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Eine kritische Würdigung der neuen Berufsethik der BID

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Im Oktober 2017 hat Bibliothek und Information Deutschland (BID) die Neufassung seiner Ethischen Grundsätze beschlossen und im Novemberheft von BuB der bibliothekarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht.[1] Damit hat BID eine für Deutschland vergleichsweise junge Tradition fortgesetzt. Während die älteste bibliothekarische Berufsethik in den USA 1938/39 verabschiedet wurde, ist das Gros der inzwischen über 70 nationalen Berufsethiken bis 2004 entstanden.[2]

Vorgeschichte

Erst 2007 ist hierzulande die erste Berufsethik für den Bibliothekssektor präsentiert worden. Deutschland erweist sich auch in dieser Hinsicht als »verspätete Nation«. Weitgehend ungehört war die erste Anregung verhallt, die aus dem Jahr 2000 stammte und auf den Arbeitskreis Kritischer BibliothekarInnen (Akribie) zurückging. Der erfolgreiche Impuls zur Erarbeitung der ersten deutschen Berufsethik kam von außen. Gegenüber der IFLA hatte BID die Erarbeitung bibliotheksethischer Grundsätze mehrfach zugesagt und dann 2006/07 binnen weniger Wochen abgeschlossen.

Im Frühjahr 2007 wurden die Ethischen Grundsätze auf dem Bibliothekskongress in Leipzig vorgestellt, blieben jedoch zunächst ohne nennenswertes Echo.[3] Vereinzelt wurde allerdings Kritik laut. Bemängelt wurde vor allem, dass es im Vorfeld keinerlei öffentliche Debatte gegeben habe und man verbindliche ethische Grundsätze nicht einfach verkünden könne. Die Verwendung des Begriffs »Kunde« wurde als Tribut an die ethisch nicht akzeptable Ökonomisierung bibliothekarischen Handelns kritisiert. Auch das Verhältnis von Ethik und Recht hatte demnach in einer unreflektierten Weise verzerrt Eingang gefunden.

Tatsächlich wies das Dokument zahlreiche Unzulänglichkeiten auf. Dazu zählt etwa, dass Loyalität und Kooperationsbereitschaft lediglich gegenüber Vorgesetzten, nicht aber gegenüber nachgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefordert wurde. Besonders auffallend war jedoch, dass keinerlei Maßnahmen vorgesehen waren, die Ethischen Grundsätze zu popularisieren, zu pflegen und gegebenenfalls anzupassen.

Dies änderte sich, als 2010 (zunächst noch unter anderem Namen) die Ethikkommission der BID eingesetzt wurde. Bis 2015 wurden regelmäßig gut besuchte Veranstaltungen zum Thema Ethik auf den Bibliothekartagen organisiert. Die geplante Überarbeitung der Ethischen Grundsätze ist jedoch nicht zustande gekommen, da die Kommission im Frühjahr 2015 vom BID-Vorstand ohne Angabe von Gründen ausgesetzt wurde. Die nun vorgelegte Neufassung bedeutet, so viel sei vorweggenommen, gegenüber der Vorgängerin eine erhebliche Verbesserung. Ehe auf die Details eingegangen wird, sei ein Blick auf die grundsätzliche Funktion von Berufsethiken geworfen.

Berufsethik – wozu?[4]

Ethikkodizes enthalten moralische Normen, an denen Individuen und Institutionen ihr Handeln ausrichten sollen, in manchen Fällen auch müssen. Damit sollen Individuen und Organisationen dabei unterstützt werden, Kriterien zur Unterscheidung von richtigem und falschem, gutem und schlechtem Handeln zu gewinnen und anzuwenden. Bei Berufsethiken wie den Ethischen Grundsätzen der BID handelt es sich um individualethische Ansätze. Die Leitfrage lautet: Welche Werte soll ich als Angehöriger meines Berufes in meinem Handeln verwirklichen? Im Unterschied dazu befassen sich institutionenethische Kodizes mit der Frage: Welche Werte soll unsere Institution, unser Unternehmen in seinem Handeln realisieren? Auch in Deutschland wächst die Zahl der Unternehmen, die ihr Handeln auf der Grundlage einer einheitlichen Wertorientierung steuern wollen und deshalb über eine Institutionenethik verfügen.

Individualethische Berufsethiken sind in zahlreichen Berufen verbreitet, nicht nur bei Journalistinnen und Journalisten, Psychologinnen und Psychologen, Steuerberaterinnen und Steuerberatern oder Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern. Als ältestes Beispiel gilt der Eid des Hippokrates aus dem 4. Jahrhundert vor Christus, dem sich Ärzte bis heute verpflichtet fühlen. Häufig werden Berufsethiken von Berufsverbänden auf nationaler oder internationaler Ebene als Verhaltenserwartungen nach eingehender Diskussion festgelegt und bei Bedarf aktualisiert.

Manche Berufsethiken sind präskriptiv, das heißt sie enthalten strikte Vorschriften und eine Beschreibung der Maßnahmen, mit denen Verstöße sanktioniert werden. In der überwiegenden Zahl der Fälle aber tragen Berufsethiken der Tatsache Rechnung, dass ethische Reflexion immer situationsbezogen erfolgen sollte. In der englischsprachigen Fachliteratur werden sie daher als »inspirational« oder »aspirational« charakterisiert. Statt rigoros zu befolgender Regeln enthalten sie den Fundus an wesentlichen Grundwerten, die im beruflichen Handeln des entsprechenden Praxisfeldes von Bedeutung sind.

Im bibliothekarischen Kontext sind dies etwa das Eintreten für Meinungs- und Informationsfreiheit, Gleichbehandlung aller Nutzerinnen und Nutzer, Neutralität, Professionalität, persönliche Integrität und so weiter. Damit werden Handlungs- und Entscheidungsspielräume abgesteckt. Dieser Wertekanon hat dann die Funktion, die Berufsangehörigen als kollektives soziales Gewissen des Berufsstandes bei der ethischen Reflexion zu unterstützen und dadurch zur Standardisierung beizutragen. In Konfliktfällen dient die Berufsethik als eine Art Checkliste bei der Reflexion über die jeweils tangierten berufsspezifischen moralischen Grundwerte und die möglichen Folgen getroffener Entscheidungen unter Berücksichtigung der situationsbezogenen Rahmenbedingungen.

Eine Berufsethik enthält weder ein Lösungsreservoir für konkrete Konflikte, noch entlässt sie den Einzelnen aus der Verantwortung für sein Handeln. Aber sie verschafft Orientierung und trägt zur Vereinheitlichung des wertbezogenen Handelns innerhalb des Berufsstandes bei. Darüber hinaus trägt ein konsensualisierter Wertekanon dazu bei, dass sich ein ethisch fundiertes Berufsbild entwickelt. Auf dieser Grundlage können Zielvereinbarungen zwischen Führungsebene und Abteilungen, Teams oder einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern formuliert werden, um Rollenerwartungen zu definieren.

Gegenüber Nutzerinnen und Nutzern, Unterhaltsträgerinnen, und -trägern politischen Entscheiderinnen und Entscheidern sowie der Öffentlichkeit insgesamt erzeugt eine gelebte Berufsethik Transparenz und trägt so zum Erwartungsmanagement im Rahmen des Marketings bei. In der Außenwirkung erlaubt ein ethisch abgesichertes Berufsbild, den Beruf mit positiv konnotierten Grundwerten wie Informationsfreiheit, Freiheit von Zensur, Pluralismus, Dienstleistungsorientierung und so weiter zu identifizieren. Dies beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung und unterstützt die dringend notwendige Korrektur und Aufwertung des Berufsbildes.

Berufsethik ist zudem ein wichtiges Instrument der Rechtskritik, das es ermöglicht, Rechtsnormen und Rechtspraxis ethisch zu überprüfen und im Bedarfsfall Änderungen auf den dafür vorgesehenen Wegen zu initiieren. Auch aus diesem Grunde ist es wichtig, dass sich ethische Kodizes nicht explizit auf bestehende Rechtsgrundlagen beziehen. Im Falle öffentlicher Auseinandersetzungen bietet die Berufsethik die Chance, das kritisierte Verhalten anhand der ethischen Standards zu rechtfertigen oder aber als Fehlverhalten zu identifizieren, das zukünftig vermieden werden muss.

In der Berufssoziologie gilt die Entwicklung einer Berufsethik neben der Festlegung der notwendigen Berufsqualifikationen und des Berufszuganges durch Prüfungen sowie des Zusammenschlusses der Berufsangehörigen in Berufsverbänden als Kennzeichen der Professionalisierung[5] und als Voraussetzung dafür, dass sich ein Berufsstand verselbstständigt und als eigenständige Profession im Ensemble arbeitsteiliger Gesellschaft etabliert.[6]

Popularisierung und Pflege der Berufsethik

Eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit und Akzeptanz ethischer Kodizes spielt die Art ihrer Entstehung und ihrer kontinuierlichen Pflege. Wenn die Betroffenen, die Mitglieder eines Verbandes, die Belegschaft eines Unternehmens oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Behörde vor vollendete Tatsachen gestellt werden, mindert dies die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass der Kodex wahr- und ernstgenommen wird. Es empfiehlt sich daher, stattdessen den Wertekatalog in einem strukturierten Diskussionsprozess gemeinsam mit den Betroffenen zu entwickeln. Werden deren Erfahrungen und Erwartungen einbezogen, steigt die Chance dafür, dass der Kodex auf Akzeptanz stößt und die darin formulierten Werte zu einem gemeinsamen Anliegen werden.[7] Gleiches gilt für die Pflege des Ethikkodexes. Transparente Routinen sollten sicherstellen, dass der Kodex kontinuierlich überprüft und bei Bedarf modifiziert wird. Auch bei diesen Prozessen sollten die Betroffenen mitwirken können.

Geeignete Instrumente dafür sind Ethikkommissionen. Neben der Entwicklung und Pflege der Berufsethik haben sie die Aufgabe, Schulungsangebote und Lernmaterialien zu entwickeln, um die ethische Sensibilität und das am Kodex orientierte Reflexionsvermögen der Angehörigen des entsprechenden Berufsstandes kontinuierlich zu fördern. Schließlich beraten sie ihre Trägerinstitutionen aber auch Einzelpersonen in konkreten Konfliktfällen.[8] Die Kommissionsmitglieder sollten mit der beruflichen Praxis und den dort auftretenden Konflikten und Dilemmata vertraut sein. Wichtig ist ferner, dass alle Mitglieder einer Ethikkommission frei entscheiden können und nicht partikularen Interessen verpflichtet sind.

Die ethischen Beratungen in den Kommissionen dürfen weder durch ökonomische Interessen oder verbandspolitische Ziele der Trägerinstitutionen noch durch weltanschauliche Bindungen der Mitglieder selbst verzerrt werden. Und genau darin liegt ein massives Problem. Es lässt sich leicht denken, dass Ethikkommissionen manchmal Entscheidungen fällen oder Empfehlungen aussprechen, die kurzfristigen verbandspolitischen Zielen widersprechen. Dann mag es dazu führen, dass Mitglieder von Dachverbänden protestieren oder gar mit Austritt drohen, da ethische Orientierung ihrem ausschließlich auf Erfolg ausgerichteten pragmatischen Handeln zu enge Fesseln anlegt.

Ethikkommissionen oder einzelne ihrer Mitglieder werden dann mal offen, mal verdeckt mit Vorwürfen konfrontiert, sie seien außengesteuert oder verfolgten ideologische Ziele. Gelegentlich werden dann einzelne Mitglieder nach Ablauf ihrer Amtszeit nicht wieder nominiert oder die Kommission wird gar ganz aufgelöst beziehungsweise auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Dabei läge der Reiz für alle Beteiligten darin, die Unstimmigkeiten offen zu thematisieren und auf diese Weise entweder Missverständnisse auszuräumen oder die ethische Auseinandersetzung mit den Fragen, die zum Dissens geführt haben, auf eine breite Basis zu stellen. In vielen Fällen sind Vorstände heute souverän und einsichtig genug, diesen Diskurs zuzulassen.

Die Ethischen Grundsätze 2017: Struktur und Vergleich zur Vorgängerversion von 2007

Die nun vorgelegte Neufassung der Ethischen Grundsätze ist von einer fünfköpfigen Gruppe vorbereitet worden.[9] Formal untergliedert sich der Text in die Präambel und drei inhaltlich abgegrenzte Kapitel. Es sind dies »1. Zugang zu und Vermittlung von Informationen«, »2. Verhältnis zu Interessengruppen, Partnern und Akteuren« sowie »3. Integrität und Fachkompetenz«. Nur das zweite Kapitel ist weiter untergliedert in die Abschnitte »2.1 Nutzer, Kundinnen und Kunden sowie allgemeine Öffentlichkeit«, »2.2 Unterhaltsträger«, »2.3 Partner« und »2.4 Kolleginnen und Kollegen, Berufsumfeld«.

Bei der Formulierung des Textes haben die Verfasserinnen und Verfasser viele Anregungen des 2012 von der IFLA verabschiedeten »Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftigte«[10] aufgegriffen. Am deutlichsten wird dies in der Präambel, dem Teil, in dem sich die Neufassung von 2017 wohl am stärksten von der Fassung des Jahres 2007 unterscheidet. In sieben Abschnitten werden zunächst Zielgruppen und Zweck der Grundsätze klar benannt: Sie sollen »allen Angehörigen des Bibliothekswesens (…) zur Orientierung in berufsethischen Fragen und als Grundsätze guten Handelns dienen«. Anschließend werden in drei Abschnitten wichtige Funktionen und Wertbezüge von Bibliotheken benannt. Demnach sind Bibliotheken »Orte der Integration und Kommunikation«, »grundlegende Institutionen der gelebten Demokratie«, sie »ermöglichen die mündige Teilhabe an der Gesellschaft« durch »informationelle Grundversorgung« und tragen damit »grundsätzliche gesellschaftliche Verantwortung«.

Als Bezugsnorm wird wie in der Präambel des IFLA-Ethikkodexes Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen genannt, darüber hinaus verwiesen auf die Artikel 3 und 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Es ist sehr zu begrüßen, dass mit diesen Passagen erstmals im berufsethischen Kontext (in Deutschland) an prominenter Stelle die soziale Verantwortung und die politische Funktion von Bibliotheken nachhaltig unterstrichen werden. Besondere Erwähnung verdient zudem die Aussage, dass Bibliotheken »Einrichtungen ohne kommerzielle Interessen« sind.

Das erste Kapitel enthält ein klares Bekenntnis zur Meinungs- und Informationsfreiheit und die unmissverständliche Aussage: »Eine Zensur von Inhalten lehnen wir ab.« Neu gegenüber 2007 sind von den insgesamt neun Unterpunkten zwei. Dabei handelt es sich um die Ablehnung der Beeinflussung durch Werbung bei der Auswahl von Informationsquellen und die Unterstützung von Open Access, Open Source und so weiter. Das zweite Kapitel enthält so wichtige Normen wie die Gleichbehandlung aller Nutzerinnen und Nutzer und die Verpflichtung zu Neutralität, Jugendschutz und Datenschutz. Von den hier aufgelisteten 15 Unterpunkten enthalten sechs gegenüber 2007 neue Aussagen.

Hervorzuheben ist darunter insbesondere der politische Auftrag der Bibliotheken, die politische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen durch das Bestreben, »einen entgeltfreien bzw. kostengünstigen Zugang zu unseren Beständen« zu ermöglichen. Auch die Festlegung, dass Bibliotheken als »geschützte Räume ohne kommerzielle Interessen« zu gelten haben, ist eine wichtige und gegenüber 2007 neue Norm. Die weiteren in dem älteren Dokument nicht enthaltenen Aussagen beziehen sich vorwiegend auf das Verhältnis von Kolleginnen und Kollegen untereinander sowie auf die Bereitschaft zur Unterstützung von Berufsanfängerinnen und -anfängern sowie zur Förderung berufsständischer und berufspolitischer Interessenvertretung.

Das dritte Kapitel, das den Themen Integrität und Fachkompetenz gewidmet ist und aus fünf Unterpunkten besteht, enthält bis auf eine Ausnahme ausschließlich Aspekte, die 2007 nicht behandelt worden sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient darunter die Aufforderung, sich für »die Verbesserung fachlich relevanter gesetzlicher Regelungen« einzusetzen. Damit verabschiedet sich die neue Fassung zumindest partiell von der 2007 noch ungebrochenen und unkritischen Fixierung auf gegebene Rechtsnormen. Weitere 2017 erstmals aufgeführte Aspekte betreffen das bibliothekarische Engagement zur Vermittlung von Informationskompetenz, zur Verhinderung von Manipulation durch Informationsverfälschung und das Bekenntnis zum Compliance-Gedanken, das heißt die Akzeptanz von Richtlinien und Kodizes.

Im Vergleich zu der Vorgängerfassung von 2007 lässt sich also eine Vielzahl markanter Verbesserungen und Aktualisierungen erkennen. Dies betrifft vor allem die Positionierung bibliothekarischen Handelns in politischen und sozialen Kontexten und das klare Bekenntnis zu demokratischen und partizipatorischen Grundwerten. Auch die Absage an kommerzielle Verwertungsinteressen ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Man darf gespannt sein, ob die Debatten um den Kaufbutton und um Standard- und Premiumnutzer in Bibliotheken aus dem Jahr 2013/14 im Lichte dieser normativen Festlegungen eine Neubewertung erfahren.

Allerdings sind im Vergleich zu 2007 auch einige Rückschritte zu verzeichnen. So ist das Thema Datenschutz/Privatheit geradezu marginalisiert worden. Während 2007 noch der Schutz der Privatsphäre explizit als ethischer Grundwert genannt wird, wird Datenschutz (wie auch Jugendschutz) 2017 nicht mehr als solcher aufgeführt, sondern nur noch erwähnt, dass die entsprechenden gesetzlichen Vorgaben zu beachten seien. In dieser Aussage wird das Verhältnis von Ethik und Recht völlig verkannt. Ethik steht außerhalb von Recht, kann nur in dieser Position als Instrument der Rechtskritik fungieren. Ethik sollte die Normen vorgeben, auf deren Grundlage Rechtsnormen festgelegt werden und nicht umgekehrt. Ethikkodizes können daher nicht »Handeln in Übereinstimmung mit rechtlichen Regelungen« fordern. Das hier kritisierte Verständnis von Ethik und Recht in Abschnitt 2.1 (4. Unterpunkt) steht im Übrigen im Widerspruch zu der in Kapitel 3 formulierten Aufforderung, sich für die »Verbesserung fachlich relevanter gesetzlicher Regelungen« einzusetzen.

Auch im Hinblick auf Gleichbehandlung bleibt die aktuelle Fassung hinter der von 2007 zurück. Damals war noch detailliert aufgeführt worden, dass Gleichbehandlung »unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrem Alter, ihrer sozialen Stellung, ihrer Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung« zu erfolgen habe. Gegen diese Kritik mag eingewendet werden, der Begriff Gleichbehandlung sei schließlich eindeutig, doch trägt die detaillierte Auflistung insbesondere in Konfliktfällen zur Klärung bei und unterstützt Kolleginnen und Kollegen bei der ethischen Reflexion zusätzlich.

Die BID-Ethik von 2017 im Vergleich zum IFLA-Ethikkodex von 2012

Das Dokument der IFLA ist keineswegs mit der Erwartung verbunden, dass »der vorliegende Kodex in allen Einzelheiten übernommen wird«, sondern verfolgt vielmehr die Absicht, »anderen Bibliotheks- und Informationsverbänden Anregungen bei der Erarbeitung und Überarbeitung ihres eigenen Kodex« zu bieten. In diesem Sinne ist wohl auch bei der Formulierung der BID-Ethik 2017 verfahren worden. Die meisten der gegenüber der BID-Ethik von 2007 neuen Aspekte finden sich bereits im IFLA-Dokument. Wichtige und erfreuliche Ausnahmen bilden 2017 das Bekenntnis zur informationellen Grundversorgung und zur Bibliothek als Raum ohne kommerzielle Interessen.

Interessant ist jedoch, in welchen Punkten die Verfasserinnen und Verfasser der BID-Ethik den Anregungen der IFLA-Ethik nicht gefolgt sind. Einige dieser Unterschiede seien nachfolgend erwähnt. Im BID-Dokument 2017 werden Bibliotheken zwar als Orte der Integration bezeichnet, jede weitere Präzisierung unterbleibt jedoch, der weitergehende Begriff Inklusion fällt nicht. Die Tatsache, dass Deutschland zum Einwanderungsland geworden ist, scheint sich hier nicht angemessen niedergeschlagen zu haben. Im IFLA-Kodex wird nicht nur der Begriff der Inklusion verwendet, sondern darüber hinaus explizit der Anspruch sprachlicher Minderheiten auf Zugang zu Informationen in der Muttersprache anerkannt.

Der Aspekt der Förderung von Informationskompetenz wird zwar in der BID-Ethik an zwei Stellen erwähnt, doch wird auch in diesem Fall auf die im IFLA-Dokument enthaltene inhaltliche Präzisierung verzichtet. Die ethische Verpflichtung zur Wahrung des Jugendschutzes wird (wie auch hinsichtlich des Datenschutzes) reduziert auf die legalistische Forderung zur »Beachtung der gesetzlichen Vorgaben für unsere Arbeit«. Da Maßnahmen zur Sicherung des Jugendschutzes in Bibliotheken nicht selten auch zur Einschränkung der Informationsfreiheit von Erwachsenen führen (zum Beispiel durch Einsatz von Filtersoftware), wäre es hilfreich gewesen, dieser Wertekollision mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Der IFLA-Kodex hat aus diesem Grunde den Schutz von Minderjährigen explizit an die Forderung gebunden, gleichzeitig sicherzustellen, »dass dies die Informationsrechte erwachsener Nutzer nicht einschränkt«.

Auf Urheberrechtsfragen wird in der BID-Ethik 2017 an drei Stellen eingegangen; dennoch bleiben auch in diesem Fall die Aussagen allgemeiner und unverbindlicher als in der IFLA-Ethik. Dort wird sehr viel selbstbewusster gefordert, »dass für Bibliotheken Ausnahmen und Einschränkungen von Urheberrechtsrestriktionen geschaffen werden« und »dass der Zugang nicht unnötigerweise auf Grund der Auslegung von Gesetzen des geistigen Eigentums verhindert oder behindert wird und dass Lizenzen nicht die in nationaler Gesetzgebung garantierten Ausnahmen für Bibliotheken außer Kraft setzen«. Auch in diesem Fall mag eingewendet werden, die Details urheber- und lizenzrechtlicher Fragen seien zu speziell, um in einem Ethikkodex aufgeführt zu werden. Doch zeichnet sich ab, dass beide Themen Dauerbrenner bibliothekarischer Diskurse bleiben werden. Entsprechende Präzisierungen bieten eine normative Absicherung für vorhersehbare, lang anhaltende Auseinandersetzungen.

 

Weitere wichtige Aspekte, die in der IFLA-Ethik prominent vertreten sind, fehlen 2017 bei der BID. Dazu zählt etwa die Forderung, Transparenz zu schaffen hinsichtlich des eigenen beruflichen Handelns durch Definition und Veröffentlichung von »Leitlinien (Policies) zu Auswahl, Organisation, Archivierung, Bereitstellung und Vermittlung von Informationen«. Ferner glaubte man seitens der BID vollkommen verzichten zu können auf die Verpflichtung, sich gegen Korruption zu verwahren, Diskriminierung am Arbeitsplatz zu bekämpfen und sich für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen. Vielleicht war man 2017 der Ansicht, diese Aspekte mit dem Appell zu »Respekt, Fairness, Kooperationsbereitschaft, kritischer Loyalität« abgedeckt zu haben.

Weitere Kritikpunkte

Die Ethischen Grundsätze von 2017 sind mindestens an einer Stelle geprägt von Relikten obrigkeitsstaatlichen Denkens. So heißt es zum Beispiel im ersten Unterpunkt des Abschnitts 2.2: »Wir erfüllen den Auftrag unserer Unterhaltsträger und arbeiten mit ihnen vertrauensvoll und regelkonform zusammen.« Dies weist der Fachcommunity eine rein rezeptive Rolle zu statt einer dialogorientierten, selbstbewusst und konstruktiv mitgestaltenden. Der zweite Unterpunkt unter 2.2 steht dazu eindeutig im Widerspruch: »Wir betonen die fachliche und inhaltliche Unabhängigkeit der bibliothekarischen Arbeit von politisch motivierter oder anderer sachfremder Einflussnahme.«

Grundsätzlich zeichnen sich die Ethischen Grundsätze 2017 aus durch eine Vermischung von individualethischer und institutionenethischer Perspektive. Die meisten Formulierungen der Präambel beziehen sich auf die Institution Bibliothek und scheinen eine bislang nicht vorhandene bibliothekarische Institutionenethik ersetzen zu sollen.[11] Die hier genannten Wertbezüge sind nur durch kollektives, institutionelles Handeln realisierbar. Eine tatsächliche Institutionenethik müsste allerdings sehr viel präziser und ausführlicher die für die Institution Bibliothek relevanten ethischen Normen formulieren.

Die auf die Präambel folgenden drei Kapitel sind im Gegensatz dazu vorwiegend individualethisch angelegt. Bis auf eine Ausnahme beginnen alle Aussagen mit appellativen Absichtserklärungen: »Wir setzen uns ein für…«, »Wir engagieren uns für…«, »Wir streben nach…« oder »Wir bekennen uns zu…«. Allerdings finden sich auch in diesen Kapiteln Aussagen, die kaum individualethischen Charakter haben. Dies gilt etwa für die Forderung »Wir streben Diversität im Kollegium an…« (Kapitel 3). Darauf hat die einzelne Kollegin, der einzelne Kollege in ihrem beziehungsweise seinem alltäglichen Handeln in der Regel keinen Einfluss. Gleiches gilt für die Förderung »regionaler, nationaler und internationaler Zusammenarbeit« (Kapitel 2.4).

Weniger gravierend sind einige sprachliche Ungenauigkeiten im Text. An einigen Stellen ist das Bemühen zu erkennen, Gendergesichtspunkte auch sprachlich zu berücksichtigen, an anderen dominiert die Verwendung des generischen Maskulinums. Beide Haltungen sind sicher vertretbar, doch sollten sie nicht willkürlich nebeneinander auftreten. Besonders auffallend ist dies in der Überschrift des Abschnitts 2.1, in der es heißt: »Nutzer, Kundinnen und Kunden sowie allgemeine Öffentlichkeit«.

Missverständlich ist ferner der letzte Unterpunkt in 2.1. Die Formulierung kann auch so gelesen werden, dass die Nutzung der Bibliothek dann unterstützt wird, wenn sie »ohne kommerzielle Interessen« erfolgt. Das war sicher nicht gemeint. Der vorletzte Unterpunkt in 2.4 scheint aus der Vorgesetztenperspektive formuliert zu sein. Statt »Wir fördern das Engagement von Kolleginnen und Kollegen…« müsste es korrekterweise heißen »Wir engagieren uns in Berufs- und Fachverbänden…« Nicht ohne Weiteres erschließt sich darüber hinaus, was im zweiten Unterpunkt von Kapitel 2.3 mit »Wir (…) beachten die redaktionelle Freiheit« gemeint sein könnte.

Massiv zu kritisieren ist die Art und Weise, in der die Ethischen Grundsätze zustande gekommen sind. Abgesehen von einem 90-minütigen »Workshop« anlässlich des Bibliothekartages in Frankfurt 2017, auf den nicht mit erkennbarem Nachdruck aufmerksam gemacht worden ist, hat es keine Beteiligung der bibliothekarischen Öffentlichkeit gegeben. Warum wurde der Entwurf nicht im Vorfeld in den einschlägigen Fachzeitschriften publiziert und über die Diskussionslisten verbreitet?

Eine Debatte im Vorfeld hätte Aufmerksamkeit erregen und Bewusstsein für ethische Fragen wecken oder vertiefen können. Diese Chance ist nunmehr vertan. Die Gefahr, dass die Ethischen Grundsätze 2017 ebenso wie jene des Jahres 2007 ignoriert werden oder aber als »Ethik von oben« wahrgenommen werden, ist enorm groß. Ethikkodizes werden dann mit Leben gefüllt, wenn sie durch breite Debatten bei der Entstehung konsensualisiert werden. Unerklärlich ist, warum am Ende der Präambel erklärt wird, BID werde »mit der Fachöffentlichkeit in die Diskussion über diese Grundsätze treten«, also nachdem das Dokument vom Vorstand verabschiedet worden ist. In welcher Form, in welchen Rhythmen und mit welchem Ziel dies geschehen soll, bleibt offen. Hier zeigt sich ein eher hierarchisches und wenig diskursfreundliches Grundverständnis.

Wenig überzeugend sind ferner die Aussagen zur Popularisierung der Grundsätze. Die in Bibliotheken Beschäftigten sollen bei der Beachtung der Ethischen Grundsätze seitens BID durch laufende Information und Kooperation mit verwandten Organisationen unterstützt werden. Was darunter im Detail zu verstehen ist, bleibt vage. Kein Gedanke wird darauf verschwendet, an wen sich Bibliothekarinnen und Bibliothekare wenden können, wenn sie Unterstützung bei der Lösung akuter ethischer Konflikte und Dilemmata benötigen. Warum eigentlich wird nicht in Erwägung gezogen, zu all diesen Zwecken erneut eine Ethikkommission einzurichten?

Gesamtbewertung

Trotz der genannten Monita bleibt festzuhalten, dass die nun vorgelegten Ethischen Grundsätze gegenüber der Fassung aus dem Jahr 2007 einen erheblichen Fortschritt bedeuten. Manche Lücke konnte geschlossen und wichtige Aktualisierungen eingefügt werden. Die Positionierung ist sehr viel stärker auf soziale und politische Kontexte bezogen als 2007.

Doch sind auch Rückschritte zu verzeichnen. Dies gilt vor allem für die Themen rund um Privatheit und Datenschutz. Andere Aspekte werden bloß aufgezählt und verlieren dadurch an Präzision (Gleichbehandlung, Informationskompetenz). Individualethische und institutionenethische Perspektiven werden vermischt. Im Vergleich zum IFLA-Ethikkodex werden wichtige Themen ausgelassen oder marginalisiert. An einigen (wenigen) Stellen wird das Verhältnis von Recht und Ethik verkannt.

Das größte Defizit aber besteht darin, dass die Grundsätze ohne nennenswerte öffentliche Debatte entstanden sind und damit den gleichen Geburtsfehler aufweisen wie die Vorgängerversion aus dem Jahr 2007. Zudem bleiben die Aussagen zur Popularisierung und Pflege der Grundsätze diffus und wenig glaubwürdig. Die Gefahr ist groß, dass das ganze Unternehmen »Ethische Grundsätze 2017« dadurch erheblich beeinträchtigt wird, wenn nicht gar scheitert.

Professor Dr. Hermann Rösch / 10.4.2018

 

Der Autor

Dr. Hermann Rösch ist Professor am Institut für Informationswissenschaft der Technischen Hochschule Köln. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören die Themen Informationsethik, Informationsdienstleistungen und Informationsmittel. 2007 bis 2015 war er Mitglied des IFLA/FAIFE-Komitees und 2010 bis 2015 der BID-Ethikkommission.

 

[1.] Ethische Grundsätze von Bibliothek & Information Deutschland (BID). In: BuB 69, 2017, 11, S. 581-583

[2.] Eine Auflistung findet sich auf der Seite des IFLA-Komitees FAIFE: Professional Codes of Ethics for Librarians. https://www.ifla.org/faife/professional-codes-of-ethics-for-librarians (4.1.2018)

[3.] Ethik und Information. Ethische Grundsätze der Bibliotheks- und Informationsberufe. In: Bibliotheksdienst. 41, 2007, 7, S. 705-707. http://www.bideutschland.de/download/file/allgemein/EthikundInformation.pdf (4.1.2018)

[4.] Vgl. dazu auch Hermann Rösch: Unnötiger Ballast oder wichtiges Orientierungsinstrument? Bibliothekarische Berufsethik in der Diskussion. In: BuB 63, 2011, 4, S. 270-276

[5.] Vgl. Günter Büschges: Professionalisierung. In: Lexikon zur Soziologie. Hrsg. Werner Fuchs-Heinritz u.a. 5. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag 2011, S. 532f.

[6.] Vgl. Andrew Abott: Professionalism and the Future of Librarianship. In: Library Trends. 46, 1998, H. 3, S. 430-443

[7.] Vgl. Thomas Maak, Peter Ulrich: Integre Unternehmensführung. Ethisches Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2007, S. 250

[8.] Vgl. Thomas Maak, Peter Ulrich: Integre Unternehmensführung. Ethisches Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2007, S. 254f.

[9.] Es sind dies Prof. Dr. Gabriele Beger, Susanne Metz, Dr. Carola Schelle-Wolff, Dr. Renke Siems und Dr. Bernhard Tempel.

[10.] IFLA-Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftigte. https://www.ifla.org/files/assets/faife/codesofethics/germancodeofethicsfull.pdf (4.1.2018)

[11.] Diese Kritik gilt übrigens in gleicher Weise auch für die IFLA-Ethik von 2012. Vgl. dazu auch Hermann Rösch: Ethik und Bibliothek. Institutionenethik als Desiderat. In: Bibliothek. Forschung für die Praxis. Festschrift für Konrad Umlauf zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Petra Hauke... Berlin, Boston: de Gruyter 2017, S. 99-110





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