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Ein breites Spektrum – Das Konzept für die moderne Bibliothek in Deutschland und Dänemark

In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstan-en, wie zum Beispiel die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Die Bibliothek ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann. Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur
In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstanden, wie zum Beispiel die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Die Bibliothek ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann. Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur
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Deutschland verfügt über eine so große Zahl und eine so enorme Vielfalt an Bibliotheken, dass es kaum möglich ist, die deutsche Bibliothekslandschaft in einem kurzen Artikel angemessen zu beschreiben. Dies gilt im Besonderen, wenn Sie – wie ich – ein Ausländer sind, der deutsche Bibliotheken besucht, wenn die Gelegenheit dazu besteht und Sie diese stets als Gast betreten. Andererseits bin ich relativ oft in Deutschland, und ich gehe nie an einer Bibliothek vorbei, ohne hineinzuschauen – vorausgesetzt, sie ist geöffnet! Als die Redaktion der Zeitschrift BuB mich freundlicherweise bat, mich dazu zu äußern, was ich an deutschen Bibliotheken positiv finde und was man noch verbessern könnte, hat mich das sehr gereizt, und ich habe zugesagt – entgegen allem rationalen Denken.[1]

Die Frage erregte mein Interesse, weil ich der Überzeugung bin, dass in Deutschland und in Dänemark eine völlig unterschiedliche Auffassung hinsichtlich des modernen Konzepts für Öffentliche Bibliotheken herrscht. In Deutschlands Öffentlichen Bibliotheken stehen viel mehr Bücher in den Regalen als in den dänischen. Und dies hat seinen Grund nicht nur in der Tatsache, dass die deutschen Bibliotheken größer sind als die dänischen und höhere Nutzerzahlen haben. Der Unterschied liegt im Konzept, und das finde ich interessant. Daher möchte ich im Folgenden über einige meiner grundsätzlichen Eindrücke über Öffentliche Bibliotheken berichten.

 

Eine Perlenkette neuer deutscher Bibliotheken

In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstanden. Man kann den Bürgern zu Bibliotheken wie der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, der neuen Stadtbibliothek Stuttgart, der Stadtbibliothek Bielefeld und der Neuen Stadtbücherei Augsburg nur gratulieren, aber auch so einzigartige und herausragende Gebäude wie die neue Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig und der Bücherturm der Medizinischen Fachbibliothek in Düsseldorf sind wirklich fantastisch. Und weitere großartige Bibliotheken sind in Planung. Viele sind zum Beispiel neugierig darauf, wie das Bibliotheksprojekt in Berlin-Tempelhof aussehen wird. Und dies sind nur wenige Beispiele.

Zu einigen dieser Bibliotheken möchte ich Ihnen meine Beobachtungen und Eindrücke schildern: Die Bibliothek in Dortmund scheint als eine Art »Schrittmacher« sehr erfolgreich zu sein. Ebenso wie

 

 

[caption id="attachment_1952" align="alignright" width="300"]Die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund ist ein gutes Beispiel, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt unterstützen kann. In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstanden, wie zum Beispiel die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Die Bibliothek ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann.
Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur[/caption]

eine Reihe anderer Bibliotheken im Ruhrgebiet verleiht sie der Stadt offenbar eine neue Identität. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann. Die ikonografische Architektur macht die Bibliothek zu einem Symbol für die Strategie der »Lernenden Stadt«.

Überaus beeindruckend ist die neue Stadtbibliothek Stuttgart. Hier möchte ich nur einige Bemerkungen über die Architektur und das Design machen. Die Konsequenz bei der Verwendung der Würfelform harmoniert sehr schön mit den klaren Linien und der dominierenden hellen Farbe, die dem Gebäude eine einzigartige physische Identität verleiht. Die Innenraumgestaltung wird von den entlang der Wände angeordneten Regalen beherrscht, was eine Strenge schafft, die nah an der Sterilität liegt und daher das Gefühl verstärkt, sich in einer »Kathedrale« zu befinden. Womöglich ein beabsichtigter Effekt? Offensichtlich kann die Öffentliche Bibliothek ihre Rolle als Begegnungsort erfüllen, wie auch eine Kirche es tut, jedoch lassen sich in einer Bibliothek mehr unterschiedliche Bereiche einrichten, die die Bibliotheksbenutzer auf vielfältigste Arten zum Verweilen einladen.

Einen ganz anderen Eindruck vermittelt die Stadtbibliothek Bielefeld mit ihrer farbenfrohen, freundlichen und attraktiven Innenraumgestaltung. Besonders lobenswert ist die Idee, den riesigen Raum durch die Verwendung der grünen Trennelemente in kleinere Einheiten aufzuteilen. Was die Neue Stadtbücherei Augsburg betrifft, so könnte man hier die Innenraumgestaltung fast als Kompromiss zwischen der Strenge der Stuttgarter Lösung und der heiteren Ausstrahlung der Bielefelder Bibliothek ansehen. Die Beleuchtung und die Fensterkonstruktion der Augsburger Bibliothek sind elegant und raffiniert. Die Möblierung und die Farbe Orange ergeben ein harmonisches Bild und schaffen eine warme Atmosphäre. Auch hier findet der Besucher eine Vielzahl von Sälen und Bereichen für die unterschiedlichsten Aktivitäten, was für mich ein außergewöhnliches Merkmal deutscher Bibliotheken ist.

Alle erwähnten Bibliotheken gleichen heute viel mehr den Bibliotheken der nordischen Länder als dies noch vor 20 Jahren der Fall war. Die Architektur, der Stil und die moderne Innenausstattung sind hell, farbenfroh und einladend. Einfach großartig. Selbst die Möblierung ist im nordischen Stil gehalten, und man sieht gegenwärtig auch viele Möbel in deutschen Bibliotheken, die von dänischen Designern, zum Beispiel Arne Jacobsen, entworfen wurden. Außerdem sind die hier erwähnten Bibliotheken sehr gute Beispiele für Informationszentren, die die neue Welle der »soft cities« unterstützen und den Fokus auf die Bedürfnisse der Menschen nach Entspannung und Kreativität legen. Die neuen Bibliotheken Deutschlands gehen also einen sehr guten Weg.

Das Fazit meiner Betrachtungen einiger spektakulärer neuer Bibliotheken in Deutschland lautet: Bibliotheken sind in einem Wandel begriffen. Nicht nur aufgrund des digitalen Paradigmenwechsels, sondern auch hinsichtlich Funktion, Rolle, Planung und Architektur. Der Wandel vollzieht sich von der Bücherbibliothek der Industriegesellschaft hin zu einem neuen Typ von Einrichtung, die sich auf die heutigen Bedürfnisse und das Benutzerverhalten der Wissensgesellschaft konzentriert. Auf die Frage danach, welches Konzept für diesen neuen Bibliothekstypus gelten soll, gibt es nicht die eine Antwort. Wir sind sehr dankbar, dass sich die modernen deutschen Bibliotheken bemühen und dafür engagieren, hier auf professionelle und überzeugende Weise unterschiedliche Antworten anzubieten.

 

Geht's noch besser?

Auf die Frage der Redaktion, ob die Bibliotheken meiner Ansicht nach etwas verbessern könnten, möchte ich antworten: Es geht nicht darum, »besser« zu werden, aber es gibt – wie ich eingangs bemerkte – einen Unterschied hinsichtlich der bedeutenden Trends bei den Konzepten für moderne Öffentliche Bibliotheken in Deutschland und Dänemark, und die unterschiedlichen Bedingungen führen zu unterschiedlichen Positionen. Wo liegen also diese Unterschiede?

Zunächst einmal muss man feststellen, dass es zwischen den einzelnen deutschen Bibliotheken viel größere Qualitätsunterschiede gibt als bei den dänischen Bibliotheken. Sie finden, besonders in größeren deutschen Städten, überaus gute Bibliotheken, in kleineren Orten hingegen oft Bibliotheken, die hinsichtlich ihres Bestands und ihrer technischen Ausstattung benachteiligt sind. In Dänemark kümmert sich der Staat um die Infrastruktur für die Bibliotheken, und er verwaltet auch das Fernleihsystem und garantiert so, dass jeder Bürger jeden beliebigen Ausleihegegenstand in seiner örtlichen Bibliothek erhalten kann.

Dies ist in den jeweiligen formalen Rahmenbedingungen begründet, und hier ist in erster Linie die Tatsache zu nennen, dass wir in Dänemark seit 1920 ein Gesetz für Öffentliche Bibliotheken haben, das zuletzt im Jahr 2000 überarbeitet wurde. Die wichtigste Regelung ist, dass Öffentliche Bibliotheken dazu verpflichtet werden, den Besuchern Zugang zu allen Arten von Medien einzurichten, einschließlich digitaler Medien. Gleichzeitig wurde beschlossen, eine benutzerfreundliche Oberfläche für den Zugriff auf den nationalen Verbundkatalog »bibliotek.dk« zu entwickeln, der die Bestände sämtlicher Bibliotheken umfasst. Ebenso haben wir das Fernleihsystem verbessert – wir liefern möglichst schon am nächsten Tag.

Durch zahlreiche Diskussionen mit deutschen Kollegen bin ich mir natürlich bewusst, dass in einem so kleinen Land wie Dänemark und einem so großen Staat wie Deutschland, in dem die meisten Bundesländer größer sind als Dänemark, ganz unterschiedliche Bedingungen herrschen. Ich unterstreiche diesen Punkt in erster Linie, weil die enge Kooperation zwischen den dänischen Bibliotheken auch eine größere Freiheit bietet in der Frage, welche Bücher und anderen Bibliotheksmaterialien in den Präsenzbestand aufgenommen werden und bei welchen Medien man darauf vertraut, dass man sie von einer der umliegenden Bibliotheken oder von der National- oder Universitätsbibliothek erhält. So kann man den Benutzern Zugang zu allen verfügbaren Materialien bieten, ohne jeden Quadratmeter der Bibliothek mit Bücherregalen belegen zu müssen.

Mir scheint jedoch, dass es bezüglich des Bibliothekskonzepts noch einen weitergehenden Unterschied zwischen deutschen und dänischen Bibliotheken gibt. Allgemein findet man in Deutschland traditionell den Schwerpunkt eher auf dem klassischen Lernen und der Aufklärung, das ist sozusagen das Kerngeschäft der Öffentlichen Bibliotheken. Die dänischen Bibliotheken hingegen haben sich in den letzten 50 Jahren auch auf die kulturelle Verbreitung konzentriert sowie zunehmend auf das, was die Menschen sich wünschen, vielleicht, um die hohe Besucherzahl aufrecht zu erhalten.

Manche würden es als »Unterhaltung« bezeichnen. Dieser Unterschied in der Tradition ist wesentlich, auch wenn neue Arten von Lernaktivitäten für das neue Bibliothekskonzept in Dänemark sehr wichtig sind. Oberflächlich betrachtet kann man zumindest die stärkere Präsenz der Bücher in deutschen Öffentlichen Bibliotheken als konkrete Manifestation dieses konzeptionellen Unterschieds sehen. Schlagwörter für Änderungsansätze in Dänemark waren zum Beispiel »von der Produktorientierung zur Benutzerorientierung«, »vom Büchercontainer zum Kommunikationszentrum«, »vom Bibliotheksbestand über den Kontakt zur Kreativität«.

Das Resultat hiervon war, dass die Bestände in den Öffentlichen Bibliotheken Dänemarks in den letzten sechs bis sieben Jahren immer mehr geschrumpft sind. Dieser Schwund ist darauf zurückzuführen, dass Hunderte von kleinen Bibliotheken geschlossen wurden, die nicht in der Lage gewesen wären, dieses neue Konzept umzusetzen. Der Rückgang der Bestände hat aber seine Ursache auch in neuen konzeptionellen Überlegungen, die besagen, dass es wichtiger ist, den Benutzern unterschiedliche Bereiche für vielfältige Aktivitäten bereitzustellen als den perfekten Bibliotheksbestand anzubieten. Der Wandel von der Produktorientierung (Bücher) zur Benutzerorientierung (Veranstaltungen, Angebote) wird derzeit vollzogen.

Es geht nicht um die Frage, welches Konzept das bessere ist, denn jedes von ihnen hat eine andere Bandbreite. Und wir sind nicht in der Lage zu ermessen, welche Auswirkungen unsere Bemühungen haben, was ein Schwachpunkt in beiden Systemen ist. Es geht darum, die Unterschiede bei den Konzepten und die ihrer Ursprünge zu verstehen.

So erklärt sich der Unterschied durch zwei Gründe: abweichende Traditionen und unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen. Es gibt aber noch einen dritten Grund, der vielleicht der wichtigste ist: In Dänemark sind von Regierungsseite systematisch Bemühungen unternommen worden, ein neues Bibliothekskonzept zu entwickeln und zu fördern, während es in Deutschland Aufgabe der Länder, der Kommunen oder sogar der einzelnen Bibliotheken ist, Strategien für den Wandel der traditionellen Bibliotheken zu etablieren.

 

Wie schaffen wir den Wandel?

Deutsche und dänische Bibliotheken stehen vor denselben Grundherausforderungen. Die charakteristischste ist, dass wir in einer digitalen Übergangsphase leben, in der sämtliche digitalen Standards, Prozeduren und Technologien sich mit unglaublicher Geschwindigkeit verändern und in der die Erwartungen der Benutzer hinsichtlich dessen, welche Services Bibliotheken bieten sollten, dadurch definiert oder zumindest mit dem verglichen werden, was »Big Data« und kommerzielle Dienste anbieten können. Bibliotheken stehen hier in einer völlig neuen Art von Wettbewerb mit den kommerziellen digitalen Diensten. Gegen Google und Wikipedia kommt selbst der schönste Präsenzbestand in Öffentlichen Bibliotheken nicht an. Gleichzeitig übertreffen die traditionellen analogen Bibliotheksservices noch immer die digitalen! Keine Bibliothek kann alleine mit »Big Data« konkurrieren; wir müssen uns in größerem Umfang entwickeln.

Eine noch weitreichendere Herausforderung ist die der Veränderung der Kultur in der Gesellschaft und des Alltags der Bürger. Die Entwicklungen in der Medienlandschaft mit ihren zahllosen Möglichkeiten für leichten und preiswerten Zugriff auf Informationen verändern das Verhalten der Bürger. Die Idee, dass Bibliotheken dazu da sind, den Zugang der Menschen zu Informationen zu ermöglichen, wurde in der Industriegesellschaft geboren. Sie basiert auf einer analogen Medienwelt und ursprünglich auf der Informationsarmut. Die Auffassung, dass eine universelle Bibliothek mehr oder weniger den gesamten Bedarf an Themen und Informationen abdecken kann, stammt aus dem vordigitalen Zeitalter.

In der digitalen Wissensgesellschaft hat jeder überall Zugriff auf Informationen! Nun, natürlich nicht auf alles, und in der digitalen Welt sind einige Informationen – Spezial-Know-how und wissenschaftliche Informationen – oft schwerer zu erlangen, weil sie lizenziert sind. Aber das Informationsbedürfnis der großen Mehrheit kann sehr leicht befriedigt werden. So verschwindet die Daseinsberechtigung der Bibliotheken, es sei denn, es werden neue Herausforderungen für Bibliotheken definiert, über die fast jeder im öffentlichen Bibliothekssektor weltweit diskutiert (wie ich hoffe). Bestimmt wird das Problem in Dänemark ebenso wie in Deutschland erörtert.

 

Auf der Suche nach einem neuen Konzept

In Dänemark gibt es zwei anhaltende Trends bei der Nutzung Öffentlicher Bibliotheken: Zum einen nimmt die Anzahl der Ausleihen bei analogem Bibliotheksmaterial seit vielen Jahren ab. Auf der anderen Seite steigt die Zahl der Bibliotheksbesucher stetig an. Selbstverständlich nehmen auch die Zahl der Ausleihen und die Nutzung der digitalen Services in den Bibliotheken zu, jedoch nicht annähernd mit derselben Geschwindigkeit wie bei den kommerziellen digitalen Diensten. Was ich sagen will, ist, dass es der Bibliothek als Institution gelingen kann, mehr Benutzer anzulocken, auch wenn der »Zugang zu Informationen« nicht der entscheidende Punkt ist.

 

 

[caption id="attachment_1949" align="alignleft" width="300"]»Modell der vier Bereiche« nach Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen und Dorte Skot-Hansen Quelle: Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen »Modell der vier Bereiche« nach Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen und Dorte Skot-Hansen Quelle: Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen[/caption]

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass man nach einem neuen Konzept für Öffentliche Bibliotheken gesucht hat. In Dänemark wurde gerade in Zusammenarbeit mit der Danish Agency for Culture und Realdania, einer bedeutenden philanthropischen Vereinigung, die sich der Architektur, dem Stadtraum und dem kulturellen Erbe verschrieben hat, ein neues Modell für die Öffentliche Bibliothek der Zukunft etabliert. Das Modell basiert auf den Empfehlungen eines Regierungsberichts aus dem Jahr 2010, »The public library in the knowledge society« (»Die Öffentliche Bibliothek in der Wissensgesellschaft«), an dessen Ausarbeitung der Autor dieses Artikels in leitender Funktion beteiligt war. Den Mittelpunkt des Projekts und den Kern der Empfehlungen für moderne öffentliche Bibliotheken bildet das »Modell der vier Bereiche« (siehe Abbildung).

Dieses Modell wurde von drei Wissenschaftlern der Royal School of Library and Information Science im Dialog mit dem Committee on the Public Libraries in the Knowledge Society entwickelt, das seinen Bericht und das Modell im Jahr 2010 vorstellte[2]. Im Folgenden einige Erläuterungen zum Modell und den Gestaltungsprinzipien für die vier Bereiche.

»Nach diesem Modell verfolgt die Bibliothek das allgemeine Ziel, in den folgenden vier Bereichen ein attraktiver Anziehungspunkt zu sein: Erkenntnis/Erfahrung, Engagement, Kompetenzstärkung, Innovation. Während die ersten beiden Bereiche speziell die Wahrnehmung, die Erlebniswelt und die Mitwirkung des Individuums bei seiner Suche nach Sinn und Identität in einer komplexen Gesellschaft betreffen, stellen die beiden anderen Bereiche in einem stärkeren Maße auf gesellschaftliche Ziele ab. Der Bereich Kompetenzstärkung fördert die Entwicklung selbstbewusster und unabhängiger Bürger, die in der Lage sind, alltägliche Probleme zu lösen, während es im Bereich Innovation darum geht, neue Antworten auf praktische Probleme oder gänzlich neue Lösungsansätze, Strategien oder künstlerische Ausdrucksformen zu finden.«[3]

»Die vier Bereiche sind nicht als konkrete ›Räume‹ im physischen Sinne zu betrachten, sondern eher als Angebote, die in der physischen ebenso wie auch in der virtuellen Bibliothek genutzt werden können.« (Ebd. S. 590).

Im Lernraum können die Bibliotheksbenutzer die Welt erkunden und entdecken. Das Lernen vollzieht sich hierbei über Spiele, künstlerische Angebote, Kurse und andere Veranstaltungen. Der interessierte Benutzer kann in lockerer Atmosphäre diverse Lernmöglichkeiten, E-Learning, Vorlesungen und Präsentationen nutzen und hat selbstverständlich Zugang zu Wissensressourcen, Auskunftsservices und so weiter.

Der Inspirationsraum vereint eine ganze Reihe ästhetischer Ausdrucksformen, aber selbstverständlich kann auch das »Lernen« Teil des Inspirationsraums sein. In diesem Bereich findet der Benutzer Literatur, Filme, Musik, Kunst, Darbietungen, Spiele, Künstlergespräche und so weiter.

Der Treffpunkt ist ein offener Bereich für jedermann, ein Forum sowohl für ungezwungene, spontane Begegnungen wie auch für organisierte Veranstaltungen. Eine gute Bibliothek sollte eine Vielzahl an Treffpunkten anbieten, von der gemütlichen Sitzecke mit Privatsphäre bis hin zu größeren Sälen für öffentliche Diskussionen unterschiedlichster Art.

Auf der Bühne kann jeder Einzelne Engagement zeigen, an Aktivitäten teilnehmen und seine Kreativität entfalten. Dieser Bereich ist eng mit dem Ziel verbunden, innovative Trends in der Bibliothek zu fördern. Hier findet der Benutzer Möglichkeiten und Angebote, mit denen er praktische Fähigkeiten in vielerlei Bereichen entwickeln kann: in Schreib- und Film-Werkstätten, Aktionen mit Künstlern, Praxis-Workshops, Handwerkskursen und so weiter.

Bei der Planung des Designs dieser vier Bereiche konzentriert man sich auf die Schwerpunktthemen physische Räume, Innenausstattung, Möblierung und andere Ausstattung sowie Veranstaltungsangebote und Verhaltensmuster.

In zehn Jahren werden wir wissen, ob dieses Modell die Erwartungen erfüllt. In der Zwischenzeit werden wir die Entwicklungen in Deutschland und anderen Ländern weiter verfolgen, denn eines ist sicher: Das Konzept für die moderne Bibliothek wird in den nächsten Jahren ein immer breiteres Spektrum abdecken.

Jens Thorhauge (aus BuB Heft 1/2014)

(Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur)

 

Jens Thorhauge war viele Jahre lang als Bibliothekswissenschaftler und Dozent an der dänischen Royal School of Library and Information Science sowie als Berater und Leiter der Danish Library Association tätig. Von 1997 bis 2012 war er Generaldirektor der Danish Agency for Libraries and Media. Darüber hinaus hat er zahlreiche Bücher und Zeitschriftenartikel verfasst.

 

 

 


 

 

 

[1] Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Gagneur.

 

 

 

[2] Die Wissenschaftler sind Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen und Dorte Skot-Hansen. Die Royal School wurde mittlerweile mit der Universität Kopenhagen zusammengelegt. Das Komitee legte seinen Bericht im Jahr 2010 dem dänischen Kultusminister vor. Den Vorsitz des Komitees führte der Autor dieses Artikels.

 

 

[3] Jochumsen, Henrik, Casper Hvenegaard Rasmussen und Dorte Skot-Hansen: The four spaces - a new model for the public library. In New Library World Vol. 113 Nr. 11/12, 2012, Seiten 586-597

 






Themen-Dossiers

Ein breites Spektrum – Das Konzept für die moderne Bibliothek in Deutschland und Dänemark

In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstan-en, wie zum Beispiel die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Die Bibliothek ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann. Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur
In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstanden, wie zum Beispiel die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Die Bibliothek ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann. Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur
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Deutschland verfügt über eine so große Zahl und eine so enorme Vielfalt an Bibliotheken, dass es kaum möglich ist, die deutsche Bibliothekslandschaft in einem kurzen Artikel angemessen zu beschreiben. Dies gilt im Besonderen, wenn Sie – wie ich – ein Ausländer sind, der deutsche Bibliotheken besucht, wenn die Gelegenheit dazu besteht und Sie diese stets als Gast betreten. Andererseits bin ich relativ oft in Deutschland, und ich gehe nie an einer Bibliothek vorbei, ohne hineinzuschauen – vorausgesetzt, sie ist geöffnet! Als die Redaktion der Zeitschrift BuB mich freundlicherweise bat, mich dazu zu äußern, was ich an deutschen Bibliotheken positiv finde und was man noch verbessern könnte, hat mich das sehr gereizt, und ich habe zugesagt – entgegen allem rationalen Denken.[1]

Die Frage erregte mein Interesse, weil ich der Überzeugung bin, dass in Deutschland und in Dänemark eine völlig unterschiedliche Auffassung hinsichtlich des modernen Konzepts für Öffentliche Bibliotheken herrscht. In Deutschlands Öffentlichen Bibliotheken stehen viel mehr Bücher in den Regalen als in den dänischen. Und dies hat seinen Grund nicht nur in der Tatsache, dass die deutschen Bibliotheken größer sind als die dänischen und höhere Nutzerzahlen haben. Der Unterschied liegt im Konzept, und das finde ich interessant. Daher möchte ich im Folgenden über einige meiner grundsätzlichen Eindrücke über Öffentliche Bibliotheken berichten.

 

Eine Perlenkette neuer deutscher Bibliotheken

In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstanden. Man kann den Bürgern zu Bibliotheken wie der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, der neuen Stadtbibliothek Stuttgart, der Stadtbibliothek Bielefeld und der Neuen Stadtbücherei Augsburg nur gratulieren, aber auch so einzigartige und herausragende Gebäude wie die neue Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig und der Bücherturm der Medizinischen Fachbibliothek in Düsseldorf sind wirklich fantastisch. Und weitere großartige Bibliotheken sind in Planung. Viele sind zum Beispiel neugierig darauf, wie das Bibliotheksprojekt in Berlin-Tempelhof aussehen wird. Und dies sind nur wenige Beispiele.

Zu einigen dieser Bibliotheken möchte ich Ihnen meine Beobachtungen und Eindrücke schildern: Die Bibliothek in Dortmund scheint als eine Art »Schrittmacher« sehr erfolgreich zu sein. Ebenso wie

 

 

[caption id="attachment_1952" align="alignright" width="300"]Die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund ist ein gutes Beispiel, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt unterstützen kann. In den letzten Jahren sind in Deutschland viele schöne und sehr gute Bibliotheken entstanden, wie zum Beispiel die Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Die Bibliothek ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann.
Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur[/caption]

eine Reihe anderer Bibliotheken im Ruhrgebiet verleiht sie der Stadt offenbar eine neue Identität. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek den Wandel einer Stadt und einer Region von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft unterstützen kann. Die ikonografische Architektur macht die Bibliothek zu einem Symbol für die Strategie der »Lernenden Stadt«.

Überaus beeindruckend ist die neue Stadtbibliothek Stuttgart. Hier möchte ich nur einige Bemerkungen über die Architektur und das Design machen. Die Konsequenz bei der Verwendung der Würfelform harmoniert sehr schön mit den klaren Linien und der dominierenden hellen Farbe, die dem Gebäude eine einzigartige physische Identität verleiht. Die Innenraumgestaltung wird von den entlang der Wände angeordneten Regalen beherrscht, was eine Strenge schafft, die nah an der Sterilität liegt und daher das Gefühl verstärkt, sich in einer »Kathedrale« zu befinden. Womöglich ein beabsichtigter Effekt? Offensichtlich kann die Öffentliche Bibliothek ihre Rolle als Begegnungsort erfüllen, wie auch eine Kirche es tut, jedoch lassen sich in einer Bibliothek mehr unterschiedliche Bereiche einrichten, die die Bibliotheksbenutzer auf vielfältigste Arten zum Verweilen einladen.

Einen ganz anderen Eindruck vermittelt die Stadtbibliothek Bielefeld mit ihrer farbenfrohen, freundlichen und attraktiven Innenraumgestaltung. Besonders lobenswert ist die Idee, den riesigen Raum durch die Verwendung der grünen Trennelemente in kleinere Einheiten aufzuteilen. Was die Neue Stadtbücherei Augsburg betrifft, so könnte man hier die Innenraumgestaltung fast als Kompromiss zwischen der Strenge der Stuttgarter Lösung und der heiteren Ausstrahlung der Bielefelder Bibliothek ansehen. Die Beleuchtung und die Fensterkonstruktion der Augsburger Bibliothek sind elegant und raffiniert. Die Möblierung und die Farbe Orange ergeben ein harmonisches Bild und schaffen eine warme Atmosphäre. Auch hier findet der Besucher eine Vielzahl von Sälen und Bereichen für die unterschiedlichsten Aktivitäten, was für mich ein außergewöhnliches Merkmal deutscher Bibliotheken ist.

Alle erwähnten Bibliotheken gleichen heute viel mehr den Bibliotheken der nordischen Länder als dies noch vor 20 Jahren der Fall war. Die Architektur, der Stil und die moderne Innenausstattung sind hell, farbenfroh und einladend. Einfach großartig. Selbst die Möblierung ist im nordischen Stil gehalten, und man sieht gegenwärtig auch viele Möbel in deutschen Bibliotheken, die von dänischen Designern, zum Beispiel Arne Jacobsen, entworfen wurden. Außerdem sind die hier erwähnten Bibliotheken sehr gute Beispiele für Informationszentren, die die neue Welle der »soft cities« unterstützen und den Fokus auf die Bedürfnisse der Menschen nach Entspannung und Kreativität legen. Die neuen Bibliotheken Deutschlands gehen also einen sehr guten Weg.

Das Fazit meiner Betrachtungen einiger spektakulärer neuer Bibliotheken in Deutschland lautet: Bibliotheken sind in einem Wandel begriffen. Nicht nur aufgrund des digitalen Paradigmenwechsels, sondern auch hinsichtlich Funktion, Rolle, Planung und Architektur. Der Wandel vollzieht sich von der Bücherbibliothek der Industriegesellschaft hin zu einem neuen Typ von Einrichtung, die sich auf die heutigen Bedürfnisse und das Benutzerverhalten der Wissensgesellschaft konzentriert. Auf die Frage danach, welches Konzept für diesen neuen Bibliothekstypus gelten soll, gibt es nicht die eine Antwort. Wir sind sehr dankbar, dass sich die modernen deutschen Bibliotheken bemühen und dafür engagieren, hier auf professionelle und überzeugende Weise unterschiedliche Antworten anzubieten.

 

Geht's noch besser?

Auf die Frage der Redaktion, ob die Bibliotheken meiner Ansicht nach etwas verbessern könnten, möchte ich antworten: Es geht nicht darum, »besser« zu werden, aber es gibt – wie ich eingangs bemerkte – einen Unterschied hinsichtlich der bedeutenden Trends bei den Konzepten für moderne Öffentliche Bibliotheken in Deutschland und Dänemark, und die unterschiedlichen Bedingungen führen zu unterschiedlichen Positionen. Wo liegen also diese Unterschiede?

Zunächst einmal muss man feststellen, dass es zwischen den einzelnen deutschen Bibliotheken viel größere Qualitätsunterschiede gibt als bei den dänischen Bibliotheken. Sie finden, besonders in größeren deutschen Städten, überaus gute Bibliotheken, in kleineren Orten hingegen oft Bibliotheken, die hinsichtlich ihres Bestands und ihrer technischen Ausstattung benachteiligt sind. In Dänemark kümmert sich der Staat um die Infrastruktur für die Bibliotheken, und er verwaltet auch das Fernleihsystem und garantiert so, dass jeder Bürger jeden beliebigen Ausleihegegenstand in seiner örtlichen Bibliothek erhalten kann.

Dies ist in den jeweiligen formalen Rahmenbedingungen begründet, und hier ist in erster Linie die Tatsache zu nennen, dass wir in Dänemark seit 1920 ein Gesetz für Öffentliche Bibliotheken haben, das zuletzt im Jahr 2000 überarbeitet wurde. Die wichtigste Regelung ist, dass Öffentliche Bibliotheken dazu verpflichtet werden, den Besuchern Zugang zu allen Arten von Medien einzurichten, einschließlich digitaler Medien. Gleichzeitig wurde beschlossen, eine benutzerfreundliche Oberfläche für den Zugriff auf den nationalen Verbundkatalog »bibliotek.dk« zu entwickeln, der die Bestände sämtlicher Bibliotheken umfasst. Ebenso haben wir das Fernleihsystem verbessert – wir liefern möglichst schon am nächsten Tag.

Durch zahlreiche Diskussionen mit deutschen Kollegen bin ich mir natürlich bewusst, dass in einem so kleinen Land wie Dänemark und einem so großen Staat wie Deutschland, in dem die meisten Bundesländer größer sind als Dänemark, ganz unterschiedliche Bedingungen herrschen. Ich unterstreiche diesen Punkt in erster Linie, weil die enge Kooperation zwischen den dänischen Bibliotheken auch eine größere Freiheit bietet in der Frage, welche Bücher und anderen Bibliotheksmaterialien in den Präsenzbestand aufgenommen werden und bei welchen Medien man darauf vertraut, dass man sie von einer der umliegenden Bibliotheken oder von der National- oder Universitätsbibliothek erhält. So kann man den Benutzern Zugang zu allen verfügbaren Materialien bieten, ohne jeden Quadratmeter der Bibliothek mit Bücherregalen belegen zu müssen.

Mir scheint jedoch, dass es bezüglich des Bibliothekskonzepts noch einen weitergehenden Unterschied zwischen deutschen und dänischen Bibliotheken gibt. Allgemein findet man in Deutschland traditionell den Schwerpunkt eher auf dem klassischen Lernen und der Aufklärung, das ist sozusagen das Kerngeschäft der Öffentlichen Bibliotheken. Die dänischen Bibliotheken hingegen haben sich in den letzten 50 Jahren auch auf die kulturelle Verbreitung konzentriert sowie zunehmend auf das, was die Menschen sich wünschen, vielleicht, um die hohe Besucherzahl aufrecht zu erhalten.

Manche würden es als »Unterhaltung« bezeichnen. Dieser Unterschied in der Tradition ist wesentlich, auch wenn neue Arten von Lernaktivitäten für das neue Bibliothekskonzept in Dänemark sehr wichtig sind. Oberflächlich betrachtet kann man zumindest die stärkere Präsenz der Bücher in deutschen Öffentlichen Bibliotheken als konkrete Manifestation dieses konzeptionellen Unterschieds sehen. Schlagwörter für Änderungsansätze in Dänemark waren zum Beispiel »von der Produktorientierung zur Benutzerorientierung«, »vom Büchercontainer zum Kommunikationszentrum«, »vom Bibliotheksbestand über den Kontakt zur Kreativität«.

Das Resultat hiervon war, dass die Bestände in den Öffentlichen Bibliotheken Dänemarks in den letzten sechs bis sieben Jahren immer mehr geschrumpft sind. Dieser Schwund ist darauf zurückzuführen, dass Hunderte von kleinen Bibliotheken geschlossen wurden, die nicht in der Lage gewesen wären, dieses neue Konzept umzusetzen. Der Rückgang der Bestände hat aber seine Ursache auch in neuen konzeptionellen Überlegungen, die besagen, dass es wichtiger ist, den Benutzern unterschiedliche Bereiche für vielfältige Aktivitäten bereitzustellen als den perfekten Bibliotheksbestand anzubieten. Der Wandel von der Produktorientierung (Bücher) zur Benutzerorientierung (Veranstaltungen, Angebote) wird derzeit vollzogen.

Es geht nicht um die Frage, welches Konzept das bessere ist, denn jedes von ihnen hat eine andere Bandbreite. Und wir sind nicht in der Lage zu ermessen, welche Auswirkungen unsere Bemühungen haben, was ein Schwachpunkt in beiden Systemen ist. Es geht darum, die Unterschiede bei den Konzepten und die ihrer Ursprünge zu verstehen.

So erklärt sich der Unterschied durch zwei Gründe: abweichende Traditionen und unterschiedliche gesetzliche Rahmenbedingungen. Es gibt aber noch einen dritten Grund, der vielleicht der wichtigste ist: In Dänemark sind von Regierungsseite systematisch Bemühungen unternommen worden, ein neues Bibliothekskonzept zu entwickeln und zu fördern, während es in Deutschland Aufgabe der Länder, der Kommunen oder sogar der einzelnen Bibliotheken ist, Strategien für den Wandel der traditionellen Bibliotheken zu etablieren.

 

Wie schaffen wir den Wandel?

Deutsche und dänische Bibliotheken stehen vor denselben Grundherausforderungen. Die charakteristischste ist, dass wir in einer digitalen Übergangsphase leben, in der sämtliche digitalen Standards, Prozeduren und Technologien sich mit unglaublicher Geschwindigkeit verändern und in der die Erwartungen der Benutzer hinsichtlich dessen, welche Services Bibliotheken bieten sollten, dadurch definiert oder zumindest mit dem verglichen werden, was »Big Data« und kommerzielle Dienste anbieten können. Bibliotheken stehen hier in einer völlig neuen Art von Wettbewerb mit den kommerziellen digitalen Diensten. Gegen Google und Wikipedia kommt selbst der schönste Präsenzbestand in Öffentlichen Bibliotheken nicht an. Gleichzeitig übertreffen die traditionellen analogen Bibliotheksservices noch immer die digitalen! Keine Bibliothek kann alleine mit »Big Data« konkurrieren; wir müssen uns in größerem Umfang entwickeln.

Eine noch weitreichendere Herausforderung ist die der Veränderung der Kultur in der Gesellschaft und des Alltags der Bürger. Die Entwicklungen in der Medienlandschaft mit ihren zahllosen Möglichkeiten für leichten und preiswerten Zugriff auf Informationen verändern das Verhalten der Bürger. Die Idee, dass Bibliotheken dazu da sind, den Zugang der Menschen zu Informationen zu ermöglichen, wurde in der Industriegesellschaft geboren. Sie basiert auf einer analogen Medienwelt und ursprünglich auf der Informationsarmut. Die Auffassung, dass eine universelle Bibliothek mehr oder weniger den gesamten Bedarf an Themen und Informationen abdecken kann, stammt aus dem vordigitalen Zeitalter.

In der digitalen Wissensgesellschaft hat jeder überall Zugriff auf Informationen! Nun, natürlich nicht auf alles, und in der digitalen Welt sind einige Informationen – Spezial-Know-how und wissenschaftliche Informationen – oft schwerer zu erlangen, weil sie lizenziert sind. Aber das Informationsbedürfnis der großen Mehrheit kann sehr leicht befriedigt werden. So verschwindet die Daseinsberechtigung der Bibliotheken, es sei denn, es werden neue Herausforderungen für Bibliotheken definiert, über die fast jeder im öffentlichen Bibliothekssektor weltweit diskutiert (wie ich hoffe). Bestimmt wird das Problem in Dänemark ebenso wie in Deutschland erörtert.

 

Auf der Suche nach einem neuen Konzept

In Dänemark gibt es zwei anhaltende Trends bei der Nutzung Öffentlicher Bibliotheken: Zum einen nimmt die Anzahl der Ausleihen bei analogem Bibliotheksmaterial seit vielen Jahren ab. Auf der anderen Seite steigt die Zahl der Bibliotheksbesucher stetig an. Selbstverständlich nehmen auch die Zahl der Ausleihen und die Nutzung der digitalen Services in den Bibliotheken zu, jedoch nicht annähernd mit derselben Geschwindigkeit wie bei den kommerziellen digitalen Diensten. Was ich sagen will, ist, dass es der Bibliothek als Institution gelingen kann, mehr Benutzer anzulocken, auch wenn der »Zugang zu Informationen« nicht der entscheidende Punkt ist.

 

 

[caption id="attachment_1949" align="alignleft" width="300"]»Modell der vier Bereiche« nach Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen und Dorte Skot-Hansen Quelle: Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen »Modell der vier Bereiche« nach Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen und Dorte Skot-Hansen Quelle: Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen, Dorte Skot-Hansen[/caption]

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass man nach einem neuen Konzept für Öffentliche Bibliotheken gesucht hat. In Dänemark wurde gerade in Zusammenarbeit mit der Danish Agency for Culture und Realdania, einer bedeutenden philanthropischen Vereinigung, die sich der Architektur, dem Stadtraum und dem kulturellen Erbe verschrieben hat, ein neues Modell für die Öffentliche Bibliothek der Zukunft etabliert. Das Modell basiert auf den Empfehlungen eines Regierungsberichts aus dem Jahr 2010, »The public library in the knowledge society« (»Die Öffentliche Bibliothek in der Wissensgesellschaft«), an dessen Ausarbeitung der Autor dieses Artikels in leitender Funktion beteiligt war. Den Mittelpunkt des Projekts und den Kern der Empfehlungen für moderne öffentliche Bibliotheken bildet das »Modell der vier Bereiche« (siehe Abbildung).

Dieses Modell wurde von drei Wissenschaftlern der Royal School of Library and Information Science im Dialog mit dem Committee on the Public Libraries in the Knowledge Society entwickelt, das seinen Bericht und das Modell im Jahr 2010 vorstellte[2]. Im Folgenden einige Erläuterungen zum Modell und den Gestaltungsprinzipien für die vier Bereiche.

»Nach diesem Modell verfolgt die Bibliothek das allgemeine Ziel, in den folgenden vier Bereichen ein attraktiver Anziehungspunkt zu sein: Erkenntnis/Erfahrung, Engagement, Kompetenzstärkung, Innovation. Während die ersten beiden Bereiche speziell die Wahrnehmung, die Erlebniswelt und die Mitwirkung des Individuums bei seiner Suche nach Sinn und Identität in einer komplexen Gesellschaft betreffen, stellen die beiden anderen Bereiche in einem stärkeren Maße auf gesellschaftliche Ziele ab. Der Bereich Kompetenzstärkung fördert die Entwicklung selbstbewusster und unabhängiger Bürger, die in der Lage sind, alltägliche Probleme zu lösen, während es im Bereich Innovation darum geht, neue Antworten auf praktische Probleme oder gänzlich neue Lösungsansätze, Strategien oder künstlerische Ausdrucksformen zu finden.«[3]

»Die vier Bereiche sind nicht als konkrete ›Räume‹ im physischen Sinne zu betrachten, sondern eher als Angebote, die in der physischen ebenso wie auch in der virtuellen Bibliothek genutzt werden können.« (Ebd. S. 590).

Im Lernraum können die Bibliotheksbenutzer die Welt erkunden und entdecken. Das Lernen vollzieht sich hierbei über Spiele, künstlerische Angebote, Kurse und andere Veranstaltungen. Der interessierte Benutzer kann in lockerer Atmosphäre diverse Lernmöglichkeiten, E-Learning, Vorlesungen und Präsentationen nutzen und hat selbstverständlich Zugang zu Wissensressourcen, Auskunftsservices und so weiter.

Der Inspirationsraum vereint eine ganze Reihe ästhetischer Ausdrucksformen, aber selbstverständlich kann auch das »Lernen« Teil des Inspirationsraums sein. In diesem Bereich findet der Benutzer Literatur, Filme, Musik, Kunst, Darbietungen, Spiele, Künstlergespräche und so weiter.

Der Treffpunkt ist ein offener Bereich für jedermann, ein Forum sowohl für ungezwungene, spontane Begegnungen wie auch für organisierte Veranstaltungen. Eine gute Bibliothek sollte eine Vielzahl an Treffpunkten anbieten, von der gemütlichen Sitzecke mit Privatsphäre bis hin zu größeren Sälen für öffentliche Diskussionen unterschiedlichster Art.

Auf der Bühne kann jeder Einzelne Engagement zeigen, an Aktivitäten teilnehmen und seine Kreativität entfalten. Dieser Bereich ist eng mit dem Ziel verbunden, innovative Trends in der Bibliothek zu fördern. Hier findet der Benutzer Möglichkeiten und Angebote, mit denen er praktische Fähigkeiten in vielerlei Bereichen entwickeln kann: in Schreib- und Film-Werkstätten, Aktionen mit Künstlern, Praxis-Workshops, Handwerkskursen und so weiter.

Bei der Planung des Designs dieser vier Bereiche konzentriert man sich auf die Schwerpunktthemen physische Räume, Innenausstattung, Möblierung und andere Ausstattung sowie Veranstaltungsangebote und Verhaltensmuster.

In zehn Jahren werden wir wissen, ob dieses Modell die Erwartungen erfüllt. In der Zwischenzeit werden wir die Entwicklungen in Deutschland und anderen Ländern weiter verfolgen, denn eines ist sicher: Das Konzept für die moderne Bibliothek wird in den nächsten Jahren ein immer breiteres Spektrum abdecken.

Jens Thorhauge (aus BuB Heft 1/2014)

(Foto: Stefanie Kleemann, Dortmund-Agentur)

 

Jens Thorhauge war viele Jahre lang als Bibliothekswissenschaftler und Dozent an der dänischen Royal School of Library and Information Science sowie als Berater und Leiter der Danish Library Association tätig. Von 1997 bis 2012 war er Generaldirektor der Danish Agency for Libraries and Media. Darüber hinaus hat er zahlreiche Bücher und Zeitschriftenartikel verfasst.

 

 

 


 

 

 

[1] Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Gagneur.

 

 

 

[2] Die Wissenschaftler sind Casper Hvenegaard Rasmussen, Henrik Jochumsen und Dorte Skot-Hansen. Die Royal School wurde mittlerweile mit der Universität Kopenhagen zusammengelegt. Das Komitee legte seinen Bericht im Jahr 2010 dem dänischen Kultusminister vor. Den Vorsitz des Komitees führte der Autor dieses Artikels.

 

 

[3] Jochumsen, Henrik, Casper Hvenegaard Rasmussen und Dorte Skot-Hansen: The four spaces - a new model for the public library. In New Library World Vol. 113 Nr. 11/12, 2012, Seiten 586-597

 



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