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Provenienzforschung und Restitution

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[caption id="attachment_7680" align="alignleft" width="597"]NS-Raubgut Sortierung von Altbeständen in der Nachkriegszeit an der SUB Hamburg. Fotos: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky[/caption]

 

 

 

Die Historikerin Lucy S. Dawidowicz kam als Angestellte des American Jewish Joint Distribution Committe 1947 nach Offenbach in das sogenannte »Offenbacher Depot«. Kistenweise stapelte sich dort jüdisches Schriftgut, durch die Nationalsozialisten zusammengeraubt aus ganz Europa. Dawidowicz nahm die dort eingelagerten Bücher als »verwaiste und heimatlos stumme Überlebende ihrer ermordeten Besitzer« wahr.[1] Auch in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky (SUB HH) zeugen seit Kriegsende Hunderte von Raubgutbänden in den Magazinen von der Vertreibung und Ermordung ihrer rechtmäßigen Besitzer. Analog zur allgemeinen Stimmung in der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahrzehnten vermied es auch die SUB HH lange, sich mit der eigenen Verantwortung für dieses Erbe zu befassen.

 

Als bereits kurz nach Kriegsende Rückgabeforderungen der beraubten Familien eingingen, stellte sich ihnen die Bibliothek verzögernd und abweisend. Bestimmend nach 1945 war die Sorge um den Wiederaufbau nach der Zerstörung großer Teile des Buchbestandes durch die vorhergegangenen Bombardements, von denen auch die SUB HH maßgeblich betroffen war. Bestimmend war auch eine allgemeine Abwehrhaltung gegenüber der Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Inzwischen wird seit rund einem Jahrzehnt an der SUB HH Provenienzforschung betrieben und weiter nach betroffenen Buchbeständen gesucht. Der Beitrag will einen Überblick liefern zur Entstehungsgeschichte der Raubgutbestände sowie zum Vorgehen und den Ergebnissen der Provenienzforschung an der SUB HH.

 

 

Wege der Bücher in die SUB Hamburg und Überblick über die Raubgutbestände

Ein Erlass vom März 1934 regelte den Umgang mit Büchern aus beschlagnahmten Beständen von politischen Gegnern der Nationalsozialisten.[2]

 

So kam in der Folge beschlagnahmte Literatur von Sozialdemokraten beziehungsweise sozialdemokratischen Organisationen in die Bestände der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Ein Beispiel für beschlagnahmte Literatur aus dem Besitz politisch Verfolgter ist die umfangreiche Bismarck-Sammlung von Emil Specht. Diese war 1927 vom sozialdemokratischen Auer-Verlag in Hamburg erworben worden. Der Besitz des Verlages wurde beschlagnahmt. 1937 und 1938 tauchen Teile der Specht-Sammlung in den Zugangsbüchern der SUB HH als Geschenkzugänge der Gestapo auf.

 

Bereits für das Frühjahr 1941, also noch deutlich vor den ersten Deportationen aus Hamburg im Oktober des Jahres, ist die Übernahme größerer Mengen Judaika durch die SUB HH von der Gestapo belegt. Dabei suchte sich der Referent für Orientalistik, Willy Lüdtke, aus einem Bücherdepot der Gestapo gezielt die Bücher aus, die wertvoll waren. So berichtete er im Januar 1943 an seinen Vorgesetzten, Direktor Gustav Wahl: »Ein Regal habe ich schon in mein Zimmer stellen lassen, ein grösseres soll noch folgen, damit ich Platz für die Judaica bekomme. Diese haben sich inzwischen wieder vermehrt: ich habe in einem Zimmer der Geheimen Staatspolizei neulich einen ungeheuren Berg Bücher in fast achtstündiger Arbeit durch meine Hände gehen lassen. Ergebnis: ca. 30m, eine Autoladung.«[3]

 

[caption id="attachment_7678" align="alignleft" width="266"]NS-Raubgut Ein Großteil des Raubgutes kam über die Gestapo Hamburg in die Bestände der SUB HH.[/caption]

 

Die Gestapo hatte zwei Depots in der Stadt für von Juden beschlagnahmte Bücher eingerichtet und ließ die Hamburger Bibliotheken diese Bücher durchsehen, bevor sie sie zur Versteigerung brachte. Die Bücher dürften aus dem Besitz emigrierter Juden stammen. Deren Besitz lagerte noch in Containern im Hamburger Hafen, wo ihre Verschiffung sich durch den Krieg verzögert hatte. Die Kisten wurden seit dem Frühjahr 1941 beschlagnahmt, geöffnet und deren Inhalt öffentlich versteigert, um ausgebombte Hamburger wieder neu einzurichten.[4]

 

Als ein halbes Jahr später die ersten Deportationen aus Hamburg begannen, war es also bereits ein eingespieltes Prozedere, nach dem sich städtische Institutionen sowie Privatleute an dem Eigentum der jüdischen Verfolgten bereicherten.

 

Ein Großteil der Raubgutbestände in der SUB HH stammt aus diesen Zusammenhängen. Im Zugangsbuch 1940 tauchen erstmals größere Mengen Bücher auf, die als »Geschenke der Gestapo« in den Bestand übernommen wurden. Die Oberfinanzdirektion hatte die Aufgabe, den Besitz der jüdischen Emigrierten und Deportierten »für das Reich zu verwerten«, also möglichst gewinnbringend zu verkaufen oder zu versteigern. Sozialistische, hebräische und »jüdische« Literatur – also Bücher von Autoren, die nach den Nürnberger Gesetzen als jüdisch galten – separierte die Gestapo vor den Versteigerungen und schenkte sie den Wissenschaftlichen Bibliotheken. Die Zugangsbücher zwischen 1941 und 1945 listen fast ausnahmslos Bücher als Geschenke der Gestapo, die unter diese Kategorie fielen. Hintergrund war, dass die Staatsbibliotheken auch verbotene Literatur führen durften zu Dokumentationszwecken. Die Überweisung auszusondernder bzw. beschlagnahmter Titel an die SUB HH war durch entsprechende Anordnungen der NSDAP verpflichtend, um die Bandbreite unerwünschter Literatur zu dokumentieren.[5]

 

So gelangte eine Vielzahl von Büchern als Geschenk der Gestapo in die Bestände der SUB HH. Es stammen jeweils nur wenige Bücher von einem Vorbesitzer. Diese Literatur musste jedoch als sekretierter Bestand geführt werden, stand also nicht der allgemeinen Benutzung zur Verfügung. Bibliotheksdirektor Wahl nutzte die Möglichkeit, die Bestände um viele wertvolle Hebraika zu erweitern. Er setzte sich, wie auch die Direktoren anderer Häuser, aktiv für die Überlassung dieser Bestände ein. So wandte er sich 1937 an die Leitstelle der Gestapo, um sie an die Ablieferung entsprechender »Pflichtexamplare« aus den beschlagnahmten Beständen zu erinnern.[6]

 

Auch über andere Hamburger Bibliotheken kamen so Bücher jüdischer Besitzer in die SUB HH, denn die SUB HH war nicht als einzige Bibliothek Nutznießerin am Raubgut gewesen. Auch die Öffentlichen Bücherhallen hatten sich bereichert. Über Schenkungen gelangten diverse Raubgutbände so in die SUB HH. Die Öffentlichen Bücherhallen sandten ihr darum zwischen 1933 und 1945 viele Bücher jüdischer Autoren, die teilweise aus Raubgut stammten.l

Es gelangte eine Vielzahl von Büchern als Geschenk der Gestapo in die Bestände der SUB Hamburg. Es stammen jeweils nur wenige Bücher von einem Vorbesitzer, Diese Literatur musste jedoch als sekretierter Bestand geführt werden, stand also nicht der allgemeinen Benutzung zur Verfügung.

Das Bemühen, auch sozialistische oder hebräische Bestände für die SUB HH zu gewinnen, zeigt eine für die Raubgutgeschichte typische Ambivalenz im Umgang mit Literatur: Während in propagandistisch ausgeschlachteten Aktionen wie der Bücherverbrennung und den Zerstörungen von Synagogenbibliotheken in der Pogromnacht 1938 die Reichsleitung einerseits demonstrierte, alles »Jüdische« vernichten zu wollen, gab es auf institutioneller Ebene kaum Hemmungen, hebräische Werke für die Bibliothek zu gewinnen. Ob aus materiellen Interessen oder fachlichem Interesse der Referenten, zumeist ja studierte Orientalisten: Die Akquise von Buchbeständen von jüdischer Religionsliteratur stand in einem Widerspruch zur Kulturpolitik der Nationalsozialisten, nicht aber zur Idee, allen jüdischen Besitz möglichst gewinnbringend zu arisieren.

 

Neben den Einzelzugängen sind auch Übernahmen ganzer jüdischer Bibliotheken und Nachlässe nachgewiesen. Diese ersteigerte oder kaufte die SUB HH von den an der Arisierung beteiligten Stellen, zumeist also der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten oder der Reichstauschstelle. Im Rückblick nach 1945 konnten diese Ankäufe durch die SUB-Leitung apologetisch als ein Bewahren der Bände vor dem Auseinanderreißen bei öffentlichen Versteigerungen dargestellt werden. Eigentlich dürfte es sich aber eher um das eigene Interesse an der Bestandsvermehrung bei dem Bemühen um Ankäufe gehandelt haben. So gelang es Gustav Wahl, die 40 000 Bände umfassende Bibliothek der jüdische Gemeinde Hamburgs, die nach dem Novemberpogrom 1938 zusammen mit allen jüdischen Gemeindebibliotheken in Deutschland beschlagnahmt worden war, für die SUB HH zu reservieren mit der Begründung, dass es sich um eine Hamburgensie handele.[7]

 

[caption id="attachment_7679" align="alignleft" width="207"]NS-Raubgut Profiteur von beschlagnahmten jüdischem Besitz: Gustav Wahl (1877-1947) leitete die SUB HH von 1918 bis 1943.[/caption]

 

Die Übernahme dieser wertvollen Sammlung geschah im vollen Bewusstsein, sich an dem Besitz jüdischer Vertriebener und Deportierter zu bereichern. So ließ Wahl die Autografensammlung von Hermann Kiewy direkt vor Ort in der Wohnung seiner Witwe Ida Kiewy durch einen Mitarbeiter besichtigen. Ida Kiewy war zwei Wochen zuvor nach Theresienstadt deportiert worden.[8]

 

Das Kriegsgeschehen und die damit verbundenen Schäden an der Bibliothek machten es unmöglich, die Massen des eingelieferten Raubgutes zügig zu katalogisieren. Ganze Bestände lagerten teilweise jahrelang noch nach Kriegsende in ungeordneter Form. Die Erschließung dieser Altbestände, die oft eine schwer zu entwirrende Mischung aus Raubgut und anderen Zugängen sind, dauert bis heute an. Da sich hier die Provenienz als Raubgut nicht durch den entsprechenden Eintrag im Zugangsbuch (»Geschenk Gestapo«) belegen lässt, ist man in diesen Fällen auf Hinweise in den Büchern und eine Aufklärung über die Provenienzrecherche angewiesen.

 

Ein Beispiel für die schwierige Rekonstruktion der Wege in die Bibliothek sind die 63 Bücher von Gustav Gabriel Cohn in den Beständen der SUB HH. Der Fondsmakler hatte seine ganze Leidenschaft in den Aufbau einer wertvollen Bibliothek aus vornehmlich religiöser jüdischer Literatur gesteckt. Nach 1933 zog er mehrmals um, am Ende in ein sogenanntes »Judenhaus«. Ob seine Bücher nach seiner Deportation im Juli 1942 nach Theresienstadt über die Gestapo in die SUB HH gelangten oder auf anderem Wege, ließ sich nicht mehr aufklären. Gustav Gabriel Cohn kam am 10. September 1942 in Theresienstadt um. Ein Teil seiner Bücher fanden sich nach 1945 in den an die Jüdische Gemeinde zurückgegebenen Beständen wieder und wurde von dieser an die Familie zurückgegeben.[9]

 

Ein Teil wurde katalogisiert und kam als Dauerleihgabe in das Institut für die Geschichte der deutschen Juden, wo es erst in den letzten Jahren als Raubgut auffiel. Wiederum weitere Bücher fanden sich erst kürzlich bei der Erschließung des Altbestandes.

Seit 2015 ist mit der Gründung der Arbeitsstelle Provenienzforschung - NS-Raubgut die Suche nach den rechtmäßigen Erben von NS-Raubgut fest im Organigramm der SUB Hamburg verankert.

Auch über die Reichstauschstelle kamen viele Bücher an die SUB HH, um die Bestände der SUB HH nach dem Bombentreffer 1943 wieder zu ergänzen. Die Reichstauschstelle verteilte nach 1939 die in ganz Europa durch die nationalsozialistischen Besatzer geraubten Bibliotheken an deutsche Bibliotheken für den »Wiederaufbau«.[10]

 

Sie erhielt auch konfiszierte Privatbibliotheken deutscher Juden von den Stellen, die mit der Verwertung des jüdischen Besitzes für das Reich betraut waren. Ein Beispiel sind die über 400 Bände aus der Bibliothek des Industriellen Ignaz Petschek, die beschlagnahmt wurde und über die Reichstauschstelle 1943 an die SUB HH vermittelte wurde.

 

[caption id="attachment_7681" align="alignright" width="185"]NS-Raubgut Eigentum von Ignaz und Helene Petschek: Das Exlibris in den Büchern zeigt es an.[/caption]

 

Die Bereicherung an dem Besitz der vertriebenen und deportierten Juden endete nicht mit dem Krieg. Nach 1945 handelte die Mehrheit der deutschen Antiquare auch weiter mit Büchern aus Raubgutbeständen. Noch bis in jüngste Zeit sind Ankäufe von Büchern durch die SUB HH belegt, die nachgewiesen Raubgut sind. Die Zahl der verdächtigen Bücher aus diesen Zusammenhängen ist noch nicht abzuschätzen, da die Provenienzrecherche schwierig und noch nicht abgeschlossen ist.

Rückblick

Es waren die Nachkommen der Besitzer dieser wertvollen Bibliotheken, die bald nach dem Krieg nach dem Verbleib der Bücher forschten und Rückgabeverfahren auf den Weg brachten. Ida Kiewy, die Witwe von Hermann Kiewy, hatte die Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt und forderte in mehreren Verfahren die geraubten Sammlungen von Hermann Kiewy zurück. Auch die Erben von Gustav Gabriel Cohn und die jüdische Gemeinde wandten sich an die SUB HH. Die Bibliothek verneinte die Anfrage der Familie: »Auf das Schreiben vom 29. Mai d. J. teilt die Staats- und Universitätsbibliothek mit, dass eine Umfrage keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben hat, dass Bücher des Herrn Gustav Gabriel Cohn in den Besitz der Bibliothek gelangt sind.«[11]

 

Dass sich Teile der zerrissenen Sammlung sehr wohl in der SUB HH befanden, war oben bereits Thema.

 

In einigen dieser Fälle wurden den Erben nach langen Verhandlungen Entschädigungsleistungen für den Verlust der Bibliotheken zugesprochen. Ende der 1990er-Jahre begann eine erste aktive Suche nach Raubgutbeständen durch den ehemaligen Erwerbungsleiter der SUB HH. In der Folge der 1999 ergangenen »Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes« hatten sich die Hamburger kulturtragenden Institutionen auf die Überprüfung ihrer Bestände geeinigt. Diese erste systematische Suche nach Raubgut hatte zur Folge, dass etwa 500 Bände, die als »Geschenke der Gestapo« in die SUB HH gekommen waren, als Dauerleihgabe an das hiesige Institut für die Geschichte der deutschen Juden gegeben wurden.

 

Erst ab 2005 gab es Bemühungen, eine faire Lösung im Sinne der Washingtoner Konferenz zu finden und das Raubgut nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu restituieren. Eine Diplomarbeit systematisierten die erhaltenen Archivalien mit Bezug zu Raubgut in der SUB.[12]

 

Seit 2015 ist mit der Gründung der Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut die Suche nach den rechtmäßigen Erben von NS-Raubgut fest im Organigramm der SUB HH verankert.

Identifizierung von Raubgut

Seit 2006 erfolgt eine systematische Überprüfung der Zugangsjournale der SUB HH auf raubgutverdächtige Eingänge. Dort wurden alle erworbenen oder als Geschenk erhaltenen Bücher mit Verfasser, Titel, Erscheinungsjahr, der jeweils gebenden Person oder Institution und einer laufenden Nummer (der Zugangsnummer) verzeichnet. Als gesichert gilt der Raubgutverdacht bei allen Zugängen, die als Geschenk der Gestapo in die SUB HH gelangten. Nach der Sichtung der Journale der Jahre 1940-1944 wurden die Nachforschungen auf Geschenk-Zugänge aus den Jahren 1933-1951 sowie auf antiquarische Erwerbungen ausgeweitet.

Identifizierung der Geschädigten

Eine Identifizierung der rechtmäßigen Eigentümer ist nur über Besitzvermerke in den Büchern möglich. Diese finden sich in etwa einem Zehntel der Bücher. Gibt es einen Namen, folgt eine genealogische Rekonstruktion des Lebenslaufes. Bei Eigentümern aus Hamburg ist die Identifizierung erleichtert durch den Erhalt der Steuerkartei der jüdischen Gemeinde im Hamburger Staatsarchiv. Schwieriger ist die Identifizierung derer, die über Hamburg ausgewandert waren und deren Besitz im Hamburg Hafen beschlagnahmt wurde. Gibt der Besitzvermerk im Buch nicht den Heimatort des Besitzers oder der Besitzerin preis, muss der Suchradius auf Deutschland in den Grenzen bis Kriegsbeginn ausgedehnt werden. In solchen Fällen können häufige jüdische Nachnamen wie Levy, Cohn oder Friedländer einen sehr großen Kreis möglicher Vorbesitzer generieren. Während es zu den im Holocaust ermordeten Juden inzwischen mehrere gute Quellen.[13]

 

gibt, um zumindest biografische Eckdaten zu recherchieren, ist es bei den aus Deutschland ausgewanderten Juden immer noch schwierig, verlässliche Angaben zu finden. Eine Quelle, die erste Anhaltspunkte bei der Recherche nach emigrierten Juden aus Deutschland liefert, ist die Quellenedition zu Ausbürgerungen von Michael Hepp.[14]

 

Die Veröffentlichung der vom Bundesarchiv erstellten »Liste der jüdischen Einwohner im Deutschen Reich 1933-1945« steht leider noch aus.[15]

Identifizierung der Erben

Um die überlebenden Familienangehörigen der betroffenen Buchbesitzer und -besitzerinnen zu finden, braucht man ein bisschen Glück. Die nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fragmentierten Familien hatten sich über den gesamten Erdball verstreut. Seit dem Raub an den Büchern sind nunmehr über 70 Jahre vergangen. Viele Nachnamen haben sich  zum Beispiel durch Heirat (im Fall der Töchter) geändert oder wurden bei der Einbürgerung in das Emigrationsland den sprachlichen Gegebenheiten angepasst. Einen guten Anhaltspunkt liefern die Akten, die aus den Rückerstattungs- und Wiedergutmachungsverfahren hervorgingen. Diese Akten wurden teilweise bis zum Tod des jeweiligen Antragstellers geführt und enden mit der Todesbescheinigung desselben. Hier finden sich Hinweise auf den Wohnort der Familien, teilweise bis in die 1970er-Jahre. Bei der weiteren Suche ist besonders das Internet hilfreich, in dem sich inzwischen zu fast jeder Person Spuren finden lassen.

Projektergebnisse und Erinnerungsgeschichte

In 25 Restitutionen konnten inzwischen rund 600 Bücher an die rechtmäßigen Erben übergeben werden. Die größte Restitution umfasste rund 420 Bücher, die zur Bibliothek des oben bereits erwähnten Ignaz Petschek und seiner Frau Helene gehört hatten.

 

Die Reaktionen der Familien auf die Bücher sind unterschiedlich, meist sehr emotional. Oft lösen die Recherchen der SUB HH zur Biografie der Buchbesitzer eine erneute Beschäftigung der Erben mit der eigenen Familiengeschichte aus. Dies kann auch ein schmerzhafter Prozess sein. Die Rückgabe der Bücher hat oft einen hohen symbolischen Wert für die betroffenen Familien. So sagte Jonny Norden, anlässlich der Rückgabe des Bandes »Berliner Geschichte der Juden in Rom« an ihn im Oktober 2012: »Vor mir liegt dieses kleine Buch. […] Es ist das einzige materielle Stück Erinnerung, welches mir von meinen Großeltern geblieben ist. Das Büchlein hat für mich etwas ganz Besonderes. Es schlägt eine Brücke der Familiengeschichte über die letzten 100 Jahre.«

 

Jonny Nordens bewegende Worte machen die erinnerungspolitische Verantwortung deutlich, die der Raubgutforschung an Bibliotheken auch zukommt. Der Raub von Kulturgütern kam für die Opfer dem Raub von wichtigen Erinnerungen und Familiengeschichten gleich. Das Zurückgeben dieser Stücke ist darum ein sensibler Akt, der beide Seiten vor Herausforderungen stellt. Zum Beispiel die, wie nach der Restitution mit der Erinnerung an das geschehene Unrecht umgegangen werden soll. Um weiter an die unrechtmäßige Aneignung der Raubgut-Bücher zu erinnern, hat sich die SUB HH entschieden, restituierte Bücher weiter als Einträge im Katalog zu belassen. Ein Provenienzvermerk verweist auf die Restitution des Buches an den rechtmäßigen Erben. Dass eben auch ein so pragmatisches Instrument wie ein Bibliothekskatalog durchaus eine erinnerungspolitische Dimension hat, sollte nicht unterschätzt werden. Das Sichtbarmachen der Objektbiografien kann so einen Beitrag leisten, die »stummen Überlebenden«, wie die eingangs zitierte Lucy Dawidowicz die Raubgutbücher nennt, zum Reden zu bringen und so die lange Tradition des Schweigens im Umgang mit Raubgut an vielen Bibliotheken aufzugeben.

Anna von Villiez / 1.12.2016

 

Die Autorin

1v-villiez_0002Anna von Villiez (Foto: privat) ist seit 2015 Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky. Sie ist Historikerin und hat zur Verfolgung jüdischer Ärzte in Hamburg promoviert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1.] Lucy S. Davidowicz: From that Place and Time. A Memoir, 1938-1947, hrsg. v. Nancy Sinkoff, New Brunswick: Rutgers Univ. Press, 2008 (Erstausgabe 1989), S. 316.

[2.] Erlass vom 27. März 1934, siehe Reichsgesetzblatt I, S. 293. Der Erlass konkretisierte die Durchführung der früheren Gesetze vom 26. Mai und 14. Juli 1933 zur Einziehung von kommunistischen und sogenannten volksfeindlichen Vermögen.

[3.] Archiv SUB HH, Standakten Wahl / 1940-41 / 41.2103, Brief Willy Lüdtke an Gustav Wahl vom 22. April 1941.

[4.] Vgl. zur Geschichte der Liftvans jüdischer Besitzer Jürgen Sielemann: Ein Wochenendhaus in Poppenbüttel. Die Beraubung und Plünderung jüdischer Flüchtlinge in Hamburg im »Dritten Reich«, in: Andreas Brämer, Stefanie Schüler-Springorum, Michael Studemund-Halévy (Hrsg.): Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Festschrift für Ina Lorenz zum 65. Geburtstag, München / Hamburg: Dölling und Galitz, 2005, S. 341-347.

[5.] Gesetz über die Abgabe von Freistücken der Druckwerke an die Staats- und Universitätsbibliothek in Hamburg vom 8. August 1934, Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1934, S. 299.

[6.] Archiv SUB HH 54-55 / Pflichtablieferung, Dokumente 54.1927 - 51/37.2328.

[7.] Zur Geschichte der jüdischen Gemeindebibliothek in Hamburg vgl. Alice Jankowski: »Die Konfiszierung und Restitution der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Hamburg«, in Jüdischer Buchbesitz als Raubgut: Zweites hannoversches Symposium, Regine Dehnel (Hrsg.): Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie: Sonderhefte 88, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2006, S. 213-225.

[8.] Otto-Ernst Krawehl: Erwerbungen der »Bibliothek der Hansestadt Hamburg« aus ehemals jüdischem Besitz: (1940 bis 1944), Auskunft 22, Band 1 (2002), S. 3-17, hier S. 9.

[9.] Staatsarchiv Hamburg, 213-13 6039: In dieser Verfahrensakte findet sich die Korrespondenz mit der Jüdischen Gemeinde zu diesen Büchern sowie zur Rückgabe 1964.

[10.] Cornelia Briel: Die Bücherlager der Reichstauschstelle, Frankfurt a.M.: Klostermann, 2015, hier S.41-60.

[11.] Staatsarchiv Hamburg, 213-13 6039, Prof. Tiemann an das Landgericht, 6. Juni 1958.

[12.] Ulrike Preuß: »Ein Akt der Erinnerung«: Quellenarbeit zur Ermittlung ‚verdächtiger‘ Zugänge aus dem Zeitraum 1933-45 in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Hamburg 2009 (Diplomarbeit, unveröffentlichtes Manuskript).

[13.] Zentrale Quellen sind das Online-Gedenkbuch des Bundesarchives (www.bundesarchiv.de/gedenkbuch) sowie die Datenbank der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem (www.yadvashem.org).

[14.] Michael Hepp (Hrsg.): Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933-45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, München: Saur, 1988.

[15.] Siehe hierzu https://www.bundesarchiv.de/benutzung/zeitbezug/nationalsozialismus/00301/index.html.de (eingesehen am 19.10.2016)

 






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[caption id="attachment_7680" align="alignleft" width="597"]NS-Raubgut Sortierung von Altbeständen in der Nachkriegszeit an der SUB Hamburg. Fotos: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky[/caption]

 

 

 

Die Historikerin Lucy S. Dawidowicz kam als Angestellte des American Jewish Joint Distribution Committe 1947 nach Offenbach in das sogenannte »Offenbacher Depot«. Kistenweise stapelte sich dort jüdisches Schriftgut, durch die Nationalsozialisten zusammengeraubt aus ganz Europa. Dawidowicz nahm die dort eingelagerten Bücher als »verwaiste und heimatlos stumme Überlebende ihrer ermordeten Besitzer« wahr.[1] Auch in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky (SUB HH) zeugen seit Kriegsende Hunderte von Raubgutbänden in den Magazinen von der Vertreibung und Ermordung ihrer rechtmäßigen Besitzer. Analog zur allgemeinen Stimmung in der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahrzehnten vermied es auch die SUB HH lange, sich mit der eigenen Verantwortung für dieses Erbe zu befassen.

 

Als bereits kurz nach Kriegsende Rückgabeforderungen der beraubten Familien eingingen, stellte sich ihnen die Bibliothek verzögernd und abweisend. Bestimmend nach 1945 war die Sorge um den Wiederaufbau nach der Zerstörung großer Teile des Buchbestandes durch die vorhergegangenen Bombardements, von denen auch die SUB HH maßgeblich betroffen war. Bestimmend war auch eine allgemeine Abwehrhaltung gegenüber der Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit. Inzwischen wird seit rund einem Jahrzehnt an der SUB HH Provenienzforschung betrieben und weiter nach betroffenen Buchbeständen gesucht. Der Beitrag will einen Überblick liefern zur Entstehungsgeschichte der Raubgutbestände sowie zum Vorgehen und den Ergebnissen der Provenienzforschung an der SUB HH.

 

 

Wege der Bücher in die SUB Hamburg und Überblick über die Raubgutbestände

Ein Erlass vom März 1934 regelte den Umgang mit Büchern aus beschlagnahmten Beständen von politischen Gegnern der Nationalsozialisten.[2]

 

So kam in der Folge beschlagnahmte Literatur von Sozialdemokraten beziehungsweise sozialdemokratischen Organisationen in die Bestände der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. Ein Beispiel für beschlagnahmte Literatur aus dem Besitz politisch Verfolgter ist die umfangreiche Bismarck-Sammlung von Emil Specht. Diese war 1927 vom sozialdemokratischen Auer-Verlag in Hamburg erworben worden. Der Besitz des Verlages wurde beschlagnahmt. 1937 und 1938 tauchen Teile der Specht-Sammlung in den Zugangsbüchern der SUB HH als Geschenkzugänge der Gestapo auf.

 

Bereits für das Frühjahr 1941, also noch deutlich vor den ersten Deportationen aus Hamburg im Oktober des Jahres, ist die Übernahme größerer Mengen Judaika durch die SUB HH von der Gestapo belegt. Dabei suchte sich der Referent für Orientalistik, Willy Lüdtke, aus einem Bücherdepot der Gestapo gezielt die Bücher aus, die wertvoll waren. So berichtete er im Januar 1943 an seinen Vorgesetzten, Direktor Gustav Wahl: »Ein Regal habe ich schon in mein Zimmer stellen lassen, ein grösseres soll noch folgen, damit ich Platz für die Judaica bekomme. Diese haben sich inzwischen wieder vermehrt: ich habe in einem Zimmer der Geheimen Staatspolizei neulich einen ungeheuren Berg Bücher in fast achtstündiger Arbeit durch meine Hände gehen lassen. Ergebnis: ca. 30m, eine Autoladung.«[3]

 

[caption id="attachment_7678" align="alignleft" width="266"]NS-Raubgut Ein Großteil des Raubgutes kam über die Gestapo Hamburg in die Bestände der SUB HH.[/caption]

 

Die Gestapo hatte zwei Depots in der Stadt für von Juden beschlagnahmte Bücher eingerichtet und ließ die Hamburger Bibliotheken diese Bücher durchsehen, bevor sie sie zur Versteigerung brachte. Die Bücher dürften aus dem Besitz emigrierter Juden stammen. Deren Besitz lagerte noch in Containern im Hamburger Hafen, wo ihre Verschiffung sich durch den Krieg verzögert hatte. Die Kisten wurden seit dem Frühjahr 1941 beschlagnahmt, geöffnet und deren Inhalt öffentlich versteigert, um ausgebombte Hamburger wieder neu einzurichten.[4]

 

Als ein halbes Jahr später die ersten Deportationen aus Hamburg begannen, war es also bereits ein eingespieltes Prozedere, nach dem sich städtische Institutionen sowie Privatleute an dem Eigentum der jüdischen Verfolgten bereicherten.

 

Ein Großteil der Raubgutbestände in der SUB HH stammt aus diesen Zusammenhängen. Im Zugangsbuch 1940 tauchen erstmals größere Mengen Bücher auf, die als »Geschenke der Gestapo« in den Bestand übernommen wurden. Die Oberfinanzdirektion hatte die Aufgabe, den Besitz der jüdischen Emigrierten und Deportierten »für das Reich zu verwerten«, also möglichst gewinnbringend zu verkaufen oder zu versteigern. Sozialistische, hebräische und »jüdische« Literatur – also Bücher von Autoren, die nach den Nürnberger Gesetzen als jüdisch galten – separierte die Gestapo vor den Versteigerungen und schenkte sie den Wissenschaftlichen Bibliotheken. Die Zugangsbücher zwischen 1941 und 1945 listen fast ausnahmslos Bücher als Geschenke der Gestapo, die unter diese Kategorie fielen. Hintergrund war, dass die Staatsbibliotheken auch verbotene Literatur führen durften zu Dokumentationszwecken. Die Überweisung auszusondernder bzw. beschlagnahmter Titel an die SUB HH war durch entsprechende Anordnungen der NSDAP verpflichtend, um die Bandbreite unerwünschter Literatur zu dokumentieren.[5]

 

So gelangte eine Vielzahl von Büchern als Geschenk der Gestapo in die Bestände der SUB HH. Es stammen jeweils nur wenige Bücher von einem Vorbesitzer. Diese Literatur musste jedoch als sekretierter Bestand geführt werden, stand also nicht der allgemeinen Benutzung zur Verfügung. Bibliotheksdirektor Wahl nutzte die Möglichkeit, die Bestände um viele wertvolle Hebraika zu erweitern. Er setzte sich, wie auch die Direktoren anderer Häuser, aktiv für die Überlassung dieser Bestände ein. So wandte er sich 1937 an die Leitstelle der Gestapo, um sie an die Ablieferung entsprechender »Pflichtexamplare« aus den beschlagnahmten Beständen zu erinnern.[6]

 

Auch über andere Hamburger Bibliotheken kamen so Bücher jüdischer Besitzer in die SUB HH, denn die SUB HH war nicht als einzige Bibliothek Nutznießerin am Raubgut gewesen. Auch die Öffentlichen Bücherhallen hatten sich bereichert. Über Schenkungen gelangten diverse Raubgutbände so in die SUB HH. Die Öffentlichen Bücherhallen sandten ihr darum zwischen 1933 und 1945 viele Bücher jüdischer Autoren, die teilweise aus Raubgut stammten.l

Es gelangte eine Vielzahl von Büchern als Geschenk der Gestapo in die Bestände der SUB Hamburg. Es stammen jeweils nur wenige Bücher von einem Vorbesitzer, Diese Literatur musste jedoch als sekretierter Bestand geführt werden, stand also nicht der allgemeinen Benutzung zur Verfügung.

Das Bemühen, auch sozialistische oder hebräische Bestände für die SUB HH zu gewinnen, zeigt eine für die Raubgutgeschichte typische Ambivalenz im Umgang mit Literatur: Während in propagandistisch ausgeschlachteten Aktionen wie der Bücherverbrennung und den Zerstörungen von Synagogenbibliotheken in der Pogromnacht 1938 die Reichsleitung einerseits demonstrierte, alles »Jüdische« vernichten zu wollen, gab es auf institutioneller Ebene kaum Hemmungen, hebräische Werke für die Bibliothek zu gewinnen. Ob aus materiellen Interessen oder fachlichem Interesse der Referenten, zumeist ja studierte Orientalisten: Die Akquise von Buchbeständen von jüdischer Religionsliteratur stand in einem Widerspruch zur Kulturpolitik der Nationalsozialisten, nicht aber zur Idee, allen jüdischen Besitz möglichst gewinnbringend zu arisieren.

 

Neben den Einzelzugängen sind auch Übernahmen ganzer jüdischer Bibliotheken und Nachlässe nachgewiesen. Diese ersteigerte oder kaufte die SUB HH von den an der Arisierung beteiligten Stellen, zumeist also der Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten oder der Reichstauschstelle. Im Rückblick nach 1945 konnten diese Ankäufe durch die SUB-Leitung apologetisch als ein Bewahren der Bände vor dem Auseinanderreißen bei öffentlichen Versteigerungen dargestellt werden. Eigentlich dürfte es sich aber eher um das eigene Interesse an der Bestandsvermehrung bei dem Bemühen um Ankäufe gehandelt haben. So gelang es Gustav Wahl, die 40 000 Bände umfassende Bibliothek der jüdische Gemeinde Hamburgs, die nach dem Novemberpogrom 1938 zusammen mit allen jüdischen Gemeindebibliotheken in Deutschland beschlagnahmt worden war, für die SUB HH zu reservieren mit der Begründung, dass es sich um eine Hamburgensie handele.[7]

 

[caption id="attachment_7679" align="alignleft" width="207"]NS-Raubgut Profiteur von beschlagnahmten jüdischem Besitz: Gustav Wahl (1877-1947) leitete die SUB HH von 1918 bis 1943.[/caption]

 

Die Übernahme dieser wertvollen Sammlung geschah im vollen Bewusstsein, sich an dem Besitz jüdischer Vertriebener und Deportierter zu bereichern. So ließ Wahl die Autografensammlung von Hermann Kiewy direkt vor Ort in der Wohnung seiner Witwe Ida Kiewy durch einen Mitarbeiter besichtigen. Ida Kiewy war zwei Wochen zuvor nach Theresienstadt deportiert worden.[8]

 

Das Kriegsgeschehen und die damit verbundenen Schäden an der Bibliothek machten es unmöglich, die Massen des eingelieferten Raubgutes zügig zu katalogisieren. Ganze Bestände lagerten teilweise jahrelang noch nach Kriegsende in ungeordneter Form. Die Erschließung dieser Altbestände, die oft eine schwer zu entwirrende Mischung aus Raubgut und anderen Zugängen sind, dauert bis heute an. Da sich hier die Provenienz als Raubgut nicht durch den entsprechenden Eintrag im Zugangsbuch (»Geschenk Gestapo«) belegen lässt, ist man in diesen Fällen auf Hinweise in den Büchern und eine Aufklärung über die Provenienzrecherche angewiesen.

 

Ein Beispiel für die schwierige Rekonstruktion der Wege in die Bibliothek sind die 63 Bücher von Gustav Gabriel Cohn in den Beständen der SUB HH. Der Fondsmakler hatte seine ganze Leidenschaft in den Aufbau einer wertvollen Bibliothek aus vornehmlich religiöser jüdischer Literatur gesteckt. Nach 1933 zog er mehrmals um, am Ende in ein sogenanntes »Judenhaus«. Ob seine Bücher nach seiner Deportation im Juli 1942 nach Theresienstadt über die Gestapo in die SUB HH gelangten oder auf anderem Wege, ließ sich nicht mehr aufklären. Gustav Gabriel Cohn kam am 10. September 1942 in Theresienstadt um. Ein Teil seiner Bücher fanden sich nach 1945 in den an die Jüdische Gemeinde zurückgegebenen Beständen wieder und wurde von dieser an die Familie zurückgegeben.[9]

 

Ein Teil wurde katalogisiert und kam als Dauerleihgabe in das Institut für die Geschichte der deutschen Juden, wo es erst in den letzten Jahren als Raubgut auffiel. Wiederum weitere Bücher fanden sich erst kürzlich bei der Erschließung des Altbestandes.

Seit 2015 ist mit der Gründung der Arbeitsstelle Provenienzforschung - NS-Raubgut die Suche nach den rechtmäßigen Erben von NS-Raubgut fest im Organigramm der SUB Hamburg verankert.

Auch über die Reichstauschstelle kamen viele Bücher an die SUB HH, um die Bestände der SUB HH nach dem Bombentreffer 1943 wieder zu ergänzen. Die Reichstauschstelle verteilte nach 1939 die in ganz Europa durch die nationalsozialistischen Besatzer geraubten Bibliotheken an deutsche Bibliotheken für den »Wiederaufbau«.[10]

 

Sie erhielt auch konfiszierte Privatbibliotheken deutscher Juden von den Stellen, die mit der Verwertung des jüdischen Besitzes für das Reich betraut waren. Ein Beispiel sind die über 400 Bände aus der Bibliothek des Industriellen Ignaz Petschek, die beschlagnahmt wurde und über die Reichstauschstelle 1943 an die SUB HH vermittelte wurde.

 

[caption id="attachment_7681" align="alignright" width="185"]NS-Raubgut Eigentum von Ignaz und Helene Petschek: Das Exlibris in den Büchern zeigt es an.[/caption]

 

Die Bereicherung an dem Besitz der vertriebenen und deportierten Juden endete nicht mit dem Krieg. Nach 1945 handelte die Mehrheit der deutschen Antiquare auch weiter mit Büchern aus Raubgutbeständen. Noch bis in jüngste Zeit sind Ankäufe von Büchern durch die SUB HH belegt, die nachgewiesen Raubgut sind. Die Zahl der verdächtigen Bücher aus diesen Zusammenhängen ist noch nicht abzuschätzen, da die Provenienzrecherche schwierig und noch nicht abgeschlossen ist.

Rückblick

Es waren die Nachkommen der Besitzer dieser wertvollen Bibliotheken, die bald nach dem Krieg nach dem Verbleib der Bücher forschten und Rückgabeverfahren auf den Weg brachten. Ida Kiewy, die Witwe von Hermann Kiewy, hatte die Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt und forderte in mehreren Verfahren die geraubten Sammlungen von Hermann Kiewy zurück. Auch die Erben von Gustav Gabriel Cohn und die jüdische Gemeinde wandten sich an die SUB HH. Die Bibliothek verneinte die Anfrage der Familie: »Auf das Schreiben vom 29. Mai d. J. teilt die Staats- und Universitätsbibliothek mit, dass eine Umfrage keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben hat, dass Bücher des Herrn Gustav Gabriel Cohn in den Besitz der Bibliothek gelangt sind.«[11]

 

Dass sich Teile der zerrissenen Sammlung sehr wohl in der SUB HH befanden, war oben bereits Thema.

 

In einigen dieser Fälle wurden den Erben nach langen Verhandlungen Entschädigungsleistungen für den Verlust der Bibliotheken zugesprochen. Ende der 1990er-Jahre begann eine erste aktive Suche nach Raubgutbeständen durch den ehemaligen Erwerbungsleiter der SUB HH. In der Folge der 1999 ergangenen »Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der Kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes« hatten sich die Hamburger kulturtragenden Institutionen auf die Überprüfung ihrer Bestände geeinigt. Diese erste systematische Suche nach Raubgut hatte zur Folge, dass etwa 500 Bände, die als »Geschenke der Gestapo« in die SUB HH gekommen waren, als Dauerleihgabe an das hiesige Institut für die Geschichte der deutschen Juden gegeben wurden.

 

Erst ab 2005 gab es Bemühungen, eine faire Lösung im Sinne der Washingtoner Konferenz zu finden und das Raubgut nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu restituieren. Eine Diplomarbeit systematisierten die erhaltenen Archivalien mit Bezug zu Raubgut in der SUB.[12]

 

Seit 2015 ist mit der Gründung der Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut die Suche nach den rechtmäßigen Erben von NS-Raubgut fest im Organigramm der SUB HH verankert.

Identifizierung von Raubgut

Seit 2006 erfolgt eine systematische Überprüfung der Zugangsjournale der SUB HH auf raubgutverdächtige Eingänge. Dort wurden alle erworbenen oder als Geschenk erhaltenen Bücher mit Verfasser, Titel, Erscheinungsjahr, der jeweils gebenden Person oder Institution und einer laufenden Nummer (der Zugangsnummer) verzeichnet. Als gesichert gilt der Raubgutverdacht bei allen Zugängen, die als Geschenk der Gestapo in die SUB HH gelangten. Nach der Sichtung der Journale der Jahre 1940-1944 wurden die Nachforschungen auf Geschenk-Zugänge aus den Jahren 1933-1951 sowie auf antiquarische Erwerbungen ausgeweitet.

Identifizierung der Geschädigten

Eine Identifizierung der rechtmäßigen Eigentümer ist nur über Besitzvermerke in den Büchern möglich. Diese finden sich in etwa einem Zehntel der Bücher. Gibt es einen Namen, folgt eine genealogische Rekonstruktion des Lebenslaufes. Bei Eigentümern aus Hamburg ist die Identifizierung erleichtert durch den Erhalt der Steuerkartei der jüdischen Gemeinde im Hamburger Staatsarchiv. Schwieriger ist die Identifizierung derer, die über Hamburg ausgewandert waren und deren Besitz im Hamburg Hafen beschlagnahmt wurde. Gibt der Besitzvermerk im Buch nicht den Heimatort des Besitzers oder der Besitzerin preis, muss der Suchradius auf Deutschland in den Grenzen bis Kriegsbeginn ausgedehnt werden. In solchen Fällen können häufige jüdische Nachnamen wie Levy, Cohn oder Friedländer einen sehr großen Kreis möglicher Vorbesitzer generieren. Während es zu den im Holocaust ermordeten Juden inzwischen mehrere gute Quellen.[13]

 

gibt, um zumindest biografische Eckdaten zu recherchieren, ist es bei den aus Deutschland ausgewanderten Juden immer noch schwierig, verlässliche Angaben zu finden. Eine Quelle, die erste Anhaltspunkte bei der Recherche nach emigrierten Juden aus Deutschland liefert, ist die Quellenedition zu Ausbürgerungen von Michael Hepp.[14]

 

Die Veröffentlichung der vom Bundesarchiv erstellten »Liste der jüdischen Einwohner im Deutschen Reich 1933-1945« steht leider noch aus.[15]

Identifizierung der Erben

Um die überlebenden Familienangehörigen der betroffenen Buchbesitzer und -besitzerinnen zu finden, braucht man ein bisschen Glück. Die nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fragmentierten Familien hatten sich über den gesamten Erdball verstreut. Seit dem Raub an den Büchern sind nunmehr über 70 Jahre vergangen. Viele Nachnamen haben sich  zum Beispiel durch Heirat (im Fall der Töchter) geändert oder wurden bei der Einbürgerung in das Emigrationsland den sprachlichen Gegebenheiten angepasst. Einen guten Anhaltspunkt liefern die Akten, die aus den Rückerstattungs- und Wiedergutmachungsverfahren hervorgingen. Diese Akten wurden teilweise bis zum Tod des jeweiligen Antragstellers geführt und enden mit der Todesbescheinigung desselben. Hier finden sich Hinweise auf den Wohnort der Familien, teilweise bis in die 1970er-Jahre. Bei der weiteren Suche ist besonders das Internet hilfreich, in dem sich inzwischen zu fast jeder Person Spuren finden lassen.

Projektergebnisse und Erinnerungsgeschichte

In 25 Restitutionen konnten inzwischen rund 600 Bücher an die rechtmäßigen Erben übergeben werden. Die größte Restitution umfasste rund 420 Bücher, die zur Bibliothek des oben bereits erwähnten Ignaz Petschek und seiner Frau Helene gehört hatten.

 

Die Reaktionen der Familien auf die Bücher sind unterschiedlich, meist sehr emotional. Oft lösen die Recherchen der SUB HH zur Biografie der Buchbesitzer eine erneute Beschäftigung der Erben mit der eigenen Familiengeschichte aus. Dies kann auch ein schmerzhafter Prozess sein. Die Rückgabe der Bücher hat oft einen hohen symbolischen Wert für die betroffenen Familien. So sagte Jonny Norden, anlässlich der Rückgabe des Bandes »Berliner Geschichte der Juden in Rom« an ihn im Oktober 2012: »Vor mir liegt dieses kleine Buch. […] Es ist das einzige materielle Stück Erinnerung, welches mir von meinen Großeltern geblieben ist. Das Büchlein hat für mich etwas ganz Besonderes. Es schlägt eine Brücke der Familiengeschichte über die letzten 100 Jahre.«

 

Jonny Nordens bewegende Worte machen die erinnerungspolitische Verantwortung deutlich, die der Raubgutforschung an Bibliotheken auch zukommt. Der Raub von Kulturgütern kam für die Opfer dem Raub von wichtigen Erinnerungen und Familiengeschichten gleich. Das Zurückgeben dieser Stücke ist darum ein sensibler Akt, der beide Seiten vor Herausforderungen stellt. Zum Beispiel die, wie nach der Restitution mit der Erinnerung an das geschehene Unrecht umgegangen werden soll. Um weiter an die unrechtmäßige Aneignung der Raubgut-Bücher zu erinnern, hat sich die SUB HH entschieden, restituierte Bücher weiter als Einträge im Katalog zu belassen. Ein Provenienzvermerk verweist auf die Restitution des Buches an den rechtmäßigen Erben. Dass eben auch ein so pragmatisches Instrument wie ein Bibliothekskatalog durchaus eine erinnerungspolitische Dimension hat, sollte nicht unterschätzt werden. Das Sichtbarmachen der Objektbiografien kann so einen Beitrag leisten, die »stummen Überlebenden«, wie die eingangs zitierte Lucy Dawidowicz die Raubgutbücher nennt, zum Reden zu bringen und so die lange Tradition des Schweigens im Umgang mit Raubgut an vielen Bibliotheken aufzugeben.

Anna von Villiez / 1.12.2016

 

Die Autorin

1v-villiez_0002Anna von Villiez (Foto: privat) ist seit 2015 Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Provenienzforschung – NS-Raubgut der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky. Sie ist Historikerin und hat zur Verfolgung jüdischer Ärzte in Hamburg promoviert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1.] Lucy S. Davidowicz: From that Place and Time. A Memoir, 1938-1947, hrsg. v. Nancy Sinkoff, New Brunswick: Rutgers Univ. Press, 2008 (Erstausgabe 1989), S. 316.

[2.] Erlass vom 27. März 1934, siehe Reichsgesetzblatt I, S. 293. Der Erlass konkretisierte die Durchführung der früheren Gesetze vom 26. Mai und 14. Juli 1933 zur Einziehung von kommunistischen und sogenannten volksfeindlichen Vermögen.

[3.] Archiv SUB HH, Standakten Wahl / 1940-41 / 41.2103, Brief Willy Lüdtke an Gustav Wahl vom 22. April 1941.

[4.] Vgl. zur Geschichte der Liftvans jüdischer Besitzer Jürgen Sielemann: Ein Wochenendhaus in Poppenbüttel. Die Beraubung und Plünderung jüdischer Flüchtlinge in Hamburg im »Dritten Reich«, in: Andreas Brämer, Stefanie Schüler-Springorum, Michael Studemund-Halévy (Hrsg.): Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Festschrift für Ina Lorenz zum 65. Geburtstag, München / Hamburg: Dölling und Galitz, 2005, S. 341-347.

[5.] Gesetz über die Abgabe von Freistücken der Druckwerke an die Staats- und Universitätsbibliothek in Hamburg vom 8. August 1934, Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1934, S. 299.

[6.] Archiv SUB HH 54-55 / Pflichtablieferung, Dokumente 54.1927 - 51/37.2328.

[7.] Zur Geschichte der jüdischen Gemeindebibliothek in Hamburg vgl. Alice Jankowski: »Die Konfiszierung und Restitution der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde Hamburg«, in Jüdischer Buchbesitz als Raubgut: Zweites hannoversches Symposium, Regine Dehnel (Hrsg.): Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie: Sonderhefte 88, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2006, S. 213-225.

[8.] Otto-Ernst Krawehl: Erwerbungen der »Bibliothek der Hansestadt Hamburg« aus ehemals jüdischem Besitz: (1940 bis 1944), Auskunft 22, Band 1 (2002), S. 3-17, hier S. 9.

[9.] Staatsarchiv Hamburg, 213-13 6039: In dieser Verfahrensakte findet sich die Korrespondenz mit der Jüdischen Gemeinde zu diesen Büchern sowie zur Rückgabe 1964.

[10.] Cornelia Briel: Die Bücherlager der Reichstauschstelle, Frankfurt a.M.: Klostermann, 2015, hier S.41-60.

[11.] Staatsarchiv Hamburg, 213-13 6039, Prof. Tiemann an das Landgericht, 6. Juni 1958.

[12.] Ulrike Preuß: »Ein Akt der Erinnerung«: Quellenarbeit zur Ermittlung ‚verdächtiger‘ Zugänge aus dem Zeitraum 1933-45 in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Hamburg 2009 (Diplomarbeit, unveröffentlichtes Manuskript).

[13.] Zentrale Quellen sind das Online-Gedenkbuch des Bundesarchives (www.bundesarchiv.de/gedenkbuch) sowie die Datenbank der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem (www.yadvashem.org).

[14.] Michael Hepp (Hrsg.): Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933-45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, München: Saur, 1988.

[15.] Siehe hierzu https://www.bundesarchiv.de/benutzung/zeitbezug/nationalsozialismus/00301/index.html.de (eingesehen am 19.10.2016)

 



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