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»Wenn die Kinder nicht zu den Büchern kommen können, dann müssen die Bücher zu den Kindern kommen«

Es ist kein Geheimnis, dass Bibliotheken, die schwer zu erreichen sind, wenig genutzt werden.[1] Dieses Schicksal teilte vor allem die Kinderbibliothek des Deutsch-Französischen Kulturzentrums in Ramallah. Grund ist die schwierige politische Lage – durch die israelische Besatzung ist das Westjordanland nicht nur von seinem traditionellen Bezugspunkt Jerusalem abgetrennt, sondern zusätzlich machen Straßensperren, Checkpoints und der 759 Kilometer lange Sperrwall im Hinterland freie Bewegung für die Menschen im Land quasi unmöglich. So stellte die Bibliothek, die Titel auf Deutsch, Französisch und Arabisch anbietet, ein unerreichbares kulturelles »Luxusgut« für die Menschen in den Palästinensischen Gebieten dar. Unter dem Motto: »Wenn die Kinder nicht zu den Büchern kommen können, dann müssen die Bücher zu den Kindern kommen« wurde eine Fahrbibliothek eigens für das Goethe-Institut Ramallah in Deutschland angefertigt.

In acht von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen geförderten Schulen lernen über 1 300 Kinder Deutsch als Fremdsprache. Hier wurde das Programm zum Deutschen Sprachdiplom der Kultusministerkonferenz implementiert. Die Deutsche Internationale Abiturprüfung wird zusätzlich zu den acht Schulen an zwei Deutschen Auslandsschulen, Talitha Kumi in Beit Jala und der Schmidt-Schule in Jerusalem, angeboten. Potenzielle Nutzer gab und gibt es also. Es war nur die Frage, wie diese aktiviert werden können.

Das Vertretungsbüro der Bundesrepublik Deutschland in Ramallah, mit dem das Goethe-Institut vor Ort eng zusammenarbeitet, war wichtiger Partner, um das Projekt zu realisieren. So half es beispielsweise bei der Beschaffung eines diplomatischen Kennzeichens für die Fahrbibliothek, damit diese überall in den Palästinensischen Gebieten eingesetzt werden kann.

Seit 2010 fährt der »Bibliobus« nun durch das Westjordanland und Jerusalem zu staatlichen und privaten Schulen, die entweder Deutsch oder Französisch als Fremdsprache anbieten, und in den Sommermonaten ist er in Gaza unterwegs. Das Goethe-Institut hat als ausländische Institution das Privileg, die Fahrbibliothek leer nach Gaza bringen zu können.

Sommertouren in Gaza

In Gaza, einem der dichtbewohntesten Teile der Erde, leben knapp 1,7 Millionen Menschen auf 360 Quadratkilometern, davon sind 43 Prozent unter 15 Jahre alt.[2] Der Bibliobus wird als Infrastruktur für den Zugang zu Büchern genutzt. Er wird dort hauptamtlich vom Qattan Center for the Child in Kooperation mit dem Tamer Institute for Community Education Gaza betrieben. Das Qattan Center for the Child ist die größte Kinderbibliothek des Nahen Ostens. Mit über 110 000 Medien auf einer Fläche von 1 100 Quadratmetern ist sie der wichtigste Ort für Kinder in Gaza, der Bildung und Freizeit unter einem Dach anbietet. Die Fahrbibliothek wird vom Qattan Center for the Child bestückt und fährt mit seinem Sommerprogramm »Lesen macht Spaß« 25 Stationen im Gazastreifen an.

2012 hielt die Fahrbibliothek in den drei Monaten Sommerferien an 25 Orten und erreichte über 7 000 Kinder in Kinderkrankenhäusern, Kindertagesstätten, Kinderferienlagern und öffentlichen Parks. Neben dem Schmökern in den Büchern werden auch Aktivitäten angeboten, die die Leseförderung stärken oder die Kinder sinnvoll ablenken sollen von den oft schwierigen Lebensumständen. An den Wochenenden übernimmt das Tamer-Institute for Community Education die Fahrbibliothek mitsamt Bestand. Das Tamer Institute erreichte im Sommer 2012 über 400 Kinder und hielt an 14 Haltestellen. Das Tamer Institute ist zum einen ein wichtiger palästinensischer Verlag für Kinder- und Jugendliteratur, zum anderen engagiert es sich sehr umfassend für eine aktive Lesekultur und Kinderbildung. 2009 gewann es den Astrid-Lindgren-Preis, die mit rund 545 000 Euro weltweit höchst dotierte Auszeichnung im Bereich Kinder-und Jugendliteratur.

Durch die Netzwerkbildung und Kooperationen zwischen den Bibliotheken des Tamer Institute, des Goethe-Instituts und des Qattan Center for the Child war die Fahrbibliothek sieben Tage die Woche unterwegs und konnte viele Kinder erreichen, die außer den Schulbüchern keine Bücher kennen und oft auch keinen Zugang zu Büchern haben, weil es nicht ausreichend Bibliotheken gibt und der private Kauf von Büchern für viele Menschen oft zu teuer ist. Die Kapazitäten des Qattan Center for the Child reichen hier längst nicht aus. Ein Buchillustrations-Workshop mit Julia Friese und Ahmed Duda mit »Alle seine Entlein«, das vom Tamer Institute ins Arabische übersetzt wurde sowie ein Animationsfilm-Workshop für Bibliothekare mit Jan Caspers und Gary Rosborough bildeten jeweils den Abschluss der Sommertouren in Gaza.

Anlaufstellen in der Westbank während der Schulzeit sind Schulen in Bethlehem, Beit Sahour und Beit Jala im Süden, Jerusalem sowie die Städte Ramallah, Birzeit, Tulkarem und Nablus im Norden. »Für die Kinder ist der Bücherbus eine spannende Abwechslung im oft grauen Schulalltag. Sie freuen sich jedes Mal auf den Besuch«, sagt Manar Wahdan, Deutschlehrerin in der Faisal al Husseini Schule in Ramallah. Lese- und Fremdsprachenförderung sind das Hauptziel der Fahrbibliothek. Die meisten der privaten und staatlichen Schulen verfügen über keine eigene Schulbibliothek, und der Zugang zur deutschen Sprache ist begrenzt auf den Deutschunterricht. Gerade für die Klassenstufen, die Deutsch als erste Fremdsprache lernen oder sogar das deutsche Abitur vorbereiten, sind weitere Zugänge zu Literatur und aktuellen Informationen über Deutschland ausschlaggebend für gute Leistungen. In der Westbank können sich die Kinder die Medien ausleihen. Im zwei- bis dreiwöchigen Rhythmus fährt das Zweipersonenteam die Schulen an.

Zusätzlich zur Ausleihe gibt es immer auch ein Begleitprogramm: Neben der individuellen Beratung der Kinder und der Ausleihe werden Aktivitäten im Klassenverband durchgeführt. Dazu gehören beispielsweise kleine Puppentheaterstücke, indem sich der Bus in eine Bühne verwandelt, das Anschauen von Filmen auf dem buseigenen Fernseher, Sprach- und Bewegungsspiele, die die Fremdsprache fördern und auf spielerische Art und Weise vertraut machen, Storytelling, zweisprachiges Vorlesen, bei dem der arabische Part von den Kindern selbst übernommen wird, oder auch Mal- und Bastelaktivitäten.

Optisch hat die Fahrbibliothek ebenfalls eine große Wirkung. Ein Motiv eines Kinderbuchs, gemalt vom jung gestorbenen palästinensischen Künstler Hassan Hourani, wurde von der deutschen Buchillustratorin Nadia Budde weiterentwickelt und individuell gestaltet, sodass die Verbindung zwischen den Palästinensischen Gebieten und Deutschland klar hervorgeht und die Kinder sich gleichzeitig mit der Illustration identifizieren können.

Ablauf eines typischen Schulbesuchs

Der Mercedes Sprinter ist ausgestattet mit einer Regalwand, in der circa 1 500 Bücher Platz finden. Bestückt wird die Bibliothek während ihres Einsatzes in der Westbank vom Deutsch-Französischen Kulturinstitut für die Bestände auf Deutsch und auf Französisch und vom Tamer Institute for Community Education für den arabischen Bestand. Zusätzlich ist Platz für Medienkisten, die mit Filmen, Hörbüchern und Musik sowie pädagogischen Begleitmaterialien für Lehrer gefüllt sind. Kinderzeitschriften sind mit an Bord, in denen die Kinder schmökern können, während sie darauf warten, in den Bus zur Ausleihe gehen zu können. Die Filmvorführungen finden über einen ausfahrbaren LCD-Bildschirm statt. Das junge Publikum sitzt außerhalb des Busses auf kindgerechten Möbeln, die ebenfalls immer im Gepäck sind. Die meiste Zeit des Jahres ist es in der Region sehr warm. Bei schlechtem Wetter werden die Begleitaktivitäten vom Schulhof in die Klassenräume verlegt.

Seit dem Beginn des Projekts hat sich der Bestand des Busses sehr verändert. Während anfangs lediglich die vorhandenen Bücher für Kinder und Jugendliche an Bord waren, hat sich seitdem die Auswahl des Bestandes verlagert, da bei den entsprechenden altersgemäßen fremdsprachigen Büchern häufig die Sprache zu schwierig war. Nach einer schriftlichen Evaluation in der die Kinder zu den Medien befragt wurden, galt es, den Bestand zu überarbeiten. Der Schwerpunkt liegt nun mehr auf Medien mit Deutsch als Fremdsprache und Sachbüchern für Kinder und Jugendliche sowie auf leichten Lektüren. Das Bibliotheksteam lernt laufend von den jungen Nutzern: So ist die optische Gestaltung eines Buches häufig Hauptauswahlkriterium! Wichtig bei der Konzeption war, dass die Schüler sich selbstständig die Medien aussuchen und vom Team dabei beraten werden.

Die anfänglichen Zweifel, ob die Kinder denn überhaupt Medien in einer Fremdsprache ausleihen würden, wenn sie auch Medien in der Muttersprache zur Auswahl haben, wurden schnell durch die Erfahrung in der Praxis zerstreut. Neue Medien aus Deutschland und Frankreich sind von der Qualität der Illustrationen oft deutlich schöner, und die Auswahl an interessanten und gut gestalteten Medien besonders für Jugendliche ist viel größer als in der arabischen Welt.

In Lesetagebüchern können die Kinder die ausgeliehenen Titel dokumentieren. Insgesamt können acht Medien inhaltlich beschrieben werden. Die Kinder erhalten für jedes ausgefüllte Tagebuch einen Pluspunkt im Deutschunterricht. So wird die Fahrbibliothek zum einen sinnvoll in den Unterricht integriert und zum anderen kann evaluiert werden, ob und wie viel die Kinder von den ausgeliehenen Medien verstanden haben, sodass der Bestandsaufbau fortlaufend an die Bedürfnisse und Ansprüche der Kinder angepasst wird. Insgesamt leihen sich knapp 1 000 Kinder regelmäßig Bücher im Bus aus.

Die Kommunikation mit den Lehrern ist ausschlaggebend für das Gelingen des Projekts. Nur wenn das Kollegium von Sinn und Zweck der Fahrbibliothek überzeugt ist, kann das Projekt gelingen. An Wochenenden fährt das Tamer Institute die Fahrbibliothek in entlegene Dörfer, beispielsweise ins Jordantal oder in Beduinendörfer. So wird sie in ihrer vollen Kapazität rund ums Jahr eingesetzt.

Herausforderungen und Zukunftsperspektiven

Eine tägliche Herausforderung ist und bleibt – trotz erheblicher Hilfen durch das Vertretungsbüro der Bundesrepublik Deutschland mittels Diplomatenkennzeichen und anderer Erleichterungen – die politische Lage. Beispielsweise verhindert diese, dass ein Palästinenser aus dem Westjordanland den Posten des Projektkoordinators übernimmt, weil Palästinenser keine Fahrberechtigungen erhalten, die Checkpoints nach Jerusalem oder Gaza zu passieren. Während des Gazakriegs im November 2012 musste der Busbetrieb ebenfalls ruhen, da es in der Nähe von Checkpoints im Westjordanland häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Militäreinsätzen kam. Die Besatzung erschwert auch andere Dinge der täglichen Bibliotheksarbeit. So brauchen etwa Bücherbestellungen bis zu drei Monate, bis sie den israelischen Zoll passieren, sodass die Bibliothek nur mit langen Verzögerungen auf Nachfrageengpässe reagieren kann.

Der Bibliobus des Deutsch-Französischen Kulturzentrums Ramallah ist ein großer Erfolg und wird sowohl von den Kindern und Jugendlichen selbst als auch von der breiten Öffentlichkeit positiv als ein sinnvolles Projekt wahrgenommen. In Gaza ist das Projekt auf so viel Enthusiasmus gestoßen, dass das Qattan Center for the Child eine eigene Fahrbibliothek bestellt hat. Sie soll 2014 in Betrieb genommen werden.

Um den Austausch zu dem Projekt auch international anzukurbeln, war das Goethe-Institut mit dem »Bibliobus« auf der Posterausstellung des IFLA-Weltkongresses in Helsinki vertreten. Für den Auf- und Ausbau von Bibliotheken und insbesondere im Bereich Bildung und Kultur für Kinder wird sich das Goethe-Institut auch in Zukunft einsetzen.

 

 

Samira Safadi, geboren 1977 in Berlin, erster Master in Nahoststudien in Paris am INALCO, zweiter Master in Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Berlin an der Humboldt-Universität (HU), leitet seit 2009 die Bibliotheken des Goethe-Instituts Palästinensische Gebiete. Evaluation einer Kinderbibliothek im Gazastreifen in Zusammenarbeit mit der schweizer Stiftung Drosos (2012) sowie weitere Evaluationen von Kinder- und Schulbibliotheken in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut (2013). Publikation und Vorträge zum Thema Gefangenenbibliotheken für palästinensische Gefangene in Israel und den Palästinensischen Gebieten. Lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Jerusalem.

Franziska Faltin, geboren 1986 in Straubing, Diplom in Regionalwissenschaft Japan der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, binationaler Bachelor of Arts/Licence in Deutsch-französischen Studien der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Université Paris IV-Sorbonne, längere Auslandsaufenthalte in der Schweiz, Japan, Frankreich und in den Palästinensischen Gebieten. Seit Oktober 2012 Mitarbeiterin am Goethe-Institut Ramallah, Palästinensische Gebiete, zuständig für das Projekt »Bibliobus«, die deutsch-französisch-palästinensische Fahrbibliothek für Kinder.

 


 

[1]Vgl. Kerstin Keller-Loibl: Handbuch Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit. Bad Honnef: Bock + Herchen 2009, S. 76

[2]CIA World Factbook

 





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