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Chancengleichheit – Zur Rolle der Bibliothek in der Gesellschaft

Kinder tragen eine Weltkugel
Kinder, große Weltkugel Abbildung: Rudie - Fotolia.com
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In den vergangenen Jahrzehnten waren die bibliothekarischen Debatten und Entwicklungen in Deutschland geprägt vor allem von zwei Themenkomplexen: (a) von der Notwendigkeit, den Betrieb der Einrichtungen durch Entwicklung und Einsatz moderner Managementmethoden effizienter zu gestalten und (b) von den Herausforderungen, die aus der längst nicht vollendeten digitalen Revolution und der darauf beruhenden weltweiten Vernetzung durch das Internet resultieren.

 

Deutlich in den Hintergrund gerückt ist demgegenüber (mindestens in Deutschland) die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle und dem Wertbezug von Bibliotheken. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass IT und Management in Bibliotheken möglichst nutzbringend eingesetzt werden sollen. Dieser Einsatz darf jedoch nicht zum Selbstzweck werden, sondern muss immer in Bezug zu den übergeordneten bibliothekarischen Grundfunktionen und Werten gestellt werden (vgl. Gorman 2012, S. 114), wenn Bibliotheken nicht ihre Identität und damit ihre singuläre Rolle in der Gesellschaft verlieren sollen.

 

Eine befriedigende Antwort auf die Frage, ob und in welchem Maße die Förderung von Chancengleichheit zum Aufgabenprofil der Bibliotheken gehört, kann nur erfolgen, wenn Klarheit darüber herrscht, was denn eigentlich deren gesellschaftliche Grundfunktionen sind und welchen Werten bibliothekarisches Handeln verpflichtet sein sollte.

Grundfunktionen der Öffentlichen Bibliothek

Ohne Zweifel gibt es hinsichtlich der Grundfunktionen Öffentlicher und wissenschaftlicher Bibliotheken zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber eben auch nennenswerte Unterschiede. Damit die Überlegungen stärker gebündelt werden können, soll es im Folgenden vorwiegend um Öffentliche Bibliotheken gehen. Im Wesentlichen lassen sich deren Aufgaben in vier Gruppen zusammenfassen (vgl. IFLA/UNESCO Public Library Manifesto 1994; vgl. Rösch 2012):

  • Bildungsfunktion: Leseförderung, Förderung von Informationskompetenz, Informationsversorgung zur beruflichen Fort- und Weiterbildung, Unterstützung individueller Bildungsbestrebungen…
  • Kulturelle Funktion: Förderung kultureller Bildung, Vermittlung von Medien zu Unterhaltungszwecken und zur Freizeitgestaltung...
  • Politische Funktion: Demokratieförderung, Partizipationsförderung, informationelle Grundversorgung, Bemühen um Pluralismus und Neutralität des Medien- und Informationsangebotes, Qualitätsanspruch...
  • Soziale Funktion: Inklusion von Migranten und Minderheiten, Emanzipation von Benachteiligten, Unterstützung bei der Alltagsbewältigung, Treffpunkt...

Auch wenn die Aufzählung der einzelnen Handlungsfelder sicher nicht vollständig ist, dürften die Aussagen im Zusammenhang mit Bildung und Kultur kaum auf Widerspruch stoßen. Zu den beiden übrigen Gruppen sind hingegen klärende Erläuterungen unausweichlich. Mit politischer Funktion ist selbstverständlich nicht gemeint, dass mittels Bibliotheken in alle möglichen gesellschaftlichen Debatten eingegriffen wird. Vielmehr muss es darum gehen, im Bestand und dem sonstigen Informationsangebot die konkurrierenden Auffassungen ohne Parteinahme zu repräsentieren.

 

[caption id="attachment_2004" align="alignleft" width="300"]Kinder tragen eine Weltkugel Bibliotheken haben das Potenzial, einen Beitrag zur Inklusion (»interkulturelle Bibliothek«) oder zur Unterstützung benachteiligter Menschen zu leisten.
Abbildung: Rudie - Fotolia.com[/caption]

 

Und genau darin besteht die politische Funktion. Nur wenn es Einrichtungen (wie eben Bibliotheken oder öffentlich-rechtlichen Rundfunk) gibt, deren Informationsangebot weder von wirtschaftlichen Zwängen noch von weltanschaulichen und politischen Einseitigkeiten geprägt ist, haben Bürgerinnen und Bürger (aller Schichten) die Chance, sich unvoreingenommen zu informieren, um sich an gesellschaftlichen Diskursen und demokratischer Willensbildung zu beteiligen.

 

Ein Paradox besteht allerdings darin, dass Bibliotheken nur dann pluralistisch und neutral informieren können, wenn bestimmte Voraussetzungen gewährleistet sind: Dazu gehören etwa Meinungs- und Informationsfreiheit, Zensurfreiheit oder Datenschutz. Wenn diese Grundwerte bedroht sind, sollten sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare gemeinsam mit ihren Interessenverbänden allerdings vehement engagieren, denn ohne diese Rahmenbedingungen können Bibliotheken ihre politische Funktion nicht wahrnehmen.

 

Auch hinsichtlich der sozialen Funktion bedarf es der Präzisierung, um Missverständnisse zu vermeiden. Bibliotheken haben das Potenzial, einen Beitrag zum Beispiel zur Inklusion (»interkulturelle Bibliothek«) oder zur Unterstützung benachteiligter Menschen zu leisten. Sie

 

können dabei natürlich nicht die Aufgaben von Sozialarbeitern, Therapeuten, Lehrern und anderen übernehmen. Ihr Beitrag besteht logischerweise aus typisch bibliothekarischen Angeboten. Im Rahmen zielgruppenspezifischer Angebote stellen sie besondere Medien und Dienstleistungen bereit. Dadurch wird es den Angehörigen der jeweils entsprechenden Gruppe erleichtert, Bildungsangebote wahrzunehmen und ihre beruflichen und sozialen Chancen zu verbessern. Sowohl aus der politischen wie auch aus der sozialen Funktion lässt sich für Öffentliche Bibliotheken der Auftrag ableiten, zur Förderung von Chancengleichheit beizutragen.

Grundwerte der Öffentlichen Bibliothek

In der Wahrnehmung ihrer verschiedenen Funktionen, die selbstverständlich dienstleistungsorientiert und ohne oberlehrerhafte Bevormundung erfüllt werden müssen, stützen sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare auf eine Reihe von Grundwerten (vgl. dazu auch Gorman 2000). Auf internationaler Ebene sind diese breit diskutiert und im IFLA-Ethikkodex zusammengestellt worden (vgl. IFLA-Ethikkodex 2012). Es würde zu weit führen, den Ethikkodex an dieser Stelle im Detail zu behandeln und auf Werte wie Informationsfreiheit, Datenschutz, persönliche Integrität et cetera einzugehen. Herangezogen werden sollen jedoch die Passagen, die im Kontext von Chancengleichheit aussagekräftig sind.

 

Bibliotheken verfolgen laut IFLA-Ethikkodex explizit das Ziel, »Inklusion zu fördern« und »Diskriminierung zu beseitigen«. Dafür garantieren sie, »dass das Recht auf Zugang zu Informationen nicht verweigert wird und dass identische Dienstleistungen für jeden zugänglich sind – unabhängig von Alter, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeugung, körperlichem oder geistigem Vermögen, Geschlechtsidentität, Kulturzugehörigkeit, Bildung, Einkommen, Einwanderungs- oder Asylantragsstatus, Familienstand, Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder sexueller Orientierung«.  Das Gleichbehandlungsgebot  wird also hier nicht bloß als formale Vorgabe verstanden, sondern hat instrumentellen Charakter.

 

Auch die Pflicht, Informationsfreiheit für alle zu gewährleisten, ist konkreten Zwecken zugeordnet: jenen »der persönlichen Entwicklung, Bildung, kulturellen Bereicherung, Freizeitgestaltung, Wirtschaftstätigkeit, der informierten Teilnahme an demokratischen Prozessen sowie der Festigung demokratischer Strukturen«. In dem »Verantwortung gegenüber Einzelnen und der Gesellschaft« überschriebenen Abschnitt werden auch Leseförderung und Förderung von Informationskompetenz ausdrücklich erwähnt. Demnach bieten Bibliotheken »Dienstleistungen zur Förderung der Lesefähigkeit an. Sie fördern die Informationskompetenz, einschließlich der Fähigkeit, Informationen zu identifizieren, zu lokalisieren, zu bewerten, zu ordnen, zu erzeugen, zu nutzen und zu kommunizieren.« Auch die ethische Reflexion über die bibliothekarischen Grundwerte ergibt eindeutig, dass Öffentliche Bibliotheken zur Förderung von Chancengleichheit verpflichtet sind.

Öffentliche Bibliothek und Chancengleichheit

Bibliotheken können Chancengleichheit unter anderem durch zielgruppenspezifische Angebote verbessern. Adressaten sind etwa Menschen mit körperlichen Benachteiligungen (zum Beispiel Sehbehinderte und Blinde oder Gehörlose und Hörbehinderte), aber auch solche, die aus einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten stammen (zum Beispiel Arbeitslose oder funktionale Analphabeten) oder solche die aufgrund ihres Migrationshintergrundes benachteiligt sind.

 

Die Maßnahmen bestehen im Einzelnen aus besonderen Medienbeständen, spezifischen Dienstleistungen wie etwa zielgruppenorientierten Kursangeboten zur Förderung von Lese- und Informationskompetenz und weiteren Veranstaltungen. In den 1970er- und 1980er-Jahren haben Öffentliche Bibliotheken in Deutschland sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie sie Benachteiligten zu mehr Chancengleichheit verhelfen können. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Ansätze wurden als »Soziale Bibliotheksarbeit« bezeichnet (vgl. etwa Soziale Bibliotheksarbeit 1980 oder vgl. Soziale Bibliotheksarbeit 1982 sowie zahlreiche Beiträge in BuB), »Bibliothek für Alle« zu einem gängigen Konzept (vgl. etwa die vom dbi herausgegebene Zeitschrift gleichen Namens, die von 1984 bis 1999 erschien).

 

Auch wenn 2007 und 2009 nach langer Pause zwei Monografien zum Thema Soziale Bibliotheksarbeit erschienen (vgl. Zugang für alle 2007; vgl. Schulz 2009), haben Begriff und Konzept nicht annähernd eine ähnlich hohe Akzeptanz erreicht wie in den 1970er-Jahren. Die oben angesprochenen Akzentverlagerungen in Richtung IT/Digitale Medien und Management hat dazu sicher auch beigetragen. Dennoch sind Angebote für einzelne Gruppen, die im Rahmen sozialer Bibliotheksarbeit eine große Rolle spielten, auch heute in vielen Bibliotheken präsent. Dazu gehören Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund oder solche für Seniorinnen und Senioren.

Chancengleichheit als politisches und gesellschaftliches Ziel

Bürgerliche Gesellschaften unterscheiden sich von feudalen durch ihre Offenheit. In modernen Gesellschaften ist die gesellschaftliche Stellung nicht qua Geburt und Standeszugehörigkeit festgelegt, sondern wird idealerweise durch Beruf, Leistung und Geschick erworben. Der »American Dream« allerdings, demzufolge es allein von der individuellen Leistungsbereitschaft abhängt, ob aus dem Tellerwäscher ein Millionär wird, ist längst ausgeträumt.

 

In der gesellschaftlichen Realität sind die Auf- und Abstiegschancen auch in modernen Gesellschaften keineswegs gleich verteilt. Gesellschaftliche Eliten tendieren auf subtile Art und Weise dazu, sich zu reproduzieren. Für Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Schichten ist es oft weitaus schwieriger, Bildungsangebote wahrzunehmen, um dadurch eine bessere Stellung im sozialen Gefüge einnehmen zu können, als für andere.

 

»Vertikale Mobilität«, wie es die Soziologien in ihrer nüchternen Fachsprache nennen, ist immer aufs Neue bedroht. Schon in den 1960er-Jahren hat sich die Politik in Deutschland bemüht, Bildungsschranken zu beseitigen, größere Durchlässigkeit zu ermöglichen und vertikale Mobilität zu erleichtern. Chancengleichheit ist in diesem Zusammenhang parteiübergreifend zu einem bildungspolitischen Leitbegriff geworden. Im Zuge der Renaissance neoliberaler Vorstellungen vor allem seit den 1990er-Jahren sind die Ideen der Bildungsreformer jedoch streckenweise in den Hintergrund getreten. Spätestens der sogenannte PISA-Schock hat um 2000 ein neuerliches Umdenken eingeleitet.

 

Soziale Fragmentierung und dauerhafte Benachteiligung aufgrund der Schichtzugehörigkeit oder des Herkunftsmilieus sind nicht nur ungerecht, sondern können zu Massenprotesten und gesellschaftlicher  Destabilisierung führen. Offenbar gibt es auch im politischen System einen weitgehenden Konsens darüber, dass Chancengleichheit zu den Bedingungen funktionierender und prosperierender moderner Gesellschaften gehört. Doch stellt sich Chancengleichheit keineswegs von allein ein; darüber hinaus ist das jeweils erreichte Maß an Chancengleichheit permanent bedroht. Es bedarf daher in Politik und Gesellschaft des beständigen, ernsthaften Strebens nach Erhalt beziehungsweise Ausbau des vorhandenen Grades an vertikaler Mobilität.

 

Das Ringen um Chancengleichheit stellt also ein Dauerproblem dar. Was kann eigentlich Bibliotheken in diesem Kontext Besseres geschehen, als dass sie sich der Politik gegenüber profilieren als Einrichtungen, die im Bemühen um Chancengleichheit einen entscheidenden Beitrag leisten? Bibliotheken haben prinzipiell das Potenzial dazu, der Bedarf ist unumstritten und auch die funktions- und wertbezogene Analyse legt nahe, dass Bibliotheken die Verpflichtung haben, zu den Bemühungen um Verbesserung der Chancengleichheit beizutragen.

 

Ein Blick in die Geschichte lehrt zudem, dass es entsprechende Kontinuitätslinien gibt. In traditionellen Einwanderungsländern wie den USA haben die Public Libraries seit jeher eine integrative und emanzipatorische Funktion. Und auch in Deutschland hatten Volksbüchereien und ihre Vorläufer die Aufgabe, dem Bürgertum und später der Arbeiterschaft durch Bildung zu einer positiven Perspektive in ansonsten oft aussichtsloser Lage zu verhelfen.

 

Zu fragen freilich ist, ob Bibliotheken über ausreichende Ressourcen  (Personal, Finanzmittel) verfügen, um Chancengleichheit in zufriedenstellendem Maße fördern zu können. Aber selbst wenn die Mittel zu knapp sind, (das sind sie fast immer) bieten erfolgreiche Maßnahmen zur Inklusion und zur Förderung Benachteiligter gute Argumente bei Etatverhandlungen. Zudem lässt sich dadurch die öffentliche Wahrnehmung der Institution Bibliothek und ihrer Angebote spürbar steigern. Die Beiträge zur Förderung von Chancengleichheit sollten daher in der bibliothekarischen Praxis höchste Priorität genießen.

Hermann Rösch (aus BuB Heft 2/2014)

(Abbildung: Rudie - Fotolia.com)

 

 

Dr. Hermann Rösch ist Professor am Institut für Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Informationsdienstleistungen, Informationsmittel, Bibliotheksgeschichte, Bibliothekssoziologie und Informationsethik. Seit 2007 ist er Mitglied des IFLA/FAIFE-Komitees.

 

 

Literatur

Bibliothek für alle: Bibliothek für alle. BFA. Informationen über soziale Bibliotheksarbeit. Hrsg. Deutsches Bibliotheksinstitut. Berlin 1984-1999

 

Gorman 2000: Gorman, Michael: Our Enduring Values. Librarianship in the 21st Century. Chicago:  2000

 

Gorman 2012: Gorman, Michael: The Prince’s Dream. A Future for Academic Libraries. In: New Review of Academic Librarianship. 18, 2012, S. 14-126

 

IFLA Ethikkodex 2012: IFLA Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftige. 2012. www.ifla.org/faife/professional-codes-of-ethics-for-librarians#iflacodeofethics (27.11.2013)

 

IFLA/UNESCO Public Library Manifesto 1994: IFLA/UNESCO Public Library Manifesto 1994. http://archive.ifla.org/VII/s8/unesco/eng.htm (4.12.2013)

 

Rösch 2012: Rösch, Hermann: Öffentliche Bibliotheken und ihre Umwelt. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen als Herausforderung bibliothekarischen Handelns . In: Handbuch Bestandsmanagement in Öffentlichen Bibliotheken. Hrsg. Frauke Schade und Konrad Umlauf. Berlin 2012, S. 7-25

 

Schulz 2009: Schulz, Manuela: Soziale Bibliotheksarbeit – Kompensationsinstrument zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin 2009

 

Soziale Bibliotheksarbeit 1980: Soziale Bibliotheksarbeit. Hrsg. Fred Karl. Kassel: Gesamthochschulbibliothek 1980

 

Soziale Bibliotheksarbeit 1982: Soziale Bibliotheksarbeit. Theorie und Praxis. Hrsg. Hugo Ernst Käufer. Berlin: dbi 1982 (dbi-Materialien 18)

 

Zugang 2007: Zugang für alle – soziale Bibliotheksarbeit. Hrsg. Ben Kaden und Maxi Kindling. Berlin 2007






Themen-Dossiers

Chancengleichheit – Zur Rolle der Bibliothek in der Gesellschaft

Kinder tragen eine Weltkugel
Kinder, große Weltkugel Abbildung: Rudie - Fotolia.com
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In den vergangenen Jahrzehnten waren die bibliothekarischen Debatten und Entwicklungen in Deutschland geprägt vor allem von zwei Themenkomplexen: (a) von der Notwendigkeit, den Betrieb der Einrichtungen durch Entwicklung und Einsatz moderner Managementmethoden effizienter zu gestalten und (b) von den Herausforderungen, die aus der längst nicht vollendeten digitalen Revolution und der darauf beruhenden weltweiten Vernetzung durch das Internet resultieren.

 

Deutlich in den Hintergrund gerückt ist demgegenüber (mindestens in Deutschland) die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle und dem Wertbezug von Bibliotheken. Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass IT und Management in Bibliotheken möglichst nutzbringend eingesetzt werden sollen. Dieser Einsatz darf jedoch nicht zum Selbstzweck werden, sondern muss immer in Bezug zu den übergeordneten bibliothekarischen Grundfunktionen und Werten gestellt werden (vgl. Gorman 2012, S. 114), wenn Bibliotheken nicht ihre Identität und damit ihre singuläre Rolle in der Gesellschaft verlieren sollen.

 

Eine befriedigende Antwort auf die Frage, ob und in welchem Maße die Förderung von Chancengleichheit zum Aufgabenprofil der Bibliotheken gehört, kann nur erfolgen, wenn Klarheit darüber herrscht, was denn eigentlich deren gesellschaftliche Grundfunktionen sind und welchen Werten bibliothekarisches Handeln verpflichtet sein sollte.

Grundfunktionen der Öffentlichen Bibliothek

Ohne Zweifel gibt es hinsichtlich der Grundfunktionen Öffentlicher und wissenschaftlicher Bibliotheken zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber eben auch nennenswerte Unterschiede. Damit die Überlegungen stärker gebündelt werden können, soll es im Folgenden vorwiegend um Öffentliche Bibliotheken gehen. Im Wesentlichen lassen sich deren Aufgaben in vier Gruppen zusammenfassen (vgl. IFLA/UNESCO Public Library Manifesto 1994; vgl. Rösch 2012):

  • Bildungsfunktion: Leseförderung, Förderung von Informationskompetenz, Informationsversorgung zur beruflichen Fort- und Weiterbildung, Unterstützung individueller Bildungsbestrebungen…
  • Kulturelle Funktion: Förderung kultureller Bildung, Vermittlung von Medien zu Unterhaltungszwecken und zur Freizeitgestaltung...
  • Politische Funktion: Demokratieförderung, Partizipationsförderung, informationelle Grundversorgung, Bemühen um Pluralismus und Neutralität des Medien- und Informationsangebotes, Qualitätsanspruch...
  • Soziale Funktion: Inklusion von Migranten und Minderheiten, Emanzipation von Benachteiligten, Unterstützung bei der Alltagsbewältigung, Treffpunkt...

Auch wenn die Aufzählung der einzelnen Handlungsfelder sicher nicht vollständig ist, dürften die Aussagen im Zusammenhang mit Bildung und Kultur kaum auf Widerspruch stoßen. Zu den beiden übrigen Gruppen sind hingegen klärende Erläuterungen unausweichlich. Mit politischer Funktion ist selbstverständlich nicht gemeint, dass mittels Bibliotheken in alle möglichen gesellschaftlichen Debatten eingegriffen wird. Vielmehr muss es darum gehen, im Bestand und dem sonstigen Informationsangebot die konkurrierenden Auffassungen ohne Parteinahme zu repräsentieren.

 

[caption id="attachment_2004" align="alignleft" width="300"]Kinder tragen eine Weltkugel Bibliotheken haben das Potenzial, einen Beitrag zur Inklusion (»interkulturelle Bibliothek«) oder zur Unterstützung benachteiligter Menschen zu leisten.
Abbildung: Rudie - Fotolia.com[/caption]

 

Und genau darin besteht die politische Funktion. Nur wenn es Einrichtungen (wie eben Bibliotheken oder öffentlich-rechtlichen Rundfunk) gibt, deren Informationsangebot weder von wirtschaftlichen Zwängen noch von weltanschaulichen und politischen Einseitigkeiten geprägt ist, haben Bürgerinnen und Bürger (aller Schichten) die Chance, sich unvoreingenommen zu informieren, um sich an gesellschaftlichen Diskursen und demokratischer Willensbildung zu beteiligen.

 

Ein Paradox besteht allerdings darin, dass Bibliotheken nur dann pluralistisch und neutral informieren können, wenn bestimmte Voraussetzungen gewährleistet sind: Dazu gehören etwa Meinungs- und Informationsfreiheit, Zensurfreiheit oder Datenschutz. Wenn diese Grundwerte bedroht sind, sollten sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare gemeinsam mit ihren Interessenverbänden allerdings vehement engagieren, denn ohne diese Rahmenbedingungen können Bibliotheken ihre politische Funktion nicht wahrnehmen.

 

Auch hinsichtlich der sozialen Funktion bedarf es der Präzisierung, um Missverständnisse zu vermeiden. Bibliotheken haben das Potenzial, einen Beitrag zum Beispiel zur Inklusion (»interkulturelle Bibliothek«) oder zur Unterstützung benachteiligter Menschen zu leisten. Sie

 

können dabei natürlich nicht die Aufgaben von Sozialarbeitern, Therapeuten, Lehrern und anderen übernehmen. Ihr Beitrag besteht logischerweise aus typisch bibliothekarischen Angeboten. Im Rahmen zielgruppenspezifischer Angebote stellen sie besondere Medien und Dienstleistungen bereit. Dadurch wird es den Angehörigen der jeweils entsprechenden Gruppe erleichtert, Bildungsangebote wahrzunehmen und ihre beruflichen und sozialen Chancen zu verbessern. Sowohl aus der politischen wie auch aus der sozialen Funktion lässt sich für Öffentliche Bibliotheken der Auftrag ableiten, zur Förderung von Chancengleichheit beizutragen.

Grundwerte der Öffentlichen Bibliothek

In der Wahrnehmung ihrer verschiedenen Funktionen, die selbstverständlich dienstleistungsorientiert und ohne oberlehrerhafte Bevormundung erfüllt werden müssen, stützen sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare auf eine Reihe von Grundwerten (vgl. dazu auch Gorman 2000). Auf internationaler Ebene sind diese breit diskutiert und im IFLA-Ethikkodex zusammengestellt worden (vgl. IFLA-Ethikkodex 2012). Es würde zu weit führen, den Ethikkodex an dieser Stelle im Detail zu behandeln und auf Werte wie Informationsfreiheit, Datenschutz, persönliche Integrität et cetera einzugehen. Herangezogen werden sollen jedoch die Passagen, die im Kontext von Chancengleichheit aussagekräftig sind.

 

Bibliotheken verfolgen laut IFLA-Ethikkodex explizit das Ziel, »Inklusion zu fördern« und »Diskriminierung zu beseitigen«. Dafür garantieren sie, »dass das Recht auf Zugang zu Informationen nicht verweigert wird und dass identische Dienstleistungen für jeden zugänglich sind – unabhängig von Alter, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeugung, körperlichem oder geistigem Vermögen, Geschlechtsidentität, Kulturzugehörigkeit, Bildung, Einkommen, Einwanderungs- oder Asylantragsstatus, Familienstand, Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder sexueller Orientierung«.  Das Gleichbehandlungsgebot  wird also hier nicht bloß als formale Vorgabe verstanden, sondern hat instrumentellen Charakter.

 

Auch die Pflicht, Informationsfreiheit für alle zu gewährleisten, ist konkreten Zwecken zugeordnet: jenen »der persönlichen Entwicklung, Bildung, kulturellen Bereicherung, Freizeitgestaltung, Wirtschaftstätigkeit, der informierten Teilnahme an demokratischen Prozessen sowie der Festigung demokratischer Strukturen«. In dem »Verantwortung gegenüber Einzelnen und der Gesellschaft« überschriebenen Abschnitt werden auch Leseförderung und Förderung von Informationskompetenz ausdrücklich erwähnt. Demnach bieten Bibliotheken »Dienstleistungen zur Förderung der Lesefähigkeit an. Sie fördern die Informationskompetenz, einschließlich der Fähigkeit, Informationen zu identifizieren, zu lokalisieren, zu bewerten, zu ordnen, zu erzeugen, zu nutzen und zu kommunizieren.« Auch die ethische Reflexion über die bibliothekarischen Grundwerte ergibt eindeutig, dass Öffentliche Bibliotheken zur Förderung von Chancengleichheit verpflichtet sind.

Öffentliche Bibliothek und Chancengleichheit

Bibliotheken können Chancengleichheit unter anderem durch zielgruppenspezifische Angebote verbessern. Adressaten sind etwa Menschen mit körperlichen Benachteiligungen (zum Beispiel Sehbehinderte und Blinde oder Gehörlose und Hörbehinderte), aber auch solche, die aus einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten stammen (zum Beispiel Arbeitslose oder funktionale Analphabeten) oder solche die aufgrund ihres Migrationshintergrundes benachteiligt sind.

 

Die Maßnahmen bestehen im Einzelnen aus besonderen Medienbeständen, spezifischen Dienstleistungen wie etwa zielgruppenorientierten Kursangeboten zur Förderung von Lese- und Informationskompetenz und weiteren Veranstaltungen. In den 1970er- und 1980er-Jahren haben Öffentliche Bibliotheken in Deutschland sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie sie Benachteiligten zu mehr Chancengleichheit verhelfen können. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Ansätze wurden als »Soziale Bibliotheksarbeit« bezeichnet (vgl. etwa Soziale Bibliotheksarbeit 1980 oder vgl. Soziale Bibliotheksarbeit 1982 sowie zahlreiche Beiträge in BuB), »Bibliothek für Alle« zu einem gängigen Konzept (vgl. etwa die vom dbi herausgegebene Zeitschrift gleichen Namens, die von 1984 bis 1999 erschien).

 

Auch wenn 2007 und 2009 nach langer Pause zwei Monografien zum Thema Soziale Bibliotheksarbeit erschienen (vgl. Zugang für alle 2007; vgl. Schulz 2009), haben Begriff und Konzept nicht annähernd eine ähnlich hohe Akzeptanz erreicht wie in den 1970er-Jahren. Die oben angesprochenen Akzentverlagerungen in Richtung IT/Digitale Medien und Management hat dazu sicher auch beigetragen. Dennoch sind Angebote für einzelne Gruppen, die im Rahmen sozialer Bibliotheksarbeit eine große Rolle spielten, auch heute in vielen Bibliotheken präsent. Dazu gehören Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund oder solche für Seniorinnen und Senioren.

Chancengleichheit als politisches und gesellschaftliches Ziel

Bürgerliche Gesellschaften unterscheiden sich von feudalen durch ihre Offenheit. In modernen Gesellschaften ist die gesellschaftliche Stellung nicht qua Geburt und Standeszugehörigkeit festgelegt, sondern wird idealerweise durch Beruf, Leistung und Geschick erworben. Der »American Dream« allerdings, demzufolge es allein von der individuellen Leistungsbereitschaft abhängt, ob aus dem Tellerwäscher ein Millionär wird, ist längst ausgeträumt.

 

In der gesellschaftlichen Realität sind die Auf- und Abstiegschancen auch in modernen Gesellschaften keineswegs gleich verteilt. Gesellschaftliche Eliten tendieren auf subtile Art und Weise dazu, sich zu reproduzieren. Für Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Schichten ist es oft weitaus schwieriger, Bildungsangebote wahrzunehmen, um dadurch eine bessere Stellung im sozialen Gefüge einnehmen zu können, als für andere.

 

»Vertikale Mobilität«, wie es die Soziologien in ihrer nüchternen Fachsprache nennen, ist immer aufs Neue bedroht. Schon in den 1960er-Jahren hat sich die Politik in Deutschland bemüht, Bildungsschranken zu beseitigen, größere Durchlässigkeit zu ermöglichen und vertikale Mobilität zu erleichtern. Chancengleichheit ist in diesem Zusammenhang parteiübergreifend zu einem bildungspolitischen Leitbegriff geworden. Im Zuge der Renaissance neoliberaler Vorstellungen vor allem seit den 1990er-Jahren sind die Ideen der Bildungsreformer jedoch streckenweise in den Hintergrund getreten. Spätestens der sogenannte PISA-Schock hat um 2000 ein neuerliches Umdenken eingeleitet.

 

Soziale Fragmentierung und dauerhafte Benachteiligung aufgrund der Schichtzugehörigkeit oder des Herkunftsmilieus sind nicht nur ungerecht, sondern können zu Massenprotesten und gesellschaftlicher  Destabilisierung führen. Offenbar gibt es auch im politischen System einen weitgehenden Konsens darüber, dass Chancengleichheit zu den Bedingungen funktionierender und prosperierender moderner Gesellschaften gehört. Doch stellt sich Chancengleichheit keineswegs von allein ein; darüber hinaus ist das jeweils erreichte Maß an Chancengleichheit permanent bedroht. Es bedarf daher in Politik und Gesellschaft des beständigen, ernsthaften Strebens nach Erhalt beziehungsweise Ausbau des vorhandenen Grades an vertikaler Mobilität.

 

Das Ringen um Chancengleichheit stellt also ein Dauerproblem dar. Was kann eigentlich Bibliotheken in diesem Kontext Besseres geschehen, als dass sie sich der Politik gegenüber profilieren als Einrichtungen, die im Bemühen um Chancengleichheit einen entscheidenden Beitrag leisten? Bibliotheken haben prinzipiell das Potenzial dazu, der Bedarf ist unumstritten und auch die funktions- und wertbezogene Analyse legt nahe, dass Bibliotheken die Verpflichtung haben, zu den Bemühungen um Verbesserung der Chancengleichheit beizutragen.

 

Ein Blick in die Geschichte lehrt zudem, dass es entsprechende Kontinuitätslinien gibt. In traditionellen Einwanderungsländern wie den USA haben die Public Libraries seit jeher eine integrative und emanzipatorische Funktion. Und auch in Deutschland hatten Volksbüchereien und ihre Vorläufer die Aufgabe, dem Bürgertum und später der Arbeiterschaft durch Bildung zu einer positiven Perspektive in ansonsten oft aussichtsloser Lage zu verhelfen.

 

Zu fragen freilich ist, ob Bibliotheken über ausreichende Ressourcen  (Personal, Finanzmittel) verfügen, um Chancengleichheit in zufriedenstellendem Maße fördern zu können. Aber selbst wenn die Mittel zu knapp sind, (das sind sie fast immer) bieten erfolgreiche Maßnahmen zur Inklusion und zur Förderung Benachteiligter gute Argumente bei Etatverhandlungen. Zudem lässt sich dadurch die öffentliche Wahrnehmung der Institution Bibliothek und ihrer Angebote spürbar steigern. Die Beiträge zur Förderung von Chancengleichheit sollten daher in der bibliothekarischen Praxis höchste Priorität genießen.

Hermann Rösch (aus BuB Heft 2/2014)

(Abbildung: Rudie - Fotolia.com)

 

 

Dr. Hermann Rösch ist Professor am Institut für Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Informationsdienstleistungen, Informationsmittel, Bibliotheksgeschichte, Bibliothekssoziologie und Informationsethik. Seit 2007 ist er Mitglied des IFLA/FAIFE-Komitees.

 

 

Literatur

Bibliothek für alle: Bibliothek für alle. BFA. Informationen über soziale Bibliotheksarbeit. Hrsg. Deutsches Bibliotheksinstitut. Berlin 1984-1999

 

Gorman 2000: Gorman, Michael: Our Enduring Values. Librarianship in the 21st Century. Chicago:  2000

 

Gorman 2012: Gorman, Michael: The Prince’s Dream. A Future for Academic Libraries. In: New Review of Academic Librarianship. 18, 2012, S. 14-126

 

IFLA Ethikkodex 2012: IFLA Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftige. 2012. www.ifla.org/faife/professional-codes-of-ethics-for-librarians#iflacodeofethics (27.11.2013)

 

IFLA/UNESCO Public Library Manifesto 1994: IFLA/UNESCO Public Library Manifesto 1994. http://archive.ifla.org/VII/s8/unesco/eng.htm (4.12.2013)

 

Rösch 2012: Rösch, Hermann: Öffentliche Bibliotheken und ihre Umwelt. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen als Herausforderung bibliothekarischen Handelns . In: Handbuch Bestandsmanagement in Öffentlichen Bibliotheken. Hrsg. Frauke Schade und Konrad Umlauf. Berlin 2012, S. 7-25

 

Schulz 2009: Schulz, Manuela: Soziale Bibliotheksarbeit – Kompensationsinstrument zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin 2009

 

Soziale Bibliotheksarbeit 1980: Soziale Bibliotheksarbeit. Hrsg. Fred Karl. Kassel: Gesamthochschulbibliothek 1980

 

Soziale Bibliotheksarbeit 1982: Soziale Bibliotheksarbeit. Theorie und Praxis. Hrsg. Hugo Ernst Käufer. Berlin: dbi 1982 (dbi-Materialien 18)

 

Zugang 2007: Zugang für alle – soziale Bibliotheksarbeit. Hrsg. Ben Kaden und Maxi Kindling. Berlin 2007



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