigene Kunstform wie die Literatur und das Theater, das Fernsehen aber hasse ich.

 

Nochmal zurück zur Literatur: Bei Kinder- und Jugendbüchern erleben wir derzeit eine wahre Titelflut. Das Angebot ist für Kinder – und Eltern – unüberschaubar.

Auch für Autoren ist das Angebot inzwischen nicht mehr zu überblicken. Was ich momentan mit besonderem Unbehagen sehe ist der Umstand, dass sich an ein erfolgreiches Genre sofort weitere Autoren und vor allem Verlage anhängen. Noch vor zehn Jahre hätte ich die Bücher der einzelnen Verlage an Aufmachung und Titel erkennen und unterscheiden können, auch ohne das Verlagsemblem zu sehen. Heute haben alle Bücher schwarze Umschläge, Totenköpfe, Schwerter, Vampire, Schlangen. Diese Fantasy-Welle überschwemmt den Buchmarkt. Man fragt sich auch als Autor: Gibt es eigentlich nichts anderes mehr? Sich hier zurecht zu finden, ist wirklich sehr schwer.

 

Einerseits werden immer mehr Kinderbücher verkauft, anderseits wird berichtet, dass die Kinder immer weniger lesen. Wie passt das zusammen?

Ich frage mich auch, wo die ganzen Bücher hingehen. Meine Theorie: Die Kinder, die gerne lesen, lesen heute prozentual viel viel mehr als beispielsweise noch vor 30 Jahren und lassen sich dann auch zu allen Gelegenheiten Bücher schenken. Sie lesen schneller, weil sie in der Entwicklung weiter sind als Gleichaltrige vor 30 Jahren.

 

Brauchen die Kinder heute auch andere Bücher als ihre Altersgenossen vor 30 Jahren?

Lebenswelt und Medienangebot haben sich in den vergangenen Jahren rasch geändert, aber das sind eigentlich nur Äußerlichkeiten. In meine Bücher haben auch PC und andere elektronische Medien hineingefunden, aber das ist Beiwerk, das gibt die Atmosphäre wieder. Wesentlich sind die Grunderfahrungen der Menschen beziehungsweise Kinder, und die haben sich in 30 Jahren nicht geändert.

 

Können Sie ein Beispiel geben?

Ein Junge liegt abends im Bett und kann nicht einschlafen. Er hört, wie seine Eltern im Wohnzimmer ganz laut streiten. Die Gedanken dieses Jungen: Werden sie sich trennen? Bin ich dann allein? Muss ich zu Papa oder zu Mama? Das ist eine existenzielle Situation für ein Kind, die es so immer gegeben hat und immer geben wird. Insofern gibt es bestimmte grundlegende Themen, die immer aktuell bleiben. Zum Beispiel gehört dazu auch die Stellung in der Geschwisterreihe; der Erstgeborene darf immer mehr, das Nesthäkchen wird verhätschelt. Solche Konstellationen sind zeitlos, man kann sie als Autor immer beschreiben – da spielt es keine Rolle, ob nebenbei noch iPod und iPad vorkommen.

 

Gehen Sie angesichts der bunten Medienvielfalt inzwischen anders an die Entwicklung eines Buches oder Theaterstücks heran als zu Beginn Ihrer Karriere?

Ja und nein. Zuerst ist auf jeden Fall die Geschichte da. Und ich kann Ihnen sagen: Je älter man wird, desto schwieriger ist es, dass einem ununterbrochen gute Geschichten sozusagen aus dem Gedächtnis purzeln. Ich habe gelegentlich das Gefühl, dass ich das ein oder andere schon einmal beschrieben habe. Man fragt sich: Was gibt es eigentlich noch Neues? Hat man dann eine gute Geschichte, denkt man natürlich umso eher, dass man daraus vielleicht mehr als ein Buch machen könnte: ein gutes Hörspiel, wenn man daran noch ein bisschen was ändert. Und wenn sich daraus auch noch ein Film entwickeln lässt, umso besser.

 

Hörbuch und Film, sind das nur Abwandlungen des Buches oder schon wieder neue Geschichten?

Gerade bei Filmdrehbüchern stellt sich häufig heraus, dass sie doch erheblich vom Originalbuch abweichen. Es ist gewissermaßen so, wie wenn ich eine Geschichte noch mal neu schreiben darf. Ganz extrem war das bei der Verfilmung meines Buches »Lippels Traum«. Das Buch war 20 Jahre alt, als wir das Drehbuch geschrieben haben – und wir haben vieles, ja Entscheidendes, ganz anders erzählt.

 

Zum Beispiel?

Lippels Eltern sind weggefahren und haben ihn in der Obhut von Frau Jakob gelassen. Im Buch ist es so, dass nun eine nette Nachbarin kommt und diese Frau Jakob vertreibt. Die Botschaft für die Kinder lautet also: Wenn du in Not bist, auch psychisch, warte ab und vertraue darauf, dass von außen Hilfe kommt. Das schien mir nicht mehr das richtige Rezept für Kinder heute zu sein. Im Film schaffen es die Kinder deshalb alleine, durch Fantasie und Initiative, diese Frau Jakob aus der Wohnung zu vertreiben. Das heißt, die Botschaft ist hier: Wenn du Probleme hast, werde aktiv, entwickle Fantasie, dann findest du einen Weg, um da rauszukommen. Der Film ist viel weiter als damals das Buch.

 

Welche Bedeutung hat die Fantasie in der Entwicklung eines Kindes?

Die Fantasie ist unglaublich wichtig. Alles was neu geschaffen wird, entsteht schließlich erst mal in der Fantasie.

 

Können Kinder sich langweilen?

Ja, Kinder können sich schon langweilen – und das sollen sie manchmal auch, weil es wiederum die Fantasie fördert. Kinder finden sehr schnell wieder etwas, mit dem sie sich sinnvoll beschäftigten können. Es wäre schön, wenn sich auch die Erwachsenen mehr langweilen könnten. Mein Arzt hat mir gesagt, die beste Art von Erholung sei die, bei der man sich langweile. Das deckt sich mit meiner Erfahrung: Wenn man sich beispielsweise im Urlaub gelangweilt hat, ist man garantiert viel besser erholt, als wenn man ständig aktiv war.

 

Viele Kinder bekämpfen heute ihre Langeweile am Computer. Das erste Sams-Buch ist auch als PC-Spiel erschienen, war das ein Fehler?

Das erste Sams-Buch habe ich selbst als PC-Spiel gestaltet. Ich habe mir die ganzen Spiele und Aktionen ausgedacht – und dafür reichlich Proteste von Eltern erhalten. Viele sagten: Wir versuchen, unser Kind vom PC wegzulocken und zum guten Buch zu bringen und ausgerechnet Sie als Autor machen nun ein PC-Spiel. Aber die Aufgabe und die neuen technischen Möglichkeiten haben mich als Autor und kreativer Mensch einfach gereizt. Den Eltern habe ich entgegnet, ob es nicht besser sei, die Kinder einen Nachmittag in der Woche mit dem Sams am PC spielen zu lassen, als sie ständig brutalen PC-Gewaltspielen zur überlassen. Es ist doch schöner, wenn sich Kinder darüber freuen, dass beim Sams der Taucheranzug platzt, als wenn Menschen abgeschossen werden. Das war gewissermaßen ein Gegenprogramm. Aber ich habe es nur einmal gemacht.

 

Zuhause können Eltern einen geschützten Raum schaffen – doch früher oder später werden Kinder mit der Medien- und Technikwelt konfrontiert. Wie soll man Kinder darauf vorbereiten?

Die Medienwelt gehört zum Leben dazu. Man kann und soll Kinder davon nicht dauerhaft fernhalten. Das hat noch nie funktioniert. Dazu ein historisches Beispiel: Als die allgemeine Schulpflicht kam und die Kinder alle lesen konnten, wurden massenhaft billige Kindergeschichten, Sagen und Märchen in einfach gemachten Heften auf den Markt geworfen. Sofort gab es in der Pädagogik eine starke Bewegung, die angesichts dieser Entwicklung allen Ernstes forderte, man müsse den Kindern das Lesen verbieten. Ihre Argumente waren: Das Lesen würde die Fantasie der Kinder verderben. Die Kinder sollten arbeitsam sein und moralisch und nicht in andere Welten entfliehen. Obwohl die Pädagogen für starken Gegenwind sorgten, setzten sich die Kinder durch: Sie haben einfach gelesen, weil es ihnen Spaß machte. Und wenn nun die Pädagogen vor den Computerspielen warnen, dann wird es so sein, dass sie mit ihren Argumenten diesmal zwar recht haben – im Gegensatz zu den Leseverbietern –, aber die Kinder werden sich auch hier durchsetzen. Die Entwicklung geht einfach weiter, und Verbote bringen gar nichts. Man kann allenfalls versuchen, diese Entwicklung zu steuern.

 

Im Frühjahr dieses Jahres gab es auch in unserer Zeitschrift eine heftige Diskussion über die verbale Political Correctness von Kinderbüchern. Wie ist Ihr Standpunkt?

Das ist ein zwiespältiges Thema. Dass damals der Oetinger-Verlag, also mein Verlag, bei Astrid Lindgren den Negerkönig durch einen Südseekönig ersetzt hat, finde ich in Ordnung, weil das einfach logischer ist. Im Pazifik gibt es keine »Schwarzen« und damit auch keinen Negerkönig. Am Anfang war ich also eher dafür, dass man diese Begriffe austauscht. Doch dann hat mir ein Argument meiner Autorenkollegin Christine Nöstlinger zu diesem Thema gut eingeleuchtet: Sie sagte, sie ärgere sich maßlos über dieses Verlangen der Säuberung bei Kinderbüchern. Sie könnte tausend Beispiele, von Goethe bis Kant, für Begriffe anführen, die heute nicht mehr denkbar seien, und niemand käme auf die Idee, sie bei diesen Autoren austauschen zu wollen – weil es ja die hehre Erwachsenenliteratur sei. Kinderliteratur dagegen habe ja nur eine pädagogische Bedeutung und sei nur Literatur zweiter Klasse. Aber Kinderliteratur ist natürlich genauso Literatur, und es geht überhaupt nicht, dass man hier nachträglich Texte verändert.

 

Gibt es in Ihren ersten Büchern auch Ausdrücke oder Passagen, die Sie so heute nicht mehr veröffentlichen würden?

Ich muss mir da selber keine Vorwürfe machen, weil weder Neger noch Zigeuner in meinen Büchern vorkommen. Nein, aus politischen Gründen würde ich sicher nichts ändern. Stilistisch manchmal schon. Wenn ich aus meinen älteren Büchern lese, dann denke ich gelegentlich, ich hätte aus einem langen Nebensatz besser zwei kurze Sätze gemacht.

 

Welche Rolle haben Bibliotheken in Ihrem Leben gespielt?

Eine ganz große Rolle hat die Bibliothek des Amerikahauses Schweinfurt gespielt. Zu meiner Kinder- und Jugendzeit gab es dort noch keine Stadtbücherei, nur kleine Leihbibliotheken, die Bücher gegen Geld verliehen. Die kostenlose Bibliothek des Amerikahauses war für mich eine Offenbarung. Da bin ich regelmäßig hingegangen und habe meine Tasche voll mit Büchern geladen.

 

Braucht man Bibliothekare überhaupt noch, wenn heute alles im Netz steht?

Wir brauchen sie auf jeden Fall, genauso wie wir gute Buchhändler brauchen. Eine sorgfältige und umfassende Beratung kann durch das Internet nicht annährend ersetzt werden.

 

Politiker bezeichnen Deutschland gerne als Bildungsland. Trotzdem werden hierzulande wöchentlich Bibliotheken geschlossen. Wie passt das zusammen?

Überhaupt nicht. Ich ärgere mich über jede Nachricht maßlos, dass wieder mal eine Bibliothek zugemacht wird.

 

Das Angebot an digitalen Medien nimmt stetig zu. In vielen wissenschaftlichen Bibliotheken wird bereits mehr als die Hälfte des Etats für elektronische Bücher ausgegeben. Stirbt das gedruckte Buch aus?

Ich hoffe nicht. Es ist schon etwas anderes, ob ich einen E-Reader oder ein gedrucktes Buch in die Hand nehme. Das Buch riecht, der Leser hört es knacken, wenn er es das erste Mal aufschlägt, es ist ein angenehmes haptisches Gefühl. Aber ich muss gestehen, ich habe auch ein iPad, auf das ich vor dem Urlaub vier bis fünf Bücher lade. Das ist einfach praktisch – lieber sind mir dennoch die echten Bücher.

 

Wo ist das konkrete Interesse für Literatur größer, bei einem Lesefest wie hier in Tübingen oder bei den großen kommerziellen Buchmessen in Frankfurt oder Leipzig?

Der Unterschied ist, dass bei den kommerziellen Messen die Erwachsenen dominieren: Buchhändler, Verleger, Bibliothekare und andere Fachleute, die sich die Neuerscheinungen anschauen wollen. Kinder können am Wochenende ein bisschen schauen und blättern, das ist für sie eigentlich uninteressant. Viel spannender ist das Lesefest hier in Tübingen, wo die Kinder bei Lesungen begeistert zuhören, sich Bücher signieren lassen und wo man auch ein echtes Interesse am Buch und an einer Geschichte spürt. Das ist in Frankfurt nicht so, da wird man mehr oder weniger von der Besuchermasse durch die Gänge geschoben. Wenn sich Literaturbegeisterte intensiv in einer Bibliothek oder Buchhandlung umschauen, haben sie davon viel mehr als von einem Besuch der großen Buchmessen.

 

Ist der Besuch der Frankfurter Buchmesse für Sie mehr Lust oder Last?

Es ist persönliches Interesse – ich will nicht sagen Eitelkeit, aber man schaut schon, wie die eigenen Bücher präsentiert werden. Vor allem natürlich bei Neuerscheinungen. Was mich am meisten zu den Buchmessen zieht, ist der Kontakt zu den Autorenkollegen. Man hat sonst selten Gelegenheit, sich mit ihnen auszutauschen, und das geht dann bis hin zu technischen Details: Wie viel Prozent kriegst du eigentlich fürs Taschenbuch? Das ist ja auch wichtig.

 






Themen-Dossiers

»Das Fernsehen aber hasse ich« - Kinderbuchautor Paul Maar im Gespräch

Kinderbuchautor Paul Maar
Paul Maar beim Interview: »Ich ärgere mich über jede Nachricht maßlos, dass wieder mal eine Bibliothek zugemacht wird.« Foto: Bernd Schleh

Paul Maar ist einer der bekanntesten deutschen Kinderbuchautoren. Seine Bücher sind in einer Millionenauflage erschienen und in über 30 Sprachen übersetzt. Mit seinen Theaterstücken für Kinder gehört er zu den meistgespielten lebenden Autoren des Landes. Darüber hinaus betätigt sich der 75-Jährige als erfolgreicher Übersetzer, Illustrator und Drehbuchschreiber. Mit Sams und Co. hat Paul Maar Generationen von Kindern zum Lesen gebracht. Im Interview mit BuB-Redakteur Bernd Schleh erklärt er, wieso das Lesen so wichtig ist, weshalb sich seine Kultfigur Lippel der Träumer im Kinderbuch ganz anders verhält als im Kinofilm und warum sich Kinder – und Erwachsene – auch mal langweilen sollten. Zur bevorstehenden Buchmesse in Frankfurt hat sich der erfahrene Schriftsteller und Literaturkenner ebenfalls deutlich geäußert: »Wenn sich Literaturbegeisterte intensiv in einer Bibliothek oder Buchhandlung umschauen, haben sie davon viel mehr als von einem Besuch der großen Buchmessen.«

 

BuB: Herr Maar, beginnen wir gleich mit der schwierigsten Frage: Was ist eigentlich ein gutes Kinderbuch?

Paul Maar: Darüber könnten wir stundenlang reden. Ich versuche, es ganz kurz mit einem Vergleich zu erklären: Es gibt in der Psychiatrie genau einen sicheren Nachweis für eine endogene Depression; die Erkrankung liegt vor, wenn das Medikament Lithium wirkt. Entsprechend gibt es genau einen untrüglichen Nachweis für ein gutes Kinderbuch: Es ist dann gut, wenn die Kinder es lieben. So einfach ist das.

 

Ist es ganz egal, was Kinder lesen – Comic, Manga, Handbuch für den PC oder »Sagen des klassischen Altertums« –– Hauptsache sie lesen?

Das würde ich so nicht sagen. Wenn das Lesen nur darin besteht, die Gebrauchsanweisung für das neue Handy zu entziffern, dann ist das ein bisschen wenig. Wichtig ist schon, dass die Kinder Geschichten lesen, dass sie sich in andere Welten versetzen, dass sie etwas Neues erfahren und vor allem auch neue Gefühle erleben.

 

Und der Comic als Einstieg?

Ganz klar kann es auch beim Lesen eine Entwicklung geben. Als Kind habe ich zunächst Groschenromane vom Kiosk gelesen, dann kam ich zu Karl May; irgendwann wurde auch das langweilig und es ging noch eine Stufe höher. Ich denke, dass Kinder, die mit Asterix und Obelix anfangen, ganz bestimmt auch zu Büchern greifen werden. Man sollte den Kindern nicht sagen, dass es falsch ist, schlichte Literatur zu lesen und ihnen nicht das gute Kinderbuch vorschreiben. Man muss ihnen die Chance lassen, sich selbst weiterzuentwickeln. Gute Angebote darf man ihnen dabei selbstverständlich machen.

 

Warum ist das Lesen so wichtig?

Fachleute sagen meistens, dass Lesen die Kreativität fördert. Das stimmt, aber es ist ein Gemeinplatz. Ich finde es viel bedeutender, dass Lesen die emotionale Intelligenz fördert. Ein Kind muss erst mal lernen, die Gesten und Gedanken eines anderen Menschen zu deuten. Es muss die, wie der Psychologe sagt, Spiegelzellen aktivieren, und das geschieht ganz stark durch den Leseprozess und das Aufnehmen von Geschichten, dadurch, dass sich das Kind in die Figuren der Geschichte hineinversetzt und die Gedanken und Gefühle des anderen mit- und nachempfindet. Das sind ganz elementare Erfahrungen und Lernprozesse. Hinzu kommt natürlich, dass es gerade im Internetzeitalter enorm wichtig ist, gut und schnell lesen zu können. Die Schere zwischen Schülern, die kaum lesen können und denen, die gut lesen können, geht immer weiter auseinander. Das ist eine große Gefahr. Schulabsolventen, die halbe Analphabeten sind, werden sich in unserer Gesellschaft kaum behaupten und durchsetzen können. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass Kinder schon in der Grundschule Freude am Lesen entwickeln.

 

Das ist gar nicht so einfach. Kindern steht heute ein riesiges Medienangebot zur Verfügung. Wie kann man sie da ausgerechnet für das Lesen begeistern?

Der beste Weg zum Lesen führt über das Erzählen. Voraussetzung dafür ist, dass Kinder in einigermaßen intakten Familien leben, in denen es Familienmitglieder gibt, die ihnen Geschichten erzählen oder vorlesen; das setzt bei den Kindern einen Wahrnehmungsprozess in Gang, formatiert gewissermaßen deren Gehirn. Ein Kind kann noch gar nicht wissen, was eine Geschichte ist. Es kennt Dialoge, Fragen, Anweisungen im Kindergarten –, aber das sind keine Geschichten. Eine Geschichte ist ein in sich abgeschlossenes Ganzes, sie hat, wenn sie gut ist, einen Anfang, einen Höhepunkt an der richtigen Stelle und einen runden Schluss. Aber dafür muss das Kind erst ein Muster im Gehirn bilden. Ist das erfolgreich angelegt, dann wird es geschichtenhungrig und will immer mehr hören.

 

Welche Rolle spielt die Erzähl- beziehungsweise Vorlesesituation?

Eine ausgesprochen wichtige: Wenn ein Vater oder eine Mutter sich beim Vorlesen oder Erzählen ganz dem Kind widmet, sich die beiden vielleicht noch zusammenkuscheln, dann entsteht eine ganz warme Emotion – und dieses Gefühl verbindet sich mit der Geschichte. Das heißt, Geschichten und Lesen werden dann immer als angenehm empfunden. Wenn diese frühkindliche Prägung da ist, dann besteht überhaupt keine Gefahr, dass Kinder später nicht lesen. Sie werden dieses schöne Gefühl wiederhaben wollen und deshalb gerne selber zu Büchern greifen.

 

Bei Computerspielen, Fernsehserien und Hörspielen wechseln die Reize in der Regel im Minutentakt. Da können die »langsamen« Bücher kaum mithalten. Werden sie trotzdem überleben?

Das Buch wird auf jeden Fall überleben, davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Ich erläutere das an einem Beispiel: Es gab vor 20 Jahren genau hier in Tübingen eine hitzige Diskussion über Kinder- und Jugendtheater. Die Theoretiker auf dem Podium hatten erklärt, die Kinder würden jetzt alle die Sesamstraße und andere Fernsehsendungen ansehen. Die seien so schnell geschnitten, da müsse sich das Theater unbedingt anpassen, mit kurzen Szenen, schnellen Wechseln und viel Musik. Das war  meiner Meinung nach der völlig falsche Weg. Man muss den elektronischen Medien genau das entgegenhalten, was sie nicht bieten können.

 

Sie sind auch Theaterautor. Haben Sie das bei Ihren eigenen Stücken so gemacht?

Ja, ich habe das ausprobiert. Vor vielen Jahren schrieb ich das Theaterstück »Die Reise durch das Schweigen«. Das geht extrem langsam los. Eine Amme sitzt auf der Bühne und strickt und fängt an, eine Geschichte zu erzählen. Nach und nach kommen die anderen Figuren aus dem Dunkel. Das Stück wurde im Morgenstern-Theater vor Schülern einer »Brennpunkt-Schule« in Berlin aufgeführt. Die Schüler waren schon beim Eintreten ins Theater ziemlich aggressiv und haben einen Mitschüler gleich gegen die Heizung geschmissen. Ich dachte, oh Gott, wie wird das mit diesem ruhigen Stück wohl ausgehen? Vielleicht waren die noch nie im Theater? Dann wurde es dunkel und das Schauspiel ging los. Es war wie ein kleines Wunder: Die Schüler blieben während der ganzen Vorstellung still und haben aufmerksam zugehört und zugeschaut. Ich hatte das Gefühl, sie haben die Vorstellung genossen, sie haben es geschätzt, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, ihnen eine interessante Geschichte auf einfache Weise zu erzählen.

 

Literatur und Theater stehen als Kunstformen außer Frage. Ihre Figuren und Geschichten tauchen aber auch im Kino und Fernsehen auf.

Ja, und ich finde, es gibt immer noch einen riesigen Unterschied zwischen Kino und Fernsehen. Fernsehen ist viel dekonzentrierender. Da sitzt das Kind nachmittags auf dem Sessel, es isst etwas und nebenbei läuft ein Film im Fernseher, dann geht es in die Küche und holt einen Saft, es kehrt zurück, schaut weiter, obwohl es schon etwas von der Handlung verpasst hat – dann kommt auch noch Werbung. Wenn man das Kind hinterher fragt, was es gesehen hat, dann kann es, wenn überhaupt, nur einzelne Szenen wiedergeben. Der Zusammenhang der Geschichte fehlt komplett. Im Kino dagegen ist man in einer großen Gemeinschaft, zu Beginn des Filmes wird es dunkel, die Konzentration wächst und dann erscheint das große Bild und die Filmmusik und man spürt die Emotionen, auch um einen herum. Kino ist eine eigene Kunstform wie die Literatur und das Theater, das Fernsehen aber hasse ich.

 

Nochmal zurück zur Literatur: Bei Kinder- und Jugendbüchern erleben wir derzeit eine wahre Titelflut. Das Angebot ist für Kinder – und Eltern – unüberschaubar.

Auch für Autoren ist das Angebot inzwischen nicht mehr zu überblicken. Was ich momentan mit besonderem Unbehagen sehe ist der Umstand, dass sich an ein erfolgreiches Genre sofort weitere Autoren und vor allem Verlage anhängen. Noch vor zehn Jahre hätte ich die Bücher der einzelnen Verlage an Aufmachung und Titel erkennen und unterscheiden können, auch ohne das Verlagsemblem zu sehen. Heute haben alle Bücher schwarze Umschläge, Totenköpfe, Schwerter, Vampire, Schlangen. Diese Fantasy-Welle überschwemmt den Buchmarkt. Man fragt sich auch als Autor: Gibt es eigentlich nichts anderes mehr? Sich hier zurecht zu finden, ist wirklich sehr schwer.

 

Einerseits werden immer mehr Kinderbücher verkauft, anderseits wird berichtet, dass die Kinder immer weniger lesen. Wie passt das zusammen?

Ich frage mich auch, wo die ganzen Bücher hingehen. Meine Theorie: Die Kinder, die gerne lesen, lesen heute prozentual viel viel mehr als beispielsweise noch vor 30 Jahren und lassen sich dann auch zu allen Gelegenheiten Bücher schenken. Sie lesen schneller, weil sie in der Entwicklung weiter sind als Gleichaltrige vor 30 Jahren.

 

Brauchen die Kinder heute auch andere Bücher als ihre Altersgenossen vor 30 Jahren?

Lebenswelt und Medienangebot haben sich in den vergangenen Jahren rasch geändert, aber das sind eigentlich nur Äußerlichkeiten. In meine Bücher haben auch PC und andere elektronische Medien hineingefunden, aber das ist Beiwerk, das gibt die Atmosphäre wieder. Wesentlich sind die Grunderfahrungen der Menschen beziehungsweise Kinder, und die haben sich in 30 Jahren nicht geändert.

 

Können Sie ein Beispiel geben?

Ein Junge liegt abends im Bett und kann nicht einschlafen. Er hört, wie seine Eltern im Wohnzimmer ganz laut streiten. Die Gedanken dieses Jungen: Werden sie sich trennen? Bin ich dann allein? Muss ich zu Papa oder zu Mama? Das ist eine existenzielle Situation für ein Kind, die es so immer gegeben hat und immer geben wird. Insofern gibt es bestimmte grundlegende Themen, die immer aktuell bleiben. Zum Beispiel gehört dazu auch die Stellung in der Geschwisterreihe; der Erstgeborene darf immer mehr, das Nesthäkchen wird verhätschelt. Solche Konstellationen sind zeitlos, man kann sie als Autor immer beschreiben – da spielt es keine Rolle, ob nebenbei noch iPod und iPad vorkommen.

 

Gehen Sie angesichts der bunten Medienvielfalt inzwischen anders an die Entwicklung eines Buches oder Theaterstücks heran als zu Beginn Ihrer Karriere?

Ja und nein. Zuerst ist auf jeden Fall die Geschichte da. Und ich kann Ihnen sagen: Je älter man wird, desto schwieriger ist es, dass einem ununterbrochen gute Geschichten sozusagen aus dem Gedächtnis purzeln. Ich habe gelegentlich das Gefühl, dass ich das ein oder andere schon einmal beschrieben habe. Man fragt sich: Was gibt es eigentlich noch Neues? Hat man dann eine gute Geschichte, denkt man natürlich umso eher, dass man daraus vielleicht mehr als ein Buch machen könnte: ein gutes Hörspiel, wenn man daran noch ein bisschen was ändert. Und wenn sich daraus auch noch ein Film entwickeln lässt, umso besser.

 

Hörbuch und Film, sind das nur Abwandlungen des Buches oder schon wieder neue Geschichten?

Gerade bei Filmdrehbüchern stellt sich häufig heraus, dass sie doch erheblich vom Originalbuch abweichen. Es ist gewissermaßen so, wie wenn ich eine Geschichte noch mal neu schreiben darf. Ganz extrem war das bei der Verfilmung meines Buches »Lippels Traum«. Das Buch war 20 Jahre alt, als wir das Drehbuch geschrieben haben – und wir haben vieles, ja Entscheidendes, ganz anders erzählt.

 

Zum Beispiel?

Lippels Eltern sind weggefahren und haben ihn in der Obhut von Frau Jakob gelassen. Im Buch ist es so, dass nun eine nette Nachbarin kommt und diese Frau Jakob vertreibt. Die Botschaft für die Kinder lautet also: Wenn du in Not bist, auch psychisch, warte ab und vertraue darauf, dass von außen Hilfe kommt. Das schien mir nicht mehr das richtige Rezept für Kinder heute zu sein. Im Film schaffen es die Kinder deshalb alleine, durch Fantasie und Initiative, diese Frau Jakob aus der Wohnung zu vertreiben. Das heißt, die Botschaft ist hier: Wenn du Probleme hast, werde aktiv, entwickle Fantasie, dann findest du einen Weg, um da rauszukommen. Der Film ist viel weiter als damals das Buch.

 

Welche Bedeutung hat die Fantasie in der Entwicklung eines Kindes?

Die Fantasie ist unglaublich wichtig. Alles was neu geschaffen wird, entsteht schließlich erst mal in der Fantasie.

 

Können Kinder sich langweilen?

Ja, Kinder können sich schon langweilen – und das sollen sie manchmal auch, weil es wiederum die Fantasie fördert. Kinder finden sehr schnell wieder etwas, mit dem sie sich sinnvoll beschäftigten können. Es wäre schön, wenn sich auch die Erwachsenen mehr langweilen könnten. Mein Arzt hat mir gesagt, die beste Art von Erholung sei die, bei der man sich langweile. Das deckt sich mit meiner Erfahrung: Wenn man sich beispielsweise im Urlaub gelangweilt hat, ist man garantiert viel besser erholt, als wenn man ständig aktiv war.

 

Viele Kinder bekämpfen heute ihre Langeweile am Computer. Das erste Sams-Buch ist auch als PC-Spiel erschienen, war das ein Fehler?

Das erste Sams-Buch habe ich selbst als PC-Spiel gestaltet. Ich habe mir die ganzen Spiele und Aktionen ausgedacht – und dafür reichlich Proteste von Eltern erhalten. Viele sagten: Wir versuchen, unser Kind vom PC wegzulocken und zum guten Buch zu bringen und ausgerechnet Sie als Autor machen nun ein PC-Spiel. Aber die Aufgabe und die neuen technischen Möglichkeiten haben mich als Autor und kreativer Mensch einfach gereizt. Den Eltern habe ich entgegnet, ob es nicht besser sei, die Kinder einen Nachmittag in der Woche mit dem Sams am PC spielen zu lassen, als sie ständig brutalen PC-Gewaltspielen zur überlassen. Es ist doch schöner, wenn sich Kinder darüber freuen, dass beim Sams der Taucheranzug platzt, als wenn Menschen abgeschossen werden. Das war gewissermaßen ein Gegenprogramm. Aber ich habe es nur einmal gemacht.

 

Zuhause können Eltern einen geschützten Raum schaffen – doch früher oder später werden Kinder mit der Medien- und Technikwelt konfrontiert. Wie soll man Kinder darauf vorbereiten?

Die Medienwelt gehört zum Leben dazu. Man kann und soll Kinder davon nicht dauerhaft fernhalten. Das hat noch nie funktioniert. Dazu ein historisches Beispiel: Als die allgemeine Schulpflicht kam und die Kinder alle lesen konnten, wurden massenhaft billige Kindergeschichten, Sagen und Märchen in einfach gemachten Heften auf den Markt geworfen. Sofort gab es in der Pädagogik eine starke Bewegung, die angesichts dieser Entwicklung allen Ernstes forderte, man müsse den Kindern das Lesen verbieten. Ihre Argumente waren: Das Lesen würde die Fantasie der Kinder verderben. Die Kinder sollten arbeitsam sein und moralisch und nicht in andere Welten entfliehen. Obwohl die Pädagogen für starken Gegenwind sorgten, setzten sich die Kinder durch: Sie haben einfach gelesen, weil es ihnen Spaß machte. Und wenn nun die Pädagogen vor den Computerspielen warnen, dann wird es so sein, dass sie mit ihren Argumenten diesmal zwar recht haben – im Gegensatz zu den Leseverbietern –, aber die Kinder werden sich auch hier durchsetzen. Die Entwicklung geht einfach weiter, und Verbote bringen gar nichts. Man kann allenfalls versuchen, diese Entwicklung zu steuern.

 

Im Frühjahr dieses Jahres gab es auch in unserer Zeitschrift eine heftige Diskussion über die verbale Political Correctness von Kinderbüchern. Wie ist Ihr Standpunkt?

Das ist ein zwiespältiges Thema. Dass damals der Oetinger-Verlag, also mein Verlag, bei Astrid Lindgren den Negerkönig durch einen Südseekönig ersetzt hat, finde ich in Ordnung, weil das einfach logischer ist. Im Pazifik gibt es keine »Schwarzen« und damit auch keinen Negerkönig. Am Anfang war ich also eher dafür, dass man diese Begriffe austauscht. Doch dann hat mir ein Argument meiner Autorenkollegin Christine Nöstlinger zu diesem Thema gut eingeleuchtet: Sie sagte, sie ärgere sich maßlos über dieses Verlangen der Säuberung bei Kinderbüchern. Sie könnte tausend Beispiele, von Goethe bis Kant, für Begriffe anführen, die heute nicht mehr denkbar seien, und niemand käme auf die Idee, sie bei diesen Autoren austauschen zu wollen – weil es ja die hehre Erwachsenenliteratur sei. Kinderliteratur dagegen habe ja nur eine pädagogische Bedeutung und sei nur Literatur zweiter Klasse. Aber Kinderliteratur ist natürlich genauso Literatur, und es geht überhaupt nicht, dass man hier nachträglich Texte verändert.

 

Gibt es in Ihren ersten Büchern auch Ausdrücke oder Passagen, die Sie so heute nicht mehr veröffentlichen würden?

Ich muss mir da selber keine Vorwürfe machen, weil weder Neger noch Zigeuner in meinen Büchern vorkommen. Nein, aus politischen Gründen würde ich sicher nichts ändern. Stilistisch manchmal schon. Wenn ich aus meinen älteren Büchern lese, dann denke ich gelegentlich, ich hätte aus einem langen Nebensatz besser zwei kurze Sätze gemacht.

 

Welche Rolle haben Bibliotheken in Ihrem Leben gespielt?

Eine ganz große Rolle hat die Bibliothek des Amerikahauses Schweinfurt gespielt. Zu meiner Kinder- und Jugendzeit gab es dort noch keine Stadtbücherei, nur kleine Leihbibliotheken, die Bücher gegen Geld verliehen. Die kostenlose Bibliothek des Amerikahauses war für mich eine Offenbarung. Da bin ich regelmäßig hingegangen und habe meine Tasche voll mit Büchern geladen.

 

Braucht man Bibliothekare überhaupt noch, wenn heute alles im Netz steht?

Wir brauchen sie auf jeden Fall, genauso wie wir gute Buchhändler brauchen. Eine sorgfältige und umfassende Beratung kann durch das Internet nicht annährend ersetzt werden.

 

Politiker bezeichnen Deutschland gerne als Bildungsland. Trotzdem werden hierzulande wöchentlich Bibliotheken geschlossen. Wie passt das zusammen?

Überhaupt nicht. Ich ärgere mich über jede Nachricht maßlos, dass wieder mal eine Bibliothek zugemacht wird.

 

Das Angebot an digitalen Medien nimmt stetig zu. In vielen wissenschaftlichen Bibliotheken wird bereits mehr als die Hälfte des Etats für elektronische Bücher ausgegeben. Stirbt das gedruckte Buch aus?

Ich hoffe nicht. Es ist schon etwas anderes, ob ich einen E-Reader oder ein gedrucktes Buch in die Hand nehme. Das Buch riecht, der Leser hört es knacken, wenn er es das erste Mal aufschlägt, es ist ein angenehmes haptisches Gefühl. Aber ich muss gestehen, ich habe auch ein iPad, auf das ich vor dem Urlaub vier bis fünf Bücher lade. Das ist einfach praktisch – lieber sind mir dennoch die echten Bücher.

 

Wo ist das konkrete Interesse für Literatur größer, bei einem Lesefest wie hier in Tübingen oder bei den großen kommerziellen Buchmessen in Frankfurt oder Leipzig?

Der Unterschied ist, dass bei den kommerziellen Messen die Erwachsenen dominieren: Buchhändler, Verleger, Bibliothekare und andere Fachleute, die sich die Neuerscheinungen anschauen wollen. Kinder können am Wochenende ein bisschen schauen und blättern, das ist für sie eigentlich uninteressant. Viel spannender ist das Lesefest hier in Tübingen, wo die Kinder bei Lesungen begeistert zuhören, sich Bücher signieren lassen und wo man auch ein echtes Interesse am Buch und an einer Geschichte spürt. Das ist in Frankfurt nicht so, da wird man mehr oder weniger von der Besuchermasse durch die Gänge geschoben. Wenn sich Literaturbegeisterte intensiv in einer Bibliothek oder Buchhandlung umschauen, haben sie davon viel mehr als von einem Besuch der großen Buchmessen.

 

Ist der Besuch der Frankfurter Buchmesse für Sie mehr Lust oder Last?

Es ist persönliches Interesse – ich will nicht sagen Eitelkeit, aber man schaut schon, wie die eigenen Bücher präsentiert werden. Vor allem natürlich bei Neuerscheinungen. Was mich am meisten zu den Buchmessen zieht, ist der Kontakt zu den Autorenkollegen. Man hat sonst selten Gelegenheit, sich mit ihnen auszutauschen, und das geht dann bis hin zu technischen Details: Wie viel Prozent kriegst du eigentlich fürs Taschenbuch? Das ist ja auch wichtig.

 



Die Bub-App

Kennen Sie schon unsere BuB-App?

Die BuB-App bietet Ihnen neben den umfangreichen Informationen der gedruckten BuB-Ausgabe zahlreiche Zusatzfunktionen: Videos, Foto-Galerien, interaktive Karten, Direktlinks und vieles mehr.

Mehr erfahren

Nachricht nicht gefunden?
Kein Problem, nutzen Sie unser Archiv

Nach oben